| # taz.de -- Die Wahrheit: Bei der Wespenzüchterin | |
| > Die Wespe ist mitnichten ein Plagegeist, sondern bietet bislang | |
| > unerschlossene Geschäftsfelder: Kerbtierkunde betriebswirtschaftlich | |
| > betrachtet. | |
| Plötzlich waren sie da. Sirrten und surrten durch Parks und Gärten und | |
| hinein in Cafés und Konditoreien. Klein, schwarz-gelb und mit | |
| Riesenappetit. Ließen sich brummend auf Pflaumenkuchen, Eiskrem und | |
| Bratwürsten nieder. Wie jedes Jahr gegen Ende des Sommers. Und wie in jedem | |
| Jahr wusste eigentlich niemand so genau, wo sie hergekommen waren, die | |
| Wespen. | |
| Heuer waren es gar so viele, dass die Zeitungen darüber berichteten, und | |
| weil die Politik am Strand war und es sonst gerade nichts Interessanteres | |
| gab, schrieb man gern ausführlicher. Doch über die wahren Hintergründe der | |
| „Wespenplage“ (Bild, Niggemeier et al.) erfuhr der geneigte Leser wieder | |
| einmal nichts. Stattdessen gab es die übliche Hetze gegen die „gestreiften | |
| Plagegeister“ und Ratschläge, wie diesen am schnellsten der Garaus zu | |
| machen sei. | |
| Solche Artikel sind es, die Michaela Schindelbach in null Komma nichts auf | |
| hundertachtzig bringen. Dann steht sie auf, rotiert mit rotem Kopf im | |
| Zimmer, läuft hektisch gegen die Fensterscheibe, und manchmal kneift sie | |
| ihr Gegenüber ein bisschen. Michaela Schindelbach, 43, betreibt eine | |
| typische mittelständische Wespenzucht und reagiert naturgemäß aggressiv, | |
| wenn es ihren Schützlingen ans Abdomen geht. „Wespen haben einen schlechten | |
| Ruf, weil kaum etwas über sie bekannt ist“, beklagt Schindelbach. | |
| „Außerdem schwirren viele Gerüchte über sie herum, die teilweise böswillig | |
| von der Bienenlobby gestreut wurden.“ In Wirklichkeit seien Wespen nämlich | |
| freundliche und zutrauliche Tiere, die nur stächen, wenn sie sich bedroht | |
| fühlen, jemanden damit ärgern oder ein Kind zum Weinen bringen könnten. | |
| „Kleine Schelme sind sie schon manchmal, aber es ist nie bös gemeint“, | |
| versichert Schindelbach. | |
| Ihre Wespenzucht ist städtisch im Hof eines Mehrgeschossbaus gelegen, | |
| unweit einer Eisdiele und einiger Bäckereien. Der genaue Ort muss geheim | |
| bleiben – aus Angst vor Anschlägen. Von außen wirkt der Betrieb | |
| unscheinbar, wie ein ganz normales Wohnhaus, es könnte so gut wie jedes | |
| sein. Doch tritt man durch das hölzerne Tor nach innen, begrüßen einen | |
| sogleich emsige Wächterinnen und fragen mit ausgefahrenem Stachel nach der | |
| Dringlichkeit des Besuchs. | |
| „Hier, ziehen Sie sich das über“, lacht Michaela Schindelbach und reicht | |
| Schutzanzüge. „Manchmal sind die Racker einfach übervorsichtig. Neulich | |
| haben sie sogar den Briefträger krankenhausreif gestochen, weil der in | |
| seiner blau-gelben Kleidung wie eine fremde Riesenwespe wirkte. Apropos: | |
| Erinnern sie mich bitte später daran, den Postkasten vor der Tür | |
| anzubringen, ich vergesse es jeden Tag.“ | |
| Unter einem Vordach hängen witterungsgeschützt, aufgereiht wie Lampions, | |
| die Nester an einer Leine, umschwärmt von unzähligen ihrer Bewohner. Große | |
| bunte kugelförmige Papiernester mit chinesischen Schriftzeichen darauf. „Es | |
| sind tatsächlich Lampions, die ich günstig beim Discounter gekauft und dann | |
| umgebaut habe“, erklärt Schindelbach. „Der Markt für die moderne | |
| Wespenzucht steckt trotz ihrer offensichtlich weiten Verbreitung immer noch | |
| im Larvenstadium, weil man uns ächtet. Gerätschaften müssen wir entweder | |
| aus der Imkerei stibitzen oder selbst basteln. Die Lampions lassen sich | |
| einfach leicht öffnen und somit abernten.“ | |
| Mit „abernten“ ist die Entnahme der tagsüber von den Sammlerinnen | |
| zusammengetragenen Nahrungsbröckchen gemeint: Kuchenkrümel, | |
| Fleischklümpchen, Pflaumenmus, Colatröpfchen – es kommt einiges zusammen, | |
| an guten Tagen mehrere Hundert Kilo. Doch mit der Ernte beginnt erst die | |
