| # taz.de -- Großbritanniens Flüchtlingspolitik: Ein Foto rührt ans Gewissen | |
| > Die Bilder eines ertrunkenen syrischen Kindes in der Türkei sind | |
| > drastisch. In Großbritannien entzünden sie endlich eine außenpolitische | |
| > Debatte. | |
| Bild: Das Aufmacher-Bild von nahezu allen großen britischen Tageszeitungen am … | |
| Es gibt Bilder, die sich ins Weltgewissen einprägen. Das weinende Mädchen | |
| in Vietnam, das nackt vor einem Napalmangriff davonrennt. Das verhungernde | |
| Mädchen im Südsudan, neben dem schon der Geier wartet. Und jetzt der | |
| ertrunkene syrische Junge, der mit dem Gesicht nach unten in der Brandung | |
| eines türkischen Strandes liegt. | |
| Die Fotos, wie ein türkischer Polizist den Leichnam des dreijährigen Aylan | |
| Kurdi sachte wie eine zerbrechliche Puppe vom Sand gegenüber der | |
| griechischen Insel Kos hebt und davonträgt, gehen seit Mittwochabend um die | |
| Welt. Es sind nicht die ersten Bilder mit ikonischer Qualität von der | |
| europäischen Flüchtlingskrise. Man kann auch nicht behaupten, sie gäben der | |
| Krise ein Gesicht, denn es gibt schon Abertausende Fotos von | |
| Flüchtlingsgesichtern. | |
| Es ist die Perspektive des Fotografen, die diese Reihe von Bildern so unter | |
| die Haut gehen lässt. Praktisch jeder Europäer hat schon einmal genau so | |
| irgendwo am Strand gestanden und genau so auf die Wellen geguckt. Jedem, | |
| das ist die Botschaft des Bildes, könnte plötzlich ein totes Kind vor die | |
| Füße gespült werden. Diese Krise geht alle an. | |
| In Deutschland mag diese Einsicht längst angekommen sein. Für | |
| Großbritannien, wo während der Sommerferien die Flüchtlingskrise vor allem | |
| als Urlaubs-Behinderung wahrgenommen wurde, ist dieses Foto der Weckruf. | |
| Fast alle großen Tageszeitungen brachten es gestern auf dem Titel. | |
| „[1][Unerträglich]“ schlagzeilte der linke Daily Mirror. „[2][Winziges | |
| Opfer einer menschlichen Katastrophe]“ lautete die Schlagzeile des rechten | |
| Daily Mail. „[3][Europa gespalten]“, seziert die konservative Times, | |
| „[4][Die schockierende, brutale Realität von Europas Flüchtlingskrise]“ d… | |
| liberale Guardian. Alle schreiben: Es muss etwas geschehen. | |
| ## „Herr Cameron, der Sommer ist vorbei“ | |
| Am engagiertesten, und gemessen an früherer Hetze am überraschendsten, geht | |
| die in Reichweite und politischer Positionierung mit Bild vergleichbare Sun | |
| damit um. Sie zeigt das Foto der Bergung des Kinderleichnams in der Türkei | |
| neben einem Foto eines Neugeborenen aus dem Budapester Bahnhof und darüber | |
| eine Mahnung an den Premierminister: „Herr Cameron, der Sommer ist vorbei. | |
| Jetzt kümmere dich um Europas größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.“ | |
| Der Leitartikel fordert Cameron auf, „denjenigen zu helfen, die ohne | |
| eigenes Zutun um Leben und Tod kämpfen“: Es sei richtig, die | |
| Syrien-Flüchtlinge aufzunehmen. Darüber hinaus müsse Großbritannien den IS | |
| in Syrien bombardieren, „als ersten Schritt“, und in Libyen „die Ordnung | |
| wiederherstellen“. | |
| Camerons konservative Regierung steht in der Flüchtlingspolitik nicht gut | |
| da. In vier Jahren 5.000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen ist keine | |
| Großtat. Demgegenüber steht, dass Großbritannien sehr viele Migranten | |
| aufnimmt – ein positiver Zuwanderungssaldo von 330.000 im vergangenen Jahr, | |
| viele davon Arbeitssuchende aus Osteuropa – aber das ist auch wieder das | |
| Gegenteil dessen, was Cameron versprochen hatte. Der rechtspopulistische | |
| UKIP-Führer Nigel Farage haut ihm das ständig um die Ohren und verlangt | |
| mehr „echte“ Flüchtlinge aufzunehmen. | |
| ## Außenpolitischer Sündenfall | |
| Von den Linken, allen voran der aussichtsreichste Labour-Führungskandidat | |
| Jeremy Corbyn, ist dazu nichts zu hören außer der Kritik, Großbritannien | |
| habe mit dem Irakkrieg zur aktuellen Lage beigetragen. Umgekehrt erinnern | |
| Kommentatoren daran, dass vor ziemlich genau zwei Jahren die | |
| Labour-Opposition im Parlament, verbündet mit rechten Tory-Abweichlern, ein | |
| militärisches Eingreifen in Syrien nach den Giftgasangriffen des | |
| Assad-Regimes stoppte. Das gilt so manchen jetzt als Sündenfall, der den | |
| Aufstieg des IS, den Zerfall Syriens und die Flüchtlingskrise von heute | |
| begünstigt habe. | |
| Insofern geht die Schockwirkung des toten Aylan in Großbritannien über den | |
| Impuls hinaus, endlich mehr für Flüchtlinge zu tun. Auch die eigene | |
| Außenpolitik steht auf der Anklagebank – vom Eingreifen im Irak zum | |
| Nichteingreifen in Syrien – und damit das eigene Selbstverständnis. Kann | |
| man durch Handeln etwas Gutes bewirken? Dann reicht Hilfe für Flüchtlinge | |
| nicht aus. Oder ist es besser, nichts zu tun? Dann dürfen einem auch die | |
| Flüchtlinge egal sein. | |
| 3 Sep 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/suttonnick/status/639185363215458308 | |
| [2] https://twitter.com/LabourEoin/status/639380361068347392 | |
| [3] https://twitter.com/SkyNews/status/639190600584163328 | |
| [4] https://twitter.com/guardian/status/639187732988825601 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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