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# taz.de -- Die Wahrheit: Crazy Keime
> Der neueste Krankheitstrend ist das furiose Comeback von Masern und
> Windpocken. Doch immer mehr Eltern wollen ihren Nachwuchs nicht impfen
> lassen.
Bild: Impfen kann solch einen Spaß machen
Lange hielt man sie für passé, doch jüngste Geschehnisse deuten einen neuen
Trend an: Die Kinderkrankheiten kommen zurück. In Berlin zum Beispiel sind
seit Jahresbeginn ungewöhnlich viele Maserninfektionen aufgetreten, auch
Windpocken verbreiten sich wie im Flug.
Was jahrelang als schrullige Passion weniger Individualisten galt, erlangt
dank viraler Verbreitung plötzlich wieder ungeahnte Popularität. Besonders
an Schulen und Kindergärten sind Krankheitsklassiker derzeit schwer
angesagt, viele der kleinen Bazillenwirte können gar nicht genug von den
einst so verpönten Keimen bekommen. Wie Fußballkarten oder Gewaltvideos
werden die Viren inzwischen untereinander getauscht, zum Ärger altmodischer
Pädagogen sogar während des Unterrichts.
Dabei sind die Erreger für den Laien mit bloßem Auge kaum zu erkennen, doch
wer sich einmal mit der Sammelleidenschaft angesteckt hat, der kann selten
wieder von ihnen lassen. Knapp halb so groß wie Smarties, aber ebenso bunt,
erfreuen sie den Besitzer für viele Wochen.
Für die aktuelle Saison kamen die winzigen Must-Haves sogar in gänzlich
neuem Design daher. Teilweise noch aus den sechziger Jahren stammende
Modelle, die eher an den Todesstern denn einen Urlaub im Bett gemahnen,
wurden aus dem Sortiment verbannt und durch Zwinkersmileys und niedliche
Flauschmonster ersetzt, kindgerecht eben. Auch diese Imagekorrektur dürfte
ein Grund sein für die neuerliche Beliebtheit der süßen RNS-Gauner mit
ihrer Allzweckwaffe, der Ribonukleinsäure.
## Fester Bestandteil der Gruppendynamik
Nachdem über Jahre hinweg viele Kinderkrankheiten kaum erhältlich waren und
teils aufwändig im Ausland besorgt werden mussten, werden die crazy Keime
nun unter Namen wie Julian, Claudia, Basti oder Sophie vielerorts wieder
angeboten.
Natürlich sind die Krankheiten längst fester Bestandteil der
Gruppendynamik, die Kinder fragen einander, ob sie „es“ schon haben. Wer
keine Ansteckung bekommt, ist schnell isoliert. Irgendwann sitzt man ganz
allein in der Klasse, während einstige Kameraden sich zu Hause mit
zahlreichen Körperfaxen und Medikamenten vergnügen.
Oft sind Impfungen Grund für die Unfähigkeit, einen lustigen Ausschlag zu
bekommen. Wohlmeinende Eltern lassen sich das künstliche Immun-Doping für
den Nachwuchs gern übereilt von Pharma-Ärzten im goldenen Porschejackett
aufschwatzen. „Ein kleiner Piks“ sei das nur, ist eines der perfiden
Manipulationsargumente der Reibachkönige im Dienste einer verordneten
Schulmedizin. Hinterher gebe es Lutscher für alle und für jeden einen
anderen.
Irgendwann brechen selbst skeptische Geister unter dem Stapel der
zugesteckten Infobroschüren zusammen und lassen impfen. Die Folge: Die so
präparierten Kleinen können keine Kinderkrankheiten mehr bekommen – ihre
noch kaum entwickelten Körper sind bereits unfruchtbar geworden für die
spannenden Erreger.
## Eine wichtige karmische Herausforderung
Ob die Sprösslinge eines Tages mit dem eigenen Leib die Geheimnisse, Winkel
und Nullstellen verschiedener Fieberkurven erkunden möchten, bedenken die
Eltern nicht. Einen eigenen Kopf, der vielleicht eine eigene
Hirnhautentzündung haben möchte, billigen sie ihren Kindern nicht zu.
Besser geht es da jenen, deren Eltern das Haupt zur Gänze mit
anthroposophischem Quatsch voll haben. In diesen Kreisen ist es verpönt,
dem lieben Gott per Spritze ins Handwerk zu pfuschen. Kinderkrankheiten
gelten als wichtige karmische Herausforderung für das Immunsystem, zudem
als eine erste Gelegenheit, die Güte des persönlichen Schutzengels auf
Herzmuskelentzündung und Nierenversagen zu testen.
Die wertvollen Erfahrungen, die kinderkranke Knirpse mit
Fieberthermometern, Zuckerkügelchen und Tee aus Rindenmulch dank ihrer
wochenlangen Matratzenbebrütung machen können, dienen der Charakterbildung
und als Schutz gegen weitaus schlimmere Krankheiten wie Krebs oder
Homosexualität, so Rudolf Steiners Theorie.
Kinder, die in einem solch siechfreudigen Milieu aufwachsen, müssen nicht
fürchten, rasch noch geimpft zu werden, bevor sie sich anstecken könnten.
Das nämlich wollen keimfeindliche Bevormundungspolitiker am liebsten allen
Bürgern vorschreiben, seien sie auch noch so klein. Meist führen sie dazu
irgendwelche Zahlen ins Feld, die jedem Ungeimpften, der mal zu Hause seine
Hand an der Stirn eines behaglich glühenden Infektionsherds gewärmt hat,
einen kalten Schauer über den Rücken jagen müssen.
Unterschlagen wird dabei, dass etwa Mumps, Röteln und Masern längst auf der
Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Erreger stünden, wenn es eine
solche Liste gäbe. Wie es in Wahrheit um die kontaktliebenden Kultviren
bestellt ist, merkt man ihnen aufgrund ihres kinderfreundlichen Wesens
nicht an.
Doch es gibt Gründe, äußerst besorgt zu sein. Insgeheim plant die Politik
nämlich, die Kinderkrankheiten nacheinander auszurotten, die Masern sollen
das erste Opfer sein. Und das alles nur, weil sie den Kindern den harmlosen
Spaß mit den Viren nicht gönnen. Die kleinen Tunichtgute leiden wie immer
am meisten darunter.
18 Feb 2015
## AUTOREN
Valentin Witt
## TAGS
Masern
Impfung
Kinderarzt
Wespen
Sportmedizin
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Griechenland
Masern
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Sexting
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