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# taz.de -- Labour Party in Großbritannien: Wer hat Angst vor Corbyn?
> Die Labour Party wählt ihren Vorsitzenden. Der Linke Jeremy Corbyn hat
> gute Chancen. Mit ihm gäbe es endlich wieder eine Opposition.
Bild: Für viele zu links: der Labour-Politiker Jeremy Corbyn.
Die Kandidatur löste Panik aus: Zu extrem, zu unbeliebt bei den Medien,
einfach unwählbar, so warnten die alten Haudegen. Der Partei drohe die
Auslöschung, denn Wahlen könne man nur als Partei der Mitte gewinnen.
Die Rede ist von den britischen Tories im Jahr 1974, als Margaret Thatcher
sich anschickte, Parteichefin zu werden. Genau die gleichen Töne hört man
jetzt von der alten Garde bei New Labour. Zunächst hatte man die Kandidatur
von Jeremy Corbyn vom linken Parteiflügel gar nicht ernst genommen, er
selbst wohl auch nicht.
Doch seine Kampagne nahm schnell Fahrt auf, seine Wahlveranstaltungen waren
gut besucht, bei Umfragen legte er Woche um Woche zu. Morgen, wenn das
Wahlergebnis verkündet wird, ist er höchstwahrscheinlich neuer Labour-Chef
und Oppositionsführer.
Es wird auch Zeit, dass es eine Opposition gibt, die den Namen verdient.
Labour hat die Wahlen im Mai ja nicht verloren, weil ihr Kandidat Ed
Miliband zu links war. Er führte die Politik von Tony Blair fort, der
seiner Partei konservative Werte und eine konservative Sprache aufgenötigt
hatte. Miliband ist für eine Austeritätspolitik eingetreten, er wollte den
Sozialhaushalt genauso kürzen, wie die Tories es jetzt tun. Warum hätte man
die Kopie wählen sollen, wenn man auch das Original haben konnte?
## Der lange Schatten von Tony Blair
Blair und seine Gefolgsleute warnen, dass man Wahlen nur dann gewinnen
könne, wenn man in der Mitte des politischen Spektrums stehe. Der
politische Kommentator George Monbiot meint aber, dass es diese Mitte gar
nicht gebe. Je mehr man sich ihr von links nähere, desto mehr bewege sie
sich nach rechts.
Blair hat 1997 gewonnen, weil die Tories ihr Haltbarkeitsdatum
überschritten hatten und Blair als politischer Enkel von Thatcher gesehen
wurde, als der er sich auch entpuppte. Er hat Großbritannien nicht nur mit
gefälschten Dokumenten in einen Krieg getrieben, er hat das
Gesundheitssystem marktgerecht aufbereitet, er hat die Kriminalisierung
friedlicher Demonstranten betrieben, er hat bei der Folter von Gefangenen
kooperiert, er hat den sozialen Wohnungsbau eingedampft – die Liste ließe
sich fortsetzen. Eine Politik ohne eigene Werte kann nur eine Zeit lang gut
gehen.
Blairs Intervention bei der Wahl zum Parteichef ist hilfreich für Corbyn.
Blair ist in seiner eigenen Partei inzwischen so verhasst, dass viele erst
recht denjenigen wählen, von dem Blair abrät. Wenn er behauptet, die Labour
Party werde durch Corbyn ausgelöscht, verkennt er die Zahlen. Die Partei
hatte zum Ende seiner Amtszeit 200.000 Mitglieder weniger als bei seinem
Amtsantritt.
Seit Milibands Rücktritt und Corbyns Kandidatur sind mehr als 400.000
Menschen in die Partei eingetreten oder haben sich nach US-Vorbild als
Unterstützer registrieren lassen. Ein Drittel davon ist unter 30. Und nur
die wenigsten davon sind Leser des Tories-nahen Daily Telegraph, der dazu
aufgerufen hatte, sich als Labour-Unterstützer registrieren zu lassen und
Corbyn zu wählen, um letztendlich damit Labour zu zerstören.