| eigentliche Arbeit. Die diffuse Masse unterschiedlichster Essenspartikel | |
| will sortiert und zu neuen Lebensmitteln zusammengesetzt werden. Dafür | |
| wuselt während der Saison eine ganze Armee von Arbeiterinnen durchs Haus, | |
| die je nach Aufgabe die einzelnen Werkparzellen mit entsprechendem | |
| Nachschub versorgen, das vorhandene Material neu portionieren oder die | |
| fertigen Stücke für den Verkauf abpacken. | |
| „Es ist schon eine rechte Puzzelei“, gesteht eine Erdbeerküchlerin. „Da | |
| klebt man drei Stunden eine Torte zusammen, nur um dann festzustellen, dass | |
| die Sahnecreme fehlt. Eigentlich macht die Arbeit überhaupt keinen Spaß.“ | |
| Solchen Widrigkeiten zum Trotz „brummt“ das Geschäft, die Kunden verlangen | |
| immer größere Stückzahlen. Um ein Drittel hat Schindelbach ihre Population | |
| dieses Jahr deshalb aufgestockt, doch immer noch können nicht alle | |
| Bestellungen bearbeitet werden. „Vor allem Großkunden wie Nestlé oder | |
| Unilever setzen uns kleine Wespenzüchter unter Druck. Ihr Bedarf an | |
| recycelten Lebensmitteln ist riesig, uns bleibt gar nichts anderes übrig, | |
| als das Geschäft auszuweiten.“ | |
| ## Ein Blick in die Praxis | |
| Denn was viele nicht wissen: Schon jedes zehnte Produkt in deutschen | |
| Supermärkten stammt aus Wespenproduktion. Eine Lücke im Gesetz macht diese | |
| Herkunft nicht deklarierungspflichtig. „Haben Sie sich schon mal gefragt, | |
| warum Kuchen aus dem Regal so pappig schmeckt?“, fragt Schindelbach | |
| unverhohlen. „Die Leute kaufen unser Zeug wie verrückt, aber beim Thema | |
| Herkunft stellen sie auf Scheuklappe. Auf der anderen Seite bekämpfen sie | |
| die ausschwärmenden Völker, wo sie nur können, und machen uns so die Arbeit | |
| unnötig schwer. Quo vadis, ethischer Konsum?“ | |
| Tatsächlich gibt es wenige Tiere, die derart unbeliebt sind wie die Wespen, | |
| manche sprechen von ihnen gar als den „Haien der Lüfte“. Während Bienen v… | |
| der Bevölkerung geliebt und wegen ihrer Honigproduktion verehrt werden, | |
| können Wespen sich glücklich schätzen, wenn man sie am Leben lässt. Dabei | |
| ist bis zu ein Viertel des angebotenen Honigs das Werk von Wespen, den sie | |
| in mühevoller Kleinarbeit von Frühstückstischen geklaubt haben. | |
| Michaela Schindelbach sieht hier eine jahrhundertealte Tradition der | |
| Diskriminierung am Werk: „Die öffentliche Meinung unterteilt immer noch | |
| zwischen schaffenden und raffenden Insekten. Ein Blick in die Praxis zeigt, | |
| dass es nicht so einfach ist.“ | |
| ## Auf ein letztes Glas Bier | |
| Unterschlagen werde außerdem meistens das komplexe Sozialleben der Wespen. | |
| Die Arbeiterinnen kümmern sich liebevoll um die Aufzucht des Nachwuchses, | |
| der sogenannten Wespenwelpen, und begleiten diese, bis sie selbstständig | |
| zustechen können. Später dann, im Greisenalter, wenn die Flügel morsch und | |
| grau geworden sind, werden die Wespenomis ihrerseits gepflegt und | |
| irgendwann zu einem letzten Ausflug in ein Glas Bier begleitet. „Es ist ein | |
| Generationenvertrag, der funktioniert. Anders als bei uns ach so | |
| demokratischen Menschen übrigens. Das beste und sozialste System ist immer | |
| noch eine Monarchie mit einer starken Frau an der Spitze. Merkel ist | |
| allerdings auch in Ordnung.“ | |
| Michaela Schindelbach stemmt die Hand in ihre winzige Taille und sieht uns | |
| durch nierenförmige Sonnenbrillengläser an. „Ich möchte, dass die Menschen | |
| endlich das Insekt hinter der Wespe sehen.“ Es ist Zeit zu gehen, den | |
| angebotenen Kuchen lehnen wir höflich ab. Als sich das Tor summend hinter | |
| uns schließt , fällt es uns wieder ein: Frau Schindelbach wollte noch ihren | |
| Briefkasten umhängen. Bestimmt wird sie sich auch allein daran erinnern. | |
| 22 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Valentin Witt | |
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