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# taz.de -- Wasservogelreservat auf Fehmarn: Ganz allein mit Chip und Chap
> Ein Besuch im Wasservogelreservat Wallnau ginge ohne Freiwillige gar
> nicht. 25 Naturschützer halten hier den Betrieb am Laufen.
Bild: Alena, Wencke und Johanna säubern den Durchfluss der Wasserpumpanlage.
Alex und Niklas machen heute Küchendienst, Nadja verteilt die Flyer zum
Kinderfest, Kathrin leitet ihre erste Kräuterwanderung. Irgendjemand müsste
wieder mal die Kräuterspirale vom Ackerschachtelhalm befreien – aber nicht
mit Rosmarin und Lavendel verwechseln! Und wer wagt sich daran, den
schwarzen Schmadder aus dem Modellpumpwerk zu schöpfen, auch wenn da
vielleicht Blutegel drin sind? Finn?
Finn geht ins Wasser. Zwei Dutzend junger Frauen und Männer sitzen im
weiten Saal der Nabu-Station und legen gemeinsam mit Nikola, der
stellvertretenden Leiterin, den Tagesdienst fest. Leere Müsliteller und
Saftpackungen stehen auf dem langen Tisch, auf Wäscheständern trocknen
Handtücher, Kicker, Hängematte und Billardtisch verleihen dem Raum das
Flair einer bestens ausgestatteten Jugendherberge.
Wie ein grüner Fleck liegt das Wasservogelreservat Wallnau im weizengelben
Einerlei der Getreidefelder an der Westküste der Insel Fehmarn. 1976 hat
der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) mit Hilfe von Partnern das 300
Hektar große Gelände gekauft und am Rande der Brackwasserteiche, Wiesen,
Schilfgürtel und Gehölzstreifen eine Beobachtungsstation eingerichtet.
Sieben Festangestellte kümmern sich um Finanzen, Personal und Organisation,
jeweils zwischen zehn und 25 Freiwillige – im Freiwilligen Ökologischen
Jahr (FÖJ), im Bundesfreiwilligendienst (Bufdi), als Praktikanten oder
einfach als Ehrenamtliche – halten den Betrieb am Laufen.
## Eine sorgfältig gepflegte Kulturlandschaft
Das Reservat ist keine unberührte Natur, sondern sorgfältig gepflegte
Kulturlandschaft, war es schon seit dem 19. Jahrhundert, als es eingedeicht
wurde und in den Teichen Karpfen wuchsen. Seit der Nabu das Gelände
übernommen hat, mäht er die Wiesen, hält die Felder mit Hilfe von
Galloway-Rindern und Konik-Pferden frei von Büschen und Schilf und bietet
so Hunderttausenden von Zugvögeln, die von Ost nach West und von Nord nach
Süd und wieder zurück unterwegs sind, einen gut besuchten Rastplatz.
Die drei 18-jährigen Frauen aus Kassel, Dortmund und Göttingen haben eben
Abitur gemacht. Na, und jetzt? Kein Studium? Ja, schon – aber was? Im
Freiwilligen Ökologischen Jahr wollen sie sich darüber klar werden. Vor
einer Woche haben sie angefangen. Sie sprühen noch vor Begeisterung: Jede
und jeder macht hier alles. Man repariert Zäune, bespaßt Kinder, backt
Pizza, zählt Vögel ...
Den Besucherrundgang um 11 Uhr leitet heute Daniel – elf Monate „Bufdi“,
alter Hase. Drei Familien mit Kindern und ein älteres Paar haben sich
versammelt – rund 30.000 Touristen sehen sich jedes Jahr die multimediale
Ausstellung und das Gelände an. Nach einer Einführung in den Gebrauch der
Ferngläser geht es ins Freie. Hunderte von Goldregenpfeifern rasten auf der
gerade mal zwanzig Meter entfernten Insel vor dem Unterstand – so nah kommt
man ihnen nirgendwo sonst.
## Ein freiwilliges ökologisches Jahr im Vogelrevier
Bekassinen waten durchs Wasser, ein paar Sandregenpfeifer trippeln im Sand,
und das Entenweibchen, das sich gerade putzt, ist eine Stockente, deutlich
zu erkennen am „Spiegel“, dem blauen Rechteck unter den Flügeln – die
Krickente weiter hinten hat einen grünen. 53 Vogelarten hat Svenja, die
Bufdi-Ornithologin, vor einer Woche gezählt. 270 Arten wurden bisher
insgesamt in Wallnau ausgemacht. Über der Wiese führen zwei Kiebitze
Luftkunststücke vor. Ein Säbelschnäbler fischt den Teich ab.
