# taz.de -- Porträt Jeremy Corbyn: Labours neuer Chef | |
> Links von der Jugend an, die Spitzenkandidatur war nicht geplant, kaum | |
> Angaben zum Privatleben: Wer ist dieser Jeremy Corbyn? | |
Bild: Solidarität mit Flüchtlingen? Da darf Corbyn nicht fehlen. | |
Wo er in den vergangenen Wochen in Großbritannien auch aufgetreten ist, | |
waren die Hallen überfüllt, viele Menschen mussten draußen bleiben. Alle | |
wollten den neuen Labour-Chef und Oppositionsführer sehen, denn an seiner | |
Wahl bestand schon lange kein Zweifel. Seit Samstag ist es offiziell. | |
Wer ist dieser 66-jährige graubärtige Mann im seniorenbeigen Jacket, der | |
seit mehr als 30 Jahren im Londoner Unterhaus sitzt und nur selten | |
aufgefallen ist? Corbyn ist in Wiltshire geboren und wuchs in Shropshire | |
auf. Seine Mutter war Mathelehrerin, sein Vater Ingenieur. Die Eltern | |
hatten sich im spanischen Bürgerkrieg kennengelernt. Zu seinem 16. | |
Geburtstag schenkten sie ihm ein Buch mit Aufsätzen von George Orwell. | |
Schon während seiner Oberschulzeit war Corbyn in der Labour Party aktiv, | |
mit 15 trat er der Campaign for Nuclear Disarmament bei. Nach seinem | |
Schulabschluss studierte er kurz an der Nord-Londoner Fachhochschule, brach | |
das Studium aber nach einem Streit mit einem Dozenten ab. Danach arbeitete | |
er ehrenamtlich für „Voluntary Service Overseas“ bei einem Projekt in | |
Jamaika, nach seiner Rückkehr zwei Jahre später bekam er einen Job bei der | |
Gewerkschaft. | |
Mit 25 ging Corbyn in die Politik. Er wurde Bezirksverordneter und neun | |
Jahre später Abgeordneter für Islington North. Und das ist er heute noch. | |
Es gibt wohl keine linke Kampagne in Großbritannien, bei der Corbyn keine | |
führende Rolle gespielt hat – gegen Atomkraft und Atomwaffen, gegen Krieg, | |
Rassismus und Apartheid, für Palästina und Venezuela, für Homosexuelle und | |
Nichtsesshafte, für Behinderte und Rentner. | |
## Privatleben tut nichts zur Sache | |
Tony Benn, die Ikone der Labour-Linken, hatte Corbyn kurz nach seinem | |
Einzug ins Unterhaus zu einem Debattierkreis linker Intellektueller | |
eingeladen, die sich jeden Sonntagabend in Benns Haus trafen. Offenbar sah | |
Benn in dem jungen Abgeordneten seinen natürlichen Nachfolger, denn er | |
dachte und argumentierte ähnlich wie er. Und Corbyn erwähnt in Reden und | |
Interviews immer noch gerne Tony Benn. | |
Über sich selbst spricht er hingegen gar nicht gerne. Während die | |
Blair-Zöglinge Yvette Cooper, Liz Kendall und Andy Burnham, die gegen | |
Corbyn kandidiert hatten, freiwillig ihr Privatleben offenlegten und die | |
Medien zu sich nach Hause einluden, sagte Corbyn, er hasse „all die | |
persönlichen Fragen nach Hobbys und Freizeitbeschäftigungen“. Das tue | |
nichts zur Sache. | |
Corbyn ist zum dritten Mal verheiratet, aber auch darüber spricht er nicht | |
gerne. Einmal deutete er an, dass die Ehe mit seiner zweiten Frau, der | |
Chilenin Claudia Bracchita, 1999 in die Brüche ging, weil sie einen der | |
gemeinsamen drei Söhne auf eine Privatschule schicken wollte. Zur Zeit ist | |
Corbyn mit der Mexikanerin Laura Alvarez verheiratet, die fair gehandelten | |
Kaffee importiert. | |
## Überraschende Kandidatur | |
Dass er Labour-Chef wird, war nicht geplant. Ursprünglich wollte der kleine | |
Haufen linker Labour-Abgeordneter Jon Trickett überreden, zu kandidieren, | |
doch er lehnte ab. Stattdessen sprach er Corbyn an. Der glaubte nicht, dass | |
er die notwendigen 35 Nominierungen seiner Kollegen erhalten würde. Erst | |
zwei Minuten vor Meldeschluss hatte er sie zusammen, und sie kamen zum Teil | |
von Abgeordneten, die nie die Absicht hatten, ihn zu wählen, sondern den | |
Wahlkampf ein wenig unterhaltsamer gestalten wollten. | |
Margaret Beckett zum Beispiel, die frühere Außenministerin, die genauso | |
lange im Parlament sitzt wie Corbyn, bezeichnete sich selbst nach dessen | |
Wahl zum Labour-Chef als „Schwachkopf“, weil sie ihn nominiert hatte. | |
Corbyn sagt, er habe seiner Kandidatur lediglich zugestimmt, weil er nun | |
mal an der Reihe gewesen sei, den linken Prügelknaben zu spielen. Er | |
hoffte, einige Debatten anstoßen zu können – mehr nicht. Doch mit jeder | |
vollen Halle bei seinen Wahlkampfveranstaltungen wuchs sein Selbstvertrauen | |
– und auch seine Wahlkampfkasse. Sein Team wurde von Simon Fletcher | |
geleitet, dem früheren Mitarbeiter von Ed Miliband, der nach der | |
verheerenden Wahlniederlage im Mai als Labour-Chef zurückgetreten ist und | |
den Corbyn nun beerbt. | |
## Investitionen in Wohnungsbau, Bildung und Gesundheit | |
Anders als Miliband hat Corbyn der Austeritätspolitik der Tories den Kampf | |
angesagt. „Austerität wird dazu benutzt, um die Gesellschaft umzugestalten | |
und die Ungleichheit zu vergrößern“, sagte er. „Labour muss einen kohäre… | |
wirtschaftliche Alternative anbieten.“ | |
Er will in Infrastruktur, Wohnungsbau, Bildung und Gesundheit investieren | |
sowie die Eisenbahn und die Energieversorgung verstaatlichen. Um das zu | |
finanzieren, will er Wohlhabende und Unternehmen stärker besteuern. | |
Während die ehemaligen Labour-Chefs Tony Blair, Gordon Brown und Neil | |
Kinnock diese Pläne als „Alice-im-Wunderland-Politik“ bezeichneten und | |
Corbyn für unwählbar erklärten, unterzeichneten 41 führende britische | |
Wirtschaftswissenschaftler, darunter ein früheres Mitglied des | |
Finanzausschusses der Bank von England, einen Brief, in dem sie die | |
„Corbynomics“ als durchaus vernünftig beschrieben. Damit nahmen sie seinen | |
Gegnern die wichtigste Trumpfkarte aus der Hand. | |
13 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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