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# taz.de -- Was bedeutet eigentlich „Durchschnitt“?: Zu Tisch im Garten des…
> Der Durchschnitt ist der Ausgangspunkt des Denkens. Und manchmal auch
> Blödsinn. Das sagt der Statistiker Walter Krämer.
Bild: Wer das Grobe erfasst hat, hat weniger Arbeit mit den Abweichungen.
Rheinländer sind fröhlich, Niedersachsen stur. Argentinier lieben den
Tango, Franzosen das Essen, und in den USA verdient man mehr als in
Simbabwe – im Garten von Walter Krämer in Steinhude sind Pauschalierungen
kein Tabu. Denn bei ihm geht es um Durchschnitt. Den soll er erklären – an
der Universität in Dortmund ist er Statistikprofessor. Und mehr:
Hobbygermanist, BVB-Fan, Wirtschaftskritiker.
„Der Durchschnitt ist etwas sehr Gutes“, meint Krämer und lässt sich den
mit Blumen verzierten Salat munden. Warum? „Es spart uns viel Hirnschmalz.“
Die Sinnlichkeit des Wortes, der Ausblick auf den Garten und die
Köstlichkeiten auf dem Tisch machen es schwer, seiner Erklärung zu folgen.
Sinngemäß geht sie so: Wer das Grobe erfasst hat, hat weniger Arbeit mit
den Abweichungen. Das leuchtet ein: Jeden Rheinländer auf Frohsinn und
jeden Niedersachsen auf Sturheit zu untersuchen wäre aufwendig. Dieser
Krämer ist übrigens beides. Sieht aus wie aus Stein – „eine deutsche Eich…
nennt ihn seine Frau –, aber die Antworten kommen aus der Hüfte. Also hilft
der Durchschnitt, sich zurechtzufinden? „Sicher“, antwortet er, „wenn man
weiß, dass man im Einzelfall sehr danebenliegen kann.“
Wie bei ihm. Denn an diesem Statistikprofessor, der einen so stabilen
Eindruck macht, hatten schon einige Leute zu schlucken. Rechte, Linke, die
dazwischen, ach, viele. Weil er es besser weiß, mit Zahlen schlägt und gern
das Gegenteil von dem behauptet, worauf sich eine Mehrheit geeinigt hat. Er
sagt etwa: „Raucher belasten das Gesundheitssystem nicht.“ Warum nicht? Sie
sterben früher. „Lungenkrebs ist ein billiger Tod.“ Ökonomisch gesprochen.
Aber wie ist es beim Passivrauchen? Wie bei Babys von Rauchermüttern? Das
sind halt Sonderkriterien. Etwas bei Forschungsfragen auszuklammern, kann
Statistik anfällig machen für Halbwahrheiten und Manipulation. Krämer hat
Bücher darüber geschrieben. Gerade ist eines neu aufgelegt worden. „So lügt
man mit Statistik“, heißt es.
## Die Deutschen haben 1,99 Beine
Zurück zur Nachhilfe im Garten: Nachdem der Durchschnitt hier also als
sinnvolle Notwendigkeit gedeutet wird, muss man sich mit den Abweichungen
beschäftigen: „der Variabilität“. Sein Standardbeispiel: „Das Steinhuder
Meer ist im Durchschnitt 1,50 Meter tief, man kann es durchwandern.
Trotzdem ertrinken Leute darin.“ Und was sagt sein Beispiel? Dass der
Durchschnitt, bezogen auf die Abweichung, mitunter keine Aussagekraft hat.
Woran also könnte es liegen, wäre dann so eine Abweichungsfrage, dass
Menschen in einem Gewässer ertrinken, das an den meisten Stellen nur
knietief ist und das man tatsächlich durchwandern kann, sofern man weiß,
wie man die tieferen Stellen umgeht? Krämer hat Antworten: Die meisten
Ertrinkenden sind besoffen und fallen ins Wasser, weil ihnen auf ihren
Segelbooten der Mast gegen den Kopf knallt. Besoffen und betäubt – da helfe
auch der Überlebensinstinkt nicht.