Eineinhalb Stunden dauert der Rundgang und führt am Wildbienengarten, am
Froschteich und an zahlreichen Mitmachstationen vorbei. Quiekt da am
Salzteich ein Schwein? Von wegen: Es ist der Rothalstaucher, der deutlich
klarmacht, wer auf diesem Gewässer das Sagen hat. Wenn die neuen
Freiwilligen kommen, hat er besonders Grund, genervt zu sein. „Die werden
alle am Anfang einmal nachts in den Teich geworfen“, verrät David. „Mit
Klamotten.“
Zeit zum Mittagessen. Alex und Finn haben Makkaroni mit Tomatensoße
gekocht. Martin löffelt bedächtig, neben ihm kratzt Jo den Teller aus. Der
eine, 28, gelernter Mechatroniker, hat 2008 seinen Zivildienst hier
geleistet und kommt immer mal wieder zurück: Traktor reparieren, Mähbalken
nachschleifen, was so anfällt in der Metallwerkstatt. Der andere, stolze
80, gelernter Zimmermann und Innenarchitekt, verbringt seit 15 Jahren zwei
Monate im Sommer in Wallnau.
## Traktor reparien, Vogelhäuser bauen
Er sägt Bauteile für Vogelhäuser, spitzt Zaunpfähle, was sich eben so
ergibt an Schreinerarbeiten. Zwischen 100 und 150 Menschen
unterschiedlichen Alters wechseln sich hier jedes Jahr ab. „Leute mit
handwerklicher Ausbildung nehmen wir bevorzugt, ach was: mit Kusshand“,
sagt Norbert, der für die Personalplanung zuständig ist.
Auch Hannah ist heute in die Station gekommen, Papierkram erledigen und die
Gasflasche wechseln. Die Studentin der Biogeowissenschaft wohnt seit März
allein in einer Hütte im Naturschutzgebiet Krummsteert-Sulsdorfer Wiek.
Dort, an der Orther Bucht, wacht sie darüber, dass Touristen das Gebiet
nicht betreten und kartiert die Brutvögel.
## Teichrohrsänger und Rotschenkel belauschen
Vor Sonnenaufgang macht sie sich zwischen Stranddiesteln und Meerkohl auf
den Weg durch die Salzwiesen und späht und lauscht und trägt auf ihrer
Karte ein, wo sie Teichrohrsänger, Rotschenkel oder Rothalstaucher
regelmäßig ausmachen kann – was heißt, dass sie wahrscheinlich dort brüte…
Chip und Chap, die Sandregenpfeifer, haben sich sogar direkt vor ihrer
Hütte niedergelassen und zwei Junge aufgezogen.
Heute ist es trocken – nervt die Arbeit nicht, wenn es mal schüttet? „Es
gibt Tage, an denen man einfach nass werden muss“, lacht die 23-Jährige mit
voller Überzeugung. Und nie, nie, nie wird ihr langweilig? „Keine Sekunde.
Ich sehe Vögel balzen und schlüpfen, ich sehe frische Gelege und tote Tiere
– der Kreislauf ist mir so nah, ich bin Teil des Ganzen.“
Nikola, die41-jährige gelernte Kommunikationswissenschaftlerin, ist auch
Ansprechpartnerin für das Thema „Feste Beltquerung“. Dass seit ein paar
Jahren der Bau eines höchst umstrittenen Tunnels zwischen Deutschland und
Dänemark geplant ist, hat den Nabu auf die Barrikaden gerufen. Im Norden
der Insel, wo der Wasseraustausch mit der Nordsee größtenteils stattfindet,
soll auf 20 Kilometer Länge eine 60 Meter tiefe und 100 Meter breite Rinne
in die See gebuddelt werden.
## Das blaue Andreaskreuz der „Beltretter“
Die Naturschützer befürchten, dass über lange Zeit Sediment aufgewirbelt
wird, das Pflanzen und Muscheln das Licht raubt. Fische, die auf Sicht
jagen, finden keine Beute mehr, Schweinswale keine Fische mehr – „die Summe
der Dinge ist die Katastrophe“, sagt Nikola.
Inzwischen prangt deshalb auch an vielen Höfen, Pensionen und Gärten
Fehmarns an der Station das blaue Andreaskreuz der „Beltretter“. Der Nabu
sucht die Zusammenarbeit mit Kurdirektoren, Anglern, Ferienhausbesitzern,
Fährlinienbetreibern und aufgeschreckten Anwohnern der künftigen
Bahntrasse. Mitarbeiter und Freiwillige gestalten Infostände, diskutieren
auf Podien und lassen Gutachten für das Planfeststellungsverfahren
erstellen. „Wir müssen einfach klarmachen, dass es blöd ist, eine
Riesenmenge Geld auszugeben für etwas, das absolut niemand braucht“, sagt
Nikola.
Aber manchmal braucht auch Nikola ein wenig Abstand von all den quirligen,
wissbegierigen, engagierten, dann auch wieder lustlosen, unzuverlässigen
und unselbstständigen jungen Leuten. Dann nimmt sie sich abends, wenn die
Besucher längst gegangen sind, ein Glas Wein, setzt sich in einen
Unterstand und sieht zu, wie die letzten unermüdlichen Schwalben Schlick
für ihre Nester holen, der Reiher stocksteif im Schilf lauert und eine Eule
lautlos über den Abendhimmel streicht. „Dann komme ich zu mir. Dann weiß
ich wieder, wofür wir das alles machen.“
29 Aug 2015
## AUTOREN
Franz Lerchenmüller
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