# taz.de -- Kolumne Ich meld‘ mich: Ein Herz für’n Harz | |
> Es muss nicht immer der Times Square oder Sankt Moritz sein. Das Glück | |
> kann auch einen ganz anderen Namen haben. | |
Bild: Auch der Harz kann glücklich machen. | |
Er stand auf Bahnsteig 3 in Hannover, in seinem ausgeblichenen | |
orange-grünen Batik-T-Shirt und den knielangen lila Jeans, die Füße nackt | |
in fleckigen Stoffschuhen. Stand da mit weitgeöffneten Armen, die Augen | |
geschlossen und wandte sich der Sonne zu, die an diesem Morgen endlich mal | |
wieder ihr Bestes gab. | |
Seine schulterlangen speckigen Haare rahmten ein Gesicht wie ein Runenfeld, | |
das seit 60 oder vielleicht auch nur 50 oder möglicherweise bloß 40 Jahren | |
so einiges hat kommen und gehen sehen – manchmal klarer, oft eher | |
verschwommen. Mal sog er voller Inbrunst an seiner Zigarette, obwohl die | |
Raucherecke weit entfernt war, dann nahm er wieder einen tiefen Schluck aus | |
einer halbvollen Flasche Sekt. | |
Irgendwann prostetet er der Sonne zu und sagte, eher leise, ganz für sich: | |
„Ich fahr in’n Harz, Mann. Mann, in’n Harz.“ | |
Die anderen hasteten an ihm vorbei. Die Reisenden von Gleis 4 aus dem IC | |
von Hamburg, die dringend den Anschluss nach Dortmund erreichen mussten. | |
Die in den grauen Businesskostümen, die schon wieder zu spät zum Meeting | |
kamen. Die Aufgegelten, Frischrasierten, an denen es nie Mangel hat in | |
Hannover. In ihren dunklen Anzügen, den hellblauen Hemden und den schwarz | |
glänzenden Schuhen, die Kragenknöpfe fest geschlossen hinter den | |
schräggestreiften Krawatten, die sie an diesem Morgen gern ein wenig | |
gelockert hätten, machten sie einen kurzen, eiligen Bogen um ihn. Manche | |
musterten ihn amüsiert, andere abfällig: Als ob er die Sonne aufsaugen | |
würde und nichts mehr für sie bliebe. Einige schüttelten den Kopf, andere | |
verzogen die Mundwinkel. | |
Ein einziger, Trenchcoat über dem Arm, Laptop in der Hand, lachte ihn an im | |
Vorübergehen: „Auch nicht übel, Mann. Gar nicht übel.“ | |
Für einen flüchtigen Augenblick schlich sich ein leicht befremdlicher | |
Gedanke auf Bahnsteig 3/4 in Hannover: Dass es da etwas gibt jenseits von | |
Quartalsbilanzen, To-do-Listen und schwierigen Kundengesprächen. Und dass | |
das Glück auch andere Namen haben kann, als Times Square, Sankt Moritz oder | |
Seychellen. | |
7 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Franz Lerchenmüller | |
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