# taz.de -- Upcycling an der Ostsee: Strandgut als Rügen-Souvenirs | |
> Treibholz, Fragmente verschlissener Fischernetze, Steine, Hühnergötter – | |
> die kreative Wiederverwertung von Müll zu Kunst, Mode und Mitbringseln. | |
Bild: Angeschwemmt an Rügens Küste | |
Wenn Stürme die Wellen der Ostsee aufpeitschen und viele es sich zu Hause | |
gemütlich machen, zieht es Jule Dressler und Ben Treu hinaus an Rügens | |
wilde Strände. Denn mit dem Sturm wird auch Strandgut angeschwemmt. | |
Die beiden sammeln Treibholz, Fragmente verschlissener FischernetMatjes mit | |
Mehrwertze, Steine, Hühnergötter und vom Meer blankgeschliffenes Seeglas in | |
Blau-, Grün- und Türkistönen. Mit etwas Glück ist auch ein honiggoldener | |
Bernstein dabei. All das verwandeln die zwei in ihrer kleinen | |
Kreativwerkstatt samt angegliedertem Laden mit dem Namen Ein Tag am Meer in | |
der Rosenstadt Putbus zu Kunst und Kunsthandwerk. | |
Recycling, die Wiederverwertung von Abfallprodukten, erfolgt in zwei | |
Varianten: Beim „Downcycling“ kommt das neue Endprodukt qualitativ nicht an | |
das Ausgangsprodukt heran, zum Beispiel beim Recyceln von PET-Flaschen. | |
Die zweite Version ist das von Ben und Jule betriebene „Upcycling“. Dabei | |
sind die, in ihrem Fall aus Abfallprodukten wie Fischernetzen und Flaschen | |
oder aus Naturprodukten wie Holz und Muscheln entstehenden Endprodukte | |
hochwertiger als die Ausgangsmaterialien. Dies wird vor allem durch die | |
Umsetzung origineller Ideen erreicht – Upcycling könnte man auch als | |
aufwertende kreative Wiederverwertung bezeichnen. | |
## Treibholz feinsäuberlich bemalt | |
Umweltfreundlicher ist das allemal, denn auf diese Weise müssen für die | |
Souvenirs, die in Ein Tag am Meer verkauft werden, nicht extra Bäume | |
gefällt oder Steine in Steinbrüchen abgebaut werden. Das Meer liefert die | |
Materialien. | |
Unscheinbare Treibholzstückchen bemalt Jule feinsäuberlich als kleine, | |
mutige Piraten mit Augenklappe und Totenkopf oder bunte Seemänner in | |
blau-weiß gestreiften Matrosenanzügen. Die Treibholzmännlein und -weiblein | |
kommen als Schlüsselanhänger oder als Figuren in den Multi-Media-Collagen | |
daher. In den Semesterferien unterstützt eine Studentin das Kreativduo. | |
Im April feierte das junge Paar das zweijährige Bestehen ihres Ladens in | |
der Weißen Stadt, in der auch Wilhelm Malte I., Fürst von Putbus, mit | |
seiner Ehefrau Luise von Lauterbach wohnte. Von der Ladenwerkstatt aus | |
blicken Jule und Ben durch das Schaufenster direkt auf den Schlosspark mit | |
Orangerie und großem Wildgehege. Montags bis freitags von 10 bis 16 Uhr | |
verkaufen sie in Ein Tag am Meer in der Alleestraße 7 ihre fantasievollen | |
Kreationen. | |
## Lange Tradition im Design | |
Upcycling hat gerade im Design eine lange Tradition, auch wenn der Begriff | |
erst Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts geprägt wurde. In | |
der Volkskunst in den USA und Kanada sind die farbenfrohen | |
Quilt-Steppdecken der Amischen ein Beispiel. Nachdem vor mehr als 250 | |
Jahren viele Mitglieder dieser Glaubensgemeinschaft aus Deutschland und aus | |
der Schweiz in die Neue Welt auswanderten, wurde das Nähen von Quilts aus | |
bunten Stoffresten populär. Bei den Amischen war es verpönt, sich durch | |
äußere Dinge auszudrücken. In der neuen Heimat waren Quilts die einzige | |
Möglichkeit, mit der die Auswanderinnen sich kreativ ausleben und ihre | |
einfach eingerichteten Wohnstätten dekorieren durften. | |
Die Dadaisten und Marcel Duchamp, der zeitlebens durch diese Kunstrichtung | |
