# taz.de -- Debatte nach dem Krieg im Gazastreifen: Die verdrängte Krise | |
> Der Krieg vom Sommer 2014 in Gaza ist ein Jahr her. Doch es fehlen nicht | |
> nur Erfolge beim Wiederaufbau, sondern vor allem politische Initiativen. | |
Bild: In Trümmern: In Gaza müssen die Bewohner mit den Ruinen leben. | |
Vor einem Jahr blickte die Welt nach Gaza. Dort ging ein Krieg zu Ende, der | |
51 Tage andauerte. Für die überwiegend junge Bevölkerung in Gaza ein nicht | |
enden wollendes Trauma; nach Angaben des Gaza Community Mental Health | |
Program leiden über 50 Prozent der Kinder unter posttraumatischem Stress. | |
Die meisten von ihnen mussten in den letzten sieben Jahren drei Kriege | |
miterleben. | |
Der letzte war besonders zerstörerisch; nach UN-Angaben kamen 2251 | |
Palästinenserinnen und Palästinenser ums Leben, 70 Prozent davon | |
Zivilisten. Dazu kam die weitreichende Bombardierung von | |
Wirtschaftsbetrieben, Fabriken, Schulen, Wohnhäusern und Agrarland. Die | |
Vereinten Nationen hatten schon 2012 einen Bericht veröffentlicht, der | |
ernsthaft infrage stellte, ob 2020 der Gazastreifen angesichts der rapiden | |
Zerstörung aller Lebensgrundlagen noch bewohnbar sei. | |
Die durch eine achtjährige Blockade immens eingeschränkte Wirtschaft im | |
Gazastreifen liegt seit dem letzten Krieg nun völlig am Boden. Gaza hat | |
mittlerweile mit 60 Prozent laut Weltbank eine der höchsten | |
Jugendarbeitslosigkeitsraten der Welt. Bei einer Umfrage von Anfang 2015 | |
gaben über 50 Prozent der Bewohner an, den Gazastreifen verlassen zu | |
wollen. Wegen der Blockade des Gazastreifens und der fast völlig | |
geschlossenen Grenzen kommt aber kaum jemand heraus. | |
Ein Jahr nach dem Krieg ist die Situation für die Bewohner des | |
Gazastreifens weiterhin unerträglich. Dabei schien nach dem Krieg im Sommer | |
2014 eines klar: Nach diesem desaströsen Kriegs muss sich etwas grundlegend | |
ändern, um den nächsten Krieg und die völlige Zerstörung aller | |
Lebensgrundlagen im Gazastreifen zu verhindern. Aber seitdem ist fast | |
nichts passiert. Zwar erschien der Bericht der UN-Untersuchungskommission, | |
der sowohl der Hamas als auch Israel Kriegsverbrechen vorwarf, aber der | |
bleibt ohne Konsequenzen. | |
Die israelische Regierung setzt auf Ermittlungen der israelischen Armee, | |
die sich fast ausschließlich auf disziplinarische Vorfälle wie etwa | |
Plünderungen beziehen. So wurde eine israelische Untersuchung zur Tötung | |
der vier am Strand Fußball spielenden Kinder der Bakr-Familie am 16. Juli | |
2014 durch Raketenbeschuss kürzlich ohne Ergebnis eingestellt. Die Familien | |
der insgesamt 551 im Krieg getöteten Kinder haben so keine Chance, eine | |
Aufklärung voranzubringen. Menschenrechtsorganisationen wie das in Gaza | |
ansässige Al-Mizan-Zentrum konzentrieren ihre Arbeit auf den | |
Internationalen Strafgerichtshof. Am 1. April dieses Jahres wurde Palästina | |
dort Mitglied, das Gericht könnte Kriegsverbrechen Israels sowie der Hamas | |
untersuchen. | |
## Es mangelt an Baumaterial | |
Ein Wiederaufbau fand in Gaza bisher kaum statt. Noch ist kein Haus mit den | |
zugesagten internationalen Hilfsgeldern wiedererrichtet worden. Wer Glück | |
hat, konnte wenigstens die Trümmer des zerstörten Hauses beseitigen. Aber | |
die strikte Blockade seitens Ägypten und Israel verhindert, dass genug | |
Materialien zum Wiederaufbau hereinkommen. Lediglich die humanitäre | |