Aber das geht jetzt zu weit. Das Beispiel mit dem Steinhuder Meer – einem
Gletschersee aus der Eiszeit, wie er erklärend einflicht – soll eigentlich
nur verdeutlichen, dass das, was allgemein als „Durchschnitt“ gefasst wird,
das arithmetische Mittel – diese Technik, dass man die Ergebnisse aller
Messpunkte addiert und die Summe durch die Anzahl der Messpunkte teilt –,
manchmal zu falschen Schlüssen führt. Um es zu verdeutlichen, gibt er noch
ein Beispiel. Im Durchschnitt haben die Deutschen 1,99 Beine – weil es eben
auch ein paar Einbeinige gibt. „Blödsinn das.“ Und noch ein Beispiel: Vier
Menschen haben ein Einkommen von je 1.000 Euro, ein fünfter hat 6.000 Euro.
Im Durchschnitt hat jeder in dieser Gruppe also 2.000 Euro. Dass das in der
Theorie so ist, wird die vier Ärmeren kaum freuen.
## Alternative Nivellierungen
Weil manche Durchschnittsberechnungen also in die Irre führen, haben
Statistiker ein Repertoire an alternativen Nivellierungen: etwa das
harmonische Mittel, das geometrische Mittel, den Nominalwert. Und den
Median. Der Median ist Krämers Lieblingsdurchschnitt. Für den nimmt man bei
einer bestimmten Anzahl immer genau den Wert der Position, die in der Mitte
steht. Bei den vier Leuten mit 1.000 Euro Einkommen und dem fünften mit
6.000 Euro ist der Median also 1.000 Euro, weil der Mensch an dritter
Stelle so viel hat. Bezogen auf die Einkommenssituation in Deutschland,
gibt der Median ein realistischeres Bild als der arithmetische
Durchschnitt.
Die anderen Durchschnitte seien für die Einstiegslektion zu kompliziert.
Zumal es noch weiteres zu bereden gibt. Eine Überlegung etwa, die sich
Statistiker zu eigen machen, habe damit zu tun, dass man Abweichungen gern
vom Status quo aus denkt. Werde man beispielsweise gefragt, wie das Wetter
wird, solle man antworten: Wie gestern. „Meistens stimmt es, nur manchmal
nicht.“ Der Mensch“, so Krämer, „will eigentlich, dass alles bleibt, wie…
ist.“
Jemand, der wie Krämer Ordnung ins menschliche Chaos bringen will, zudem
Volkswirtschaft studiert hat und ein überzeugter Liberaler Lambsdorffscher
Prägung ist, mischt sich gerne in viele Debatten ein. Er ist dringend für
den Austritt Griechenlands aus dem Euro, weil mit der jetzigen Lösung nur
die Banken alimentiert werden, aber nicht die Menschen. Gleichzeitig findet
er, dass die Griechen Inseln als Pfand für Kredite einsetzen sollen. Er ist
ein Freund von Bernd Lucke und plädiert dafür, dass die Politik die
Gehälter von Vorständen begrenzt. Er ist für Freihandel, geht jetzt jedoch
auf die Barrikaden, weil TTIP die Sprache als Handelshemmnis ausgemacht
hat. Die deutsche Sprache ist sein Hobby. Er ist gegen deren Verhunzung
durchs Englische.
Als er nach einem Auslandsaufenthalt wieder in Düsseldorf landete und sich
vorkam, als wäre er in einer amerikanischen Stadt, regte ihn das so auf,
dass er Handlungsbedarf sah. Er gründete den „Verein Deutsche Sprache“.
„Wenn alles auf Englisch ist, da wird mir übel, da krieg ich
Achselschweiß.“ Dabei sei er kein Wörterfresser, 30 Prozent der Wörter im
Deutschen kämen aus anderen Sprachen. 30 Prozent – das Vermessen hört beim
Smalltalk nicht auf. Darauf angesprochen, dass bald ein paar türkische
Wörter ins Deutsche rutschen könnten, fragt er, welche das sein sollen.
„Anne“ für Mutter oder „Baba“ für Vater interessieren ihn nicht. Als …
jedoch „Abi“ hört, das Wort bezeichnet den „älteren Bruder“ und kann …
genutzt werden, wenn Jüngere einem älteren Mann Respekt erweisen, wird er
aufgeregt. Ja, so ein Wort ginge. „Weil wir kein eigenes dafür haben“.
23 Aug 2015
## AUTOREN
Waltraud Schwab
## TAGS
Durchschnitt
Statistik
08/15
Mathematik
Streitfrage
Fußball
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