# taz.de -- Flüchtlinge nahe Passau: Eine Ankunft in Deutschland | |
> Bei Passau werden täglich Flüchtlinge mit dem Auto über die Grenze | |
> geschleust und von der Polizei aufgegriffen. Eine Streife entlang der A3. | |
Bild: Eine Polizistin mit einer syrischen Familie, die an der A3 aufgegriffen w… | |
Die Anderen rollen an diesem Montagmorgen im ICE durch Passau – das | |
reguläre Ticket für rund 200 Euro. Und dürfen weiterfahren, nach Dortmund, | |
Frankfurt, Hamburg. Maryam (Name geändert) und ihr Vater hätten es auch so | |
leicht haben können. Und so viel günstiger. Aber sie hatten eben schon | |
gezahlt, und so kamen sie den üblichen Weg über die Grenze: in einem Auto. | |
Für 2000 Euro. | |
Maryam und ihr Vater wollen nach Schweden. Fürs Erste aber tappen sie noch | |
in tiefster Dunkelheit durch Süddeutschland. Als sie entdeckt werden, | |
steigen sie vor einer ehemaligen Gewerbehalle hoch über der Grenzstadt in | |
den grauen Sprinter von Polizeiobermeisterin Jarzombek und Kollege | |
Meinhardt von der Bereitschaftspolizei in den grauen Sprinter. Hier, an der | |
Grenze zu Österreich, werden Geflüchtete von Schleusern abgeworfen, hier | |
werden sie von der Polizei eingesammelt. Zu Hunderten. Nach wie vor. | |
Was sind die ersten Augenblicke der Geflüchteten in Deutschland? Wer eine | |
Frühschicht an der Autobahn A3 mitmacht, kann sich vergewissern, wie | |
routiniert Merkelland die Massen an seinen Grenzen inzwischen abfertigt, | |
wie professionell es Schleuser bekämpft. Und wie unheimlich greifbar das | |
Elend der Flucht bleibt. | |
Morgens, halb sechs: die Beamten rasen über die Autobahn Richtung Grenze. | |
Ihr Ziel, eine Bushaltestelle zwischen Pocking und Würding, nur wenige | |
Kilometer von Österreich entfernt, mussten sie erst einmal ins Navi | |
eingeben. Ihre Einheit von der Bereitschaftspolizei aus Bad Düben ist | |
normalerweise nicht dafür zuständig, Geflüchteten in Niederbayern | |
aufzugreifen, sondern für Fußballspiele und Demoeinsätze. Aber da die | |
KollegInnen der hiesigen Bundespolizei Freyung die Massen allein nicht mehr | |
stemmen können, schieben nun Einheiten aus ganz Deutschland Dienst an der | |
Grenze. In Zwölf-Stunden-Schichten. Die Ausfahrt, Umgehungsstraßen, flaches | |
Land, Äcker. | |
## Schicksale am Straßenrand | |
Ein Kreisverkehr, ein Fahrradweg neben der Straße. Plötzlich taucht eine | |
Gruppe menschlicher Schatten auf. Polizeibeamtin Jarzombek fährt ran, | |
steigt aus, lotst die Flüchtlinge über die Straße: Flink und lautlos | |
huschen sie zur Tür des Sprinters. Im Nu sitzen alle, Erschöpfung und | |
Zuversicht in den Gesichtern. Aber auch Unbehagen. Maryam, Anfang 20, | |
rundes junges Gesicht, rückt ihr Kopftuch zurecht. Ihr Vater, Ende 50, | |
reibt sich die dicken Augenringe. | |
Der Sekretär und seine Tochter, geflohen aus Aleppo in Syrien haben mit | |
ihrer unerlaubten Einreise eine Straftat begangen, die aber nicht verfolgt | |
wird. Die Polizei will auf die Schleuser hinaus. Die haben sich in ihrem | |
Fall aber wohl längst nach Österreich abgesetzt. Keine Chance für Jarzombek | |
und Meinhardt. | |
Auf der Rückfahrt nach Passau sehen sie Kollegen, die an den Parkplätzen | |
der Autobahn stehen und mehr Glück haben: Taschenlampen leuchten in | |
Führerstände. An der Ausfahrt Passau Passau-Mitte wird einer aus seinem | |
Lieferwagen gewunken. Es ist Teil einer regelrechten Industrie. Bis zu 2000 | |
Euro zahlen Flüchtlinge für die Strecke Budapest-Passau, die Fahrer | |
bekommen 400 Euro. Und landen, wenn sie erwischt werden, in | |
Untersuchungshaft. | |
Treffen am Vortag mit Rechtsanwalt Markus Ihle im Café vorm Passauer | |
Amtsgericht. Der Mann mit dem verbindlichen Blick ist Anfang 40 und | |
vertritt Schleuser in Bayern. Die genaue Zahl will er nicht sagen, aber es | |
seien gerade „brutal viele“: Die Behörden „faxen“ ihm derzeit bis zu f… | |
Fälle auf einmal durch. „Ganz normale Familienväter“ aus Ungarn, Rumänien | |
oder Bulgarien seien das, „durch die Bank nicht vorbestraft“, sagt Ihle, | |
der wie die Justiz die Schleuser für das kleinste Glied großer mafiöser | |
Strukturen hält. Sein härtester Fall ist ein Mann, der 44 Geflüchtete in | |
seinem Lieferwagen transportierte – „nicht einmal den Platz einer DIN-A4 | |
Seite pro Person“. | |
## Die Gefängnisse sind voll mit Schleusern | |
Die 400 Euro Schleuser-Honorar seien in den Balkanländern gutes Geld: Ein | |
