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# taz.de -- Porträt Alexis Tsipras: In Schicksalsfragen pragmatisch
> Der Linkspremier Alexis Tsipras und seine Regierung sind zurückgetreten.
> Doch er könnte umstandslos wiedergewählt werden.
Bild: Setzt auf Neuwahl: Alexis Tsipras.
Athen taz | Demagoge. Hasardeur. Schwätzer. Wendehals. Oder auch: „Das ist
unser Mann.“ So weit gehen wohl die Meinungen europäischer Spitzenpolitiker
zum griechischen Linkspremier Alexis Tsipras auseinander, der einen langen,
aber aus EU-Perspektive auch fruchtbaren Weg hinter sich hat: Innerhalb von
sechs Monaten mutierte der einstige Oberrevolutionär zum geschätzten
Partner im Ausland und im Inland, je nach Interessenlage, zum
Mehrheitsbeschaffer oder -vernichter.
Für seinen einstigen Weggefährten und radikalen Linkspolitiker,
Exenergieminister Panagiotis Lafazanis, war die Totalwandlung von Tsipras
die zweite große Enttäuschung des Jahres, nachdem Wladimir Putin
Finanzhilfen für Griechenland höflich, aber bestimmt verweigerte.
Wer ist Tsipras? Im Umbruchjahr 1974, nur wenige Tage nach dem Ende der
Militärdiktatur in Griechenland, wird Tsipras geboren. Im Wendejahr 1989
fühlt er sich veranlasst, in die Jugendorganisation der moskautreuen
Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) einzutreten – vielleicht auch
deshalb, weil die kommunistische Parteischulung für junge Menschen aus
einfachen Verhältnissen als Sprungbrett für Höheres gilt.
Zu diesem Zeitpunkt gerät der Kommunistenchef und einstige Partisanenführer
Charilaos Florakis unter dem Druck reformorientierter Kräfte bereits ins
Schwanken, viele Kader verlassen die Partei. Doch Tsipras hat genug Zeit,
sich landesweit einen Namen zu machen, bevor er sich für die
reformkommunistische „Koalition des Friedens und des Fortschritts“, den
Vorgänger der heutigen Syriza-Partei, entscheidet: Als 16-Jähriger führt er
einen Schüleraufstand gegen die konservativ-liberale Regierung von
Konstantin Mitsotakis an und verteidigt in Talkshows mit entwaffnender
Eloquenz „das Recht auf Schulschwänzen“.
Schon zu diesem Zeitpunkt kommt sein großes Talent, zu überzeugen, zum
Tragen. Wenn ein anderer Schüler im TV-Interview behauptet, er und seine
Kumpel würden selbstverständlich demokratisch entscheiden, ob sie den
Mathe-Unterricht schwänzen, wird das Publikum zum Lachen animiert. Doch
wenn Tsipras so etwas erzählt, fühlt sich sein Gegenüber dazu veranlasst,
zumindest darüber zu reden. Eigentlich keine schlechte Voraussetzung für
einen Berufspolitiker.
Das denkt sich offenbar auch der damalige Chef der Linkskoalition, Alekos
Alavanos, als er bei der Kommunalwahl 2006 händeringend nach einem
geeigneten Kandidaten für die Stadt Athen sucht und auf den 32-jährigen
Tsipras aufmerksam wird. Alavanos will jemanden aufstellen, der
vielversprechend erscheint, vermutlich gut abschneidet und trotzdem ein
treuer Parteisoldat bleibt. Starallüren oder Chefambitionen sind verpönt.
Er setzt Tsipras gegen die Mehrheit seiner Parteigenossen durch und
verdreifacht überraschend das Wahlergebnis der Linkspartei im Vergleich zur
vorangegangenen Parlamentswahl 2004. „Alexis ist ein sensibler Mensch und
verkörpert wie sonst niemand die junge Generation“, freut sich der
Altkommunist über seinen Schützling.
Wer ihn allerdings sechs Jahre später zu Tsipras befragt, bekommt eine ganz
andere Einschätzung. Zu diesem Zeitpunkt ist Tsipras nämlich Parteichef und
sein politischer Ziehvater längst ins Abseits gedrängt. Tsipras will sowohl
radikal daherkommen auf der rhetorischen Ebene als auch die Partei zur
politischen Mitte öffnen. Seine Schmerzgrenze wird erst erreicht, wenn
Parteiideologen die Mitgliedschaft Griechenlands im Euroraum infrage
stellen.
