# taz.de -- Kolumne „Wir retten die Welt“: Natur? Bloß keine Überdosis! | |
> Die Kinder hassen Camping: Zuviel Ruhe, zuviel Grün, zu wenig Menschen. | |
> Der Befund ist klar: Wir entfremden uns von Mutter Erde. Na und? | |
Bild: Blauer Himmel, weite Wiesen – manchen fehlen nur die Menschen. | |
„Hallo, schläfst du schon?“ Meine Tochter drehte sich im Schlafsack zu | |
ihrem kleinen Bruder um. | |
„Mnnmggnn“. | |
Mein elfjähriger Sohn lag wie eine Mumie im Zelt. Wie eine seltsame Mumie: | |
Mit der Hand über dem Mund. Er setzte sich auf, nahm die Hand runter und | |
erklärt: „Ich will nicht, dass die Spinnen mir in den Mund krabbeln, wenn | |
ich schlafe.“ Vier Krabbelviecher schlucke jeder Mensch im Jahr, erzählt | |
er. Das muss stimmen. Er hat’s im Internet gelesen. | |
Das war dann aber auch, von meinem Schnarchen abgesehen, die einzige | |
nächtliche Ruhestörung auf unserer Paddeltour im wilden Nordosten | |
Deutschlands. Vier Tage auf der Warnow, einem tollen Fluss bei herrlichem | |
Wetter und fast allein im Kanu unter Reihern, Fischadlern, Fröschen und | |
Bibern. Herrlich, fand ich. | |
## Die Hölle, fand mein Sohn | |
Die Hölle, fand mein Sohn, jedenfalls immer mal wieder. Zwischen meterhohen | |
Schilfgürteln und toten Bäumen, die malerisch ins Wasser ragten, hatte er | |
sogar eine kleine Panikattacke. Was war los? „Hier ist niemand!“, wimmerte | |
er. „Keine Leute. Und man hört nichts!“ | |
So hatte ich das noch nie gesehen. Für mich ist Outdoor die Erholung vom | |
Leben in der hektischen Großstadt. Vor dem Einschlafen höre ich lieber | |
irgendwelche Tiere durchs Gebüsch rascheln als irgendwelche Betrunkenen auf | |
der Straße grölen. Unsicher habe ich mich bisher eigentlich immer nur in | |
Städten gefühlt. | |
Meinen Kindern geht es da anders, wie eine Blitzumfrage im engen Zelt | |
ergab. Kanufahren ist okay, wären da nicht die komischen Geräusche draußen | |
und die komischen Gerüche drinnen. Sie schlafen lieber hinter Mauern. Und | |
sind damit ja auch in der Mehrheit. | |
Zum ersten Mal in der Geschichte leben mehr Menschen in Städten als auf dem | |
Land, und sie wissen warum: Städte bieten Schutz, Arbeit, | |
Gesundheitsversorgung, Bildung. Also alles, was der moderne Mensch | |
höchstens mal für eine Paddeltour entbehren will. | |
## Wir glauben an lila Kühe und Gummibären | |
Die „Natur“ rückt immer weiter weg, wir glauben an lila Kühe, Gummibären | |
und Tyrannosaurus Rex als Kuscheltier. | |
Auch wenn iPad und Ohrstöpsel bei unserer Tour verboten waren, ist es für | |
einen 11-Jährigen und eine 13-Jährige hart, einfach mal den Mund zu halten | |
und sich ein paar Vögel anzusehen. Vor allem, wenn man die nicht auf einem | |
Bildschirm mit Daumen und Zeigefinger heranzoomen kann. Und vor allem: Wenn | |
sie nicht per Mausklick wieder verschwinden. | |
Okay, der Befund ist klar: Wir entfremden uns von Mutter Erde. Na und? | |
Schön, dass wir bei einem Schlangenbiss nicht mehr um unser Leben fürchten. | |
Und je weniger wir uns der „Wildnis“ ausgeliefert fühlen, desto eher könn… | |
wir sie schätzen und schützen. | |
Was ist das Problem, wenn wir die Welt nur noch aus dem Youtube-Video | |
kennen? Dann wäre sie nicht mehr eine Gegnerin, der man das Überleben | |
abtrotzen muss. Sie würde vielleicht sogar so wertvoll, dass wir dort keine | |
Ölplattformen sehen wollen. Und ich bin froh über jeden, der nicht mit dem | |
Mountainbike durchs Unterholz bricht. Je unattraktiver das Draußen wird, | |
desto ruhiger bleibt es. | |
## Der beruhigende Lärm der Autobahn | |
Ein bisschen Natur, aber keine Überdosis! So hielten wir es dann auch bei | |
unserer Expedition durchs wilde Mecklenburg. Und am letzten Abend campten | |
wir sogar im Grünen statt auf dem Campingplatz. Mein Sohn war beruhigt, | |
weil der Wind ab und zu den Lärm der fernen Autobahn ins Zelt trug. | |
Und es war wirklich Zufall, dass ich an dem Tag ein neues Buch zu lesen | |
anfing: „Die Welt ohne uns“ von Alan Weisman. Der Journalist beschreibt, | |
wie schnell die Natur wieder das Kommando übernähme, wenn wir Menschen | |
plötzlich verschwunden wären. | |
Ziemlich tröstlich. Oder erschreckend. Je nachdem. | |
30 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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