Klient, erzählt Ihle, habe ihn im Gefängnis gebeten, seinen Prozess noch | |
etwas hinauszuzögern: Es werde bald Winter, und im deutschen Knast könne er | |
sich wenigstens 170 Euro mit Holzarbeiten dazu verdienen. Das sei mehr Lohn | |
als in der Heimat. | |
In Zweitagestouren fährt Ihle mittlerweile die Gefängnisse in ganz Bayern | |
ab, die voll von Schleusern sind. Allein im August kamen 250 neue dazu. Wie | |
man das Gewerbe bekämpft? Es brauche Einrichtungen an den EU-Außengrenzen, | |
um legal einreisen zu können, findet Ihle, der auch Chef der Ortsteil-CSU | |
ist. Hier in Passau hat man sie Tag für Tag vor Augen: Menschen, die an | |
Parkplätzen entladen werden, oder manchmal auch mitten auf der Autobahn. | |
Gegen sieben Uhr ein neuer Einsatz: Eine Gruppe geflüchteter Jugendlicher | |
auf dem Standstreifen der A3 Richtung Regensburg. Wieder jagen sie los im | |
Sprinter. An der Autobahn hat die Polizei mittlerweile mobile Schilder | |
aufgestellt, die vor Fußgängern warnen. In der Morgensonne laufen sie, eine | |
Gruppe junger Afghanen, ohne Eltern. Kurze Hosen, dünne Arme in | |
Kapuzenpullis, wunde Knöchel in verdreckten Socken. Eilig drängen sie sich | |
in den Polizei-Sprinter, es sind zu wenig Plätze: Überladen, seufzt die | |
Polizistin, aber immer noch besser, als sie hier auf der Autobahn zu | |
lassen. Sie schiebt die Tür zu. In der Clearingsstelle Passau wird ihr | |
Alter erfasst, ihre Kleidung und ihr Gepäck werden durchsucht wird, sie | |
erhalten ein Papierbändchen mit Registriernummer, hier stinkt es nach | |
Schweiß und Straßenstaub. Und dann nach dem Desinfektionsmittel, mit dem | |
die Beamten ihre Hände einreiben. Der älteste von den Afghanen wird sagen, | |
er sei 24 oder 25 Jahre alt – genau weiß er es nicht –, der jüngste von | |
ihnen ist 12: ein Knirps mit roten Augen. | |
Die ersten Deutschen, denen sie in der garagenartigen | |
Registrierungsschleuse gegenübertreten, Beamten der Bereitschaftspolizei, | |
sind selbst müde, lächeln selten, aber behandeln die Ankömmlinge mit dem | |
größten Respekt, der bei dieser Prozedur möglich ist. Hier können sich die | |
Geflüchteten waschen, bekommen ein Lunchpaket, Weißbrot mit Käse und | |
Nutella, Bananen, Apfel, Wasser. Hier können sie in einer alten, gut | |
geheizten Lagerhalle auf Feldbetten warten. | |
## Registrierung im Container | |
Maryam und ihr Vater essen. Ihre Stimmung ist angespannt. Sie wollen nach | |
Schweden zu Maryams Onkel, aber die Polizisten wollten das überhaupt nicht | |
wissen. „Step by step“, wiegelte der Beamte ab. Details wie Name, | |
Fluchtgrund oder Reiseziel der Geflüchteten werden erst später erfasst. Die | |
beiden unterhalten sich auf Arabisch, manchmal brechen sie in Kichern aus. | |
Die Erlebnisse, die Verunsicherung, die Übermüdung. Wenig später ist Maryam | |
eingeschlafen, mit dem Kopf auf einem Biertisch. Heute ist wenig los in der | |
Halle. Bis zwölf Uhr werden es etwa 150 sein, im August waren es bis zu 750 | |
Geflüchtete täglich. | |
Zwei Stunden später holt sie ein Polizeibus ab, er bringt die Flüchtlinge | |
vierzig Kilometer weiter nach Deggendorf in die Kaserne der Bundespolizei, | |
vorbei an dort abgestellten Panzerfahrzeugen. Deutschland zeigt sich kalt | |
und regnerisch. Sie warten zwei Stunden in der Ausbildungsturnhalle der | |
Polizei – in den Wartezonen, wieder Feldbetten, wieder belegtes Weißbrot | |
und Wasser, Lollys und Kuscheltiere für die Kinder. | |
Dann die Bearbeitungsstraße, zwei Containerstockwerke. Ein kurzes Gespräch | |
mit Dolmetschern zur Identitätserfassung. Gleich zweimal werden ihre | |
Fingerabdrücke genommen, dann das erkennungsdienstliche Gesichtsfoto: Sie | |
haben eine Straftat begangen, die wird zwar nicht verfolgt, aber erfasst | |
muss sie werden. Aus den Computerboxen der Beamten dröhnt Rammstein, sie | |
geben sich hier betont lässig – und schützen sich damit vor dieser Masse an | |
großen Augen mit der großen, scheuen Hoffnung. Den Menschen auf dem Stuhl | |
gegenüber aber ist nun klar, dass ihre Flucht vorbei ist. Ihr Schicksal | |
haben sie nun diesem neuen, gut organisierten, wohl desinfizierten Land | |
anvertraut, das so gut wie keine Zeit für ihre Geschichten hat. | |
8 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Tobias Krone | |
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