## Umverteilung von Arm zu Reich
Es sind Menschen, die vor den Tories Angst haben, und das zu Recht. Seit
die Partei alleine regiert, muss sie keine Rücksicht mehr auf einen
Koalitionspartner nehmen, sondern kann ihre Umverteilungspolitik von Arm zu
Reich ungeniert durchsetzen. Der Minister für Arbeit und Renten, Iain
Duncan Smith, hat zum Beispiel mit seinen fatalen „Reformen“ viele Menschen
in Not und Elend gestürzt, viele sogar in den Tod. Jeden Monat sterben 90
Menschen, kurz nachdem ihnen das Krankengeld gestrichen worden ist, weil
Ärzte sie für arbeitsfähig erklärt haben.
Die sogenannte Schlafzimmersteuer tut ein Übriges. Sozialhilfeempfänger,
die über mehr als ein Schlafzimmer verfügen, sollen in eine kleinere
Wohnung umziehen oder für den zusätzlichen Raum bezahlen. Das Problem ist,
dass es erstens nicht genügend kleinere Wohnungen gibt und zweitens zwei
Drittel der Betroffenen einen Behinderten in der Familie haben, der den
Raum für den Rollstuhl und medizinische Geräte benötigt.
Ende August wurde der Rollstuhlfahrer John Smith für seine Arbeit mit
anderen Behinderten von Premierminister David Cameron ausgezeichnet.
Gleichzeitig versucht Duncan Smith, ihn aus seinem Haus herauszuklagen,
weil er einen zusätzlichen Raum hat, in dem er seinen Rollstuhl und Geräte
für seine ehrenamtliche Arbeit als Fußballtrainer aufbewahrt. 60 Prozent
der betroffenen Behinderten sparen an Heizkosten, 57 Prozent am Essen, und
ein Viertel leiht sich Geld, um nicht aus dem Haus geworfen zu werden.
Und die Labour Party unter der Interims-Chefin Harriet Harman hat sich beim
Gesetz über Sozialausgaben enthalten, was einer Kapitulation gleichkommt.
Vor allem junge Menschen in Großbritannien aus den unteren Schichten stehen
vor einer ungewissen Zukunft. So ist es nur folgerichtig, dass jemand mit
radikalen Ideen Oberwasser bekommt. Überraschend ist lediglich, dass es ein
66-Jähriger mit grauem Bart und Schiebermütze ist, der seit mehr als 30
Jahren im Parlament sitzt.
## Im Grunde ein Sozialdemokrat
Und so radikal sind seine Vorstellungen gar nicht. Er ist gegen
Austeritätspolitik, für die Verstaatlichung der Eisenbahn und der
Wasserversorgung und gegen Atomwaffen. Im Grunde ist er ein alter
Sozialdemokrat. Er sagt selbst, dass er in Deutschland wohl kaum als Linker
durchgehen würde. Es ist bezeichnend für den Zustand der Labour Party, dass
so einer Angst und Schrecken verbreitet, so dass man ihm mit Diffamierungen
zu Leibe rücken will.
Ob Corbyn die Parlamentswahlen gewinnen kann, ist ungewiss. Aber er hat
bessere Chancen als Andy Burnham, Yvette Cooper und Liz Kendall, die gegen
ihn angetreten waren – allesamt aus Blairs Lager und unfähig, die
Parteibasis zu mobilisieren. Doch selbst wenn Corbyn 2020 verliert, kann er
die Labour Party und die politische Kultur neu beleben. Er kann die
britische Politik insgesamt wieder etwas nach links rücken, um eine
wirkliche Wahlmöglichkeit zu bieten und den Boden für echte politische
Debatten zu bereiten. Deshalb ist es wünschenswert, dass er morgen
Labour-Chef wird.
11 Sep 2015
## AUTOREN
Ralf Sotscheck
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