und durch den Surrealismus beeinflusste Mitbegründer der Konzeptkunst, | |
verwendeten bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den Prozess des Upcycelns, | |
ohne dies so zu bezeichnen. Einer der bekanntesten Künstler unserer Zeit, | |
dessen ganzes Schaffen auf diesem Prinzip basiert, ist der in Mars, | |
Pennsylvania geborene Amerikaner Jeff Wassmann. 1989 emigrierte er nach | |
Australien. | |
Wie Ben Treu und Jule Dressler von Ein Tag am Meer verwendet auch er Dinge, | |
die er am Strand findet. Diese kombiniert er in seinen Assemblage-Kästen | |
mit beim Schrotthändler gekauften Objekten. Die so entstehenden plastischen | |
Collagen schreibt er seinem fiktionalen deutschen Vorfahren Johann Dieter | |
Wassmann zu, dem er die Lebensdaten 1841 bis 1898 gegeben hat. | |
Außergewöhnlich bei Jeff Wassmann: Er verkauft seine Kunstwerke nicht, | |
sondern gibt sie als Geschenke weiter. So verhindert er, dass sie zu | |
Konsumartikeln werden. | |
## Aus alten Autoreifen Sohlen für Flipflops | |
Upcycling ist ein faszinierendes Thema. Wenn man erst einmal anfängt, sich | |
damit zu beschäftigen, lässt es einen so schnell nicht mehr los. Auch die | |
43-jährige Bretonin Katell Gélébart hat sich ganz der kreativen Aufwertung | |
von Abfallprodukten verschrieben. Ihr Motto lautet: „Trash is treasure.“ | |
Bewusst versteht sie sich als moderne Nomadin ohne festen Wohnsitz. Die | |
Welt ist ihr Zuhause, Reisen ihre Passion. Katell verbringt viel Zeit in | |
Indien, der Ukraine und Holland. Die Recycling-Designerin beschreibt ihren | |
Arbeitsprozess wie folgt: „Ich entwickle Reserven, indem ich Müll und | |
unerwünschte Materialien im Designbereich recycle. Meine Kreationen zeigen, | |
wie es möglich ist, Design und Wiederverwendung zu kombinieren ohne | |
Rohmaterial und ohne mehr Abfall zu produzieren.“ Mit ihrem Mode-Label Art | |
d’Eco & Design realisiert sie ihre Vision. | |
Bei ihren langen Aufenthalten in Indien machte die Französin immer wieder | |
die Erfahrung, wie alltäglich Upcycling in ärmeren Ländern ist. Mit | |
bestimmten Flechttechniken werden beispielsweise aus alten Autoreifen | |
Sohlen für Flipflops hergestellt. Was dort aus wirtschaftlichen Gründen | |
geschieht, entwickelt sich in unserer Wegwerfgesellschaft immer mehr zum | |
Gegentrend zu sinnlosem Konsum. | |
Katell und viele andere betonen den ökologischen Vorteil: Müll zu | |
vermeiden, den Verbrauch von Rohmaterialien und den Energieverbrauch | |
herunterzufahren sowie Luftverschmutzung und den Treibhauseffekt zu | |
reduzieren | |
Von Christine Eichel verfasst und im Scorpio Verlag erschienen ist die | |
spannend zu lesende und reich bebilderte Biografie „Die Mülldesignerin: Wie | |
Katell Gélébart die Welt verändert“. Das Buch erschien ein Jahr, nachdem | |
die kreative Bretonin in Hamburg 2012 von der Alfred Toepfer Stiftung mit | |
dem mit 75.000 Euro dotierten Kairos-Preis für europäische Künstler und | |
Wissenschaftler ausgezeichnet wurde. | |
Wen es nach Rügen verschlägt, dem sei ein Besuch in der Kreativwerkstatt | |
Ein Tag am Meer wärmstens ans Herz gelegt. Denn genau wie der Moment, in | |
dem man nach langer Zeit über den Strandübergang geht und zum ersten Mal | |
die wilde See und den Horizont wiedersieht, macht auch der Augenblick, in | |
dem man die kleinen Kunstwerke aus Strandgut für sich entdeckt, einen Tag | |
am Meer erst richtig perfekt. | |
4 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Astrid Diepes | |
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