Versorgung wird einigermaßen sichergestellt. | |
Eine Liste der israelischen Regierung enthält noch immer Baumaterialien wie | |
Plastik, Zement, Holz- und Metallteile als „Dual use“-Güter, deren Import | |
aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt wird. Das ist ebenso wenig | |
nachvollziehbar wie die Tatsache, dass Exporte aus dem Gazastreifen von | |
Israel so gut wie gar nicht erlaubt werden. Gazas Erdbeeren sind aber keine | |
Sicherheitsfrage. So wird die dringend notwendige wirtschaftliche Erholung | |
unmöglich gemacht. | |
Die Freizügigkeit für Waren und Personen zwischen dem Westjordanland und | |
Gaza wird seitens der israelischen Regierung fast völlig verhindert. Sie | |
liegt nicht im Interesse der Rechtskoalition unter Netanjahu, die eine | |
Zweistaatenlösung ebenso ablehnt wie die so genannte Konsensregierung | |
zwischen Fatah und Hamas, die formal für das Westjordanland und Gaza | |
verantwortlich ist. | |
De facto existiert diese nur noch auf dem Papier, der Graben zwischen den | |
beiden großen palästinensischen Parteien ist tiefer denn je. Beide sind | |
längst nicht mehr demokratisch legitimiert. Präsident Abbas wettert gegen | |
die Hamas, tut aber selbst wenig für eine Verbesserung der Lage im | |
Gazastreifen. Er hat es nicht einmal unternommen, den Küstenstreifen nach | |
dem Krieg selbst zu besuchen. | |
## Verhandlungen vertagt | |
Bis heute existiert nur ein brüchiger Waffenstillstand. Eine politische | |
Lösung und echte Verhandlungen für einen dauerhaften Friedensschluss wurden | |
nach dem Gazakrieg vertagt. Deutschland, Frankreich und Großbritannien | |
hatten letzten Sommer noch Hilfen für eine Wiederbelebung der | |
EU-Grenzmission in Aussicht gestellt, um unter Wahrung israelischer | |
Sicherheitsinteressen ein Ende der israelischen Blockade zu erreichen. | |
Mittlerweile ist davon keine Rede mehr. | |
Stattdessen sondiert der ehemalige Beauftrage des Nahostquartetts, Tony | |
Blair, mit Hamas-Chef Chaled Meschal ebenso wie wohl auch die israelische | |
Regierung über Mittelsmänner ein mögliches Arrangement mit der Hamas. Nach | |
Medienberichten könnte die israelische Regierung im Falle eines | |
langfristigen Waffenstillstands die Schaffung einer Schiffspassage nach | |
Zypern in Aussicht stellen. Eine Nutzung des Hafens wäre in der Tat | |
grundlegend, um die Wirtschaft des Gazastreifens wiederzubeleben. Aber | |
solche Ideen müssen in eine internationale politische Strategie eingebettet | |
werden. In Gaza darf kein isolierter, auf Dauer von der antidemokratischen | |
Hamas kontrollierter Staat entstehen; Gaza ist Teil der palästinensischen | |
Gebiete und muss wieder mit dem Westjordanland und Ostjerusalem verbunden | |
werden. | |
Jetzt müssten jene umfassenden Verhandlungen nachgeholt werden, die | |
eigentlich vor einem Jahr, unmittelbar nach dem Krieg, vorgesehen waren. Da | |
Ägypten unter Diktator al-Sisi kein glaubhafter Vermittler mehr ist, sollte | |
die EU endlich mit einer politischen Initiative vorangehen. Sonst ist nicht | |
nur die von ihr immer wieder beschworene Zweistaatenlösung obsolet, sondern | |
der Waffenstillstand könnte in einen weiteren Krieg münden, den die | |
traumatisierten Menschen im Gazastreifen nicht mehr ertragen könnten. | |
28 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
René Wildangel | |
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