## Griechenlands Schicksalsfrage
Tsipras als gnadenloser Publikumsverführer und Machttaktiker? Jedenfalls
scheint sich die Geschichte derzeit zu wiederholen. Nicht Alavanos, sondern
der brave Parteisoldat Lafazanis und seine Links-Plattform werden diesmal
ausgeladen und unfreundlich hinauskomplimentiert. Und wieder geht es um die
Schicksalsfrage, ob Griechenland im Euro bleibt oder sein Heil in der
Einsamkeit des Südbalkans sucht.
Da versteht Tsipras keinen Spaß und lässt Lafazanis gern auflaufen. Der
will sich zwar mit einer neuen Linkspartei rächen und Tsipras Stimmen
abjagen, jedoch gilt: Eine Linkspartei kann in Griechenland nur dann Erfolg
haben, wenn sie sich, erstens, zur politischen Mitte öffnet und, zweitens,
von einer charismatischen Persönlichkeit angeführt wird. Dafür gibt es
Vorbilder, etwa die Sturm- und Drangjahre des charismatischen
Sozialistenführers Andreas Papandreou (der allerdings bei aller
Linksrhetorik sein Portemonnaie ziemlich rechts trug). Nun schafft auch
Tsipras die Quadratur des Kreises.
Und noch etwas hat Tsipras von seinem vermutlichen Vorbild Papandreou
abgeguckt: Die Fähigkeit, direkt mit dem Volk zu kommunizieren, ihm zu
schmeicheln, seine Interessen dem Anschein nach direkt in die
Entscheidungen einzubeziehen. Dass ein Politiker dabei auch utopische
Versprechen unters Volk bringt, gehört nun mal zum Geschäft und wird bei
Bedarf immerhin elegant ausgebügelt: Für Erfolge ist nämlich die eigene
Regierung zuständig, für den Rest werden im Zweifel andere verantwortlich
gemacht: Die Spekulanten, die Krise, Finnland, die Vorgängerregierung oder
einfach nur die „ungünstigen Machtverhältnisse“ in Europa.
Tsipras gibt zwar auch viele Fehler zu. Er habe aber mit einer Übermacht
(Berlin) kämpfen und sich fügen müssen, damit das Land nicht untergehe und
aus der Eurozone fliege.
## Tsipras einzigartiger Vorteil
Anders als Papandreou weist Tsipras allerdings einen einzigartigen Vorteil
auf: Er gehört nicht zu den altgedienten Politikerfamilien und Parteiclans,
die das Land jahrzehntelang kaputtgewirtschaftet haben und den hellenischen
Klientelismus weltweit berühmt machten. Darauf kann er aufbauen. Ob
Lafazanis ihn machen lässt oder nicht.
An die Bürger gewandt, sagte der Linkspolitiker am Donnerstag: „Sie mit
Ihrer Stimme werden entscheiden, ob wir das Land mit der notwendigen
Entschlossenheit vertreten haben.“ Er fügte an: „Ich fühle die tiefe
moralische und politische Verantwortung, Sie nun politisch bewerten zu
lassen, was ich gemacht habe – das Richtige und die Fehler, die Erfolge und
die Versäumnisse.“
Zuvor hatte Griechenland die ersten 13 Milliarden Euro aus dem dritten
Programm der Euro-Partner erhalten und damit Schulden in Höhe von 3,4
Milliarden Euro bei der Europäischen Zentralbank beglichen. Das
Gesamtvolumen des Pakets beträgt bis 86 Milliarden Euro.
Und die Bürger? „Ich habe die Schnauze voll von den Politikern und ihren
Wahlen“, sagt Petros Ioannidis, ein 77 Jahre alter Rentner aus dem
Stadtteil Vyronas, einem Reporter. „Tsipras wird es noch mal schaffen“,
erwidert sein Nachbar, der 48-jährige Mimis Xenidis. Er ist Anstreicher und
hat nur hin und wieder Arbeit. „Tsipras ist die letzte Hoffnung“, sagt der
überzeugte Linkswähler. Sicher ist: Es werden spannende Wahlen.
21 Aug 2015
## AUTOREN
Jannis Papadimitriou
## TAGS
Schwerpunkt Krise in Griechenland
Alexis Tsipras
Rücktritt
Syriza
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