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# taz.de -- Die Wahrheit: Die findigen Molocher
> Die Großstadt ist und bleibt eine prima Fundgrube für Jobs – zum Beispiel
> für den ehrbaren Beruf des Sitzzwergs im Kino.
Bild: Bargeld lacht bei Demos im großen Stil: Dann räumen Profi-Finder die ve…
Der Moloch Großstadt hat immer Trinker und Verlierer angezogen. Und
Verlierer ziehen ihrerseits Finder an. Heutzutage sind das meist
Pfandflaschensammler, aber bereits die Gründerzeit war eine Finderzeit. Das
Finden galt schon damals als lukratives Gewerbe, denn im Gedränge der
Großstadt geht ja so einiges verloren: Hüte, Schirme, die Contenance, Geld
und sogar Kinder. Menschen, die beruflich erfolgreich Verlorenes suchten
und fanden, nannte man anerkennend „Finder“. Zur Ausübung dieses Gewerbes
braucht man nur ein scharfes Auge und keinen teuren Gewerberaum.
„Bargeld lacht“ hieß es damals wie heute, und deshalb patrouilliert der
professionelle Finder mit dem Blick auf den Boden bei größeren
Menschenansammlungen wie Demonstrationen und Beerdigungen. So kam und kommt
ein hübsches Sümmchen an verlorenem Kleingeld zusammen.
Ein gewisser Th. Seelmann schätzt die Tagesausbeute in Berlin am Ende des
19. Jahrhunderts auf 10-20 Mark (in Th. Seelmann, „Allerlei
Großstadtgewerbe“, 1897). In Paris und London konnten es umgerechnet bis zu
50 Mark sein! Die gewieften Sammelprofis rüsteten sich damals schon mit
Magneten aus, die an eine Schnur gebunden zum Geldangeln in Lichtschächten
und unter Kellerfenstergittern dienten.
## Magnetisch angezogen
Dem Geldangler heute ist natürlich der bargeldlose Zahlungsverkehr ein Dorn
im Auge. Wer will es ihm verdenken, wenn er in der U-Bahn von seinem
starken Magneten Gebrauch macht und Geldkarten in Rucksäcken und
Handtaschen stilllegt, indem er diesen unauffällig an die Gepäckstücke
seiner Sitznachbarn hält. Und was sind das eigentlich sonst für Menschen,
die Angler und Sammler der Großstadt? Keinesfalls etwa Bettlergestalten und
arbeitsscheue Individuen, sondern oft „anständige Erscheinungen“, wie
Seelmann anerkennend attestiert.
Der erfolgreiche Finder muss natürlich strategisch vorgehen. An erster
Stelle steht die tägliche Planung: Gefundene Zeitungen müssen studiert
werden, und so weiß ein guter Finder alles über die Vergnügungen und
Leichenbegängnisse der Stadt. In Erwartung eines Börsenfundes findet sich
der Finder nach Börsenschluss an der Börse ein, und abends folgt er dem
Strom der Nachtschwärmer, der ihm reichlich pekuniäres Strandgut in die
Taschen schwemmt. Seelmann berichtet, dass gute Finder damals ganze
Landhäuser von ihrem Sammelgut erwerben konnten. Erfunden oder wahr, wir
finden es gut.
Andere reizvolle Berufszweige sollten leider aussterben. So ist das Gewerbe
der sogenannten Schutzengel völlig verloren gegangen. Das waren „gewisse
Personen“ in den Trinkerkreisen von Paris, die die angeschlagenen
Gewohnheitstrinker wieder heil nach Hause brachten. Da hieß es für die
Schutzengel möglichst nüchtern bleiben.
Außerdem benötigten sie große Körperkräfte, da sie ihre Klientel häufig a…
die Schulter laden und anschließend auch noch ins Bett bringen mussten. Das
Faktum, dass die Betrunkenen meist über mehr Durst als Geld verfügten, wird
zum Aussterben des Schutzengelgewerbes entscheidend beigetragen haben.
## Wandelnde Modepuppen
Ein anderes interessantes Gewerbe konnte in veränderter Form überleben,
nämlich das des „Modewandlers“. Das waren wandelnde menschliche Modepuppen,
die für bestimmte Schneidereien Werbung machen sollten. Heutzutage lebt ihr
Gewerbe durch die Schleichmodewandler in Fernsehsendungen und sogenannte
Fashion Victims weiter.
Es ist nicht leicht, lukrative neue Großstadtgewerbe zu finden, aber es
gibt sie. Oft heißen diese anfangs Start-ups und später meist Flops. Aber
es gibt auch Gutes. Der beliebte Zwergenmietdienst für Kinos
beispielsweise, der freien Blick auf die Leinwand garantiert. Dabei
positioniert sich eine Gruppe von Kleinwüchsigen vor dem Kunden und
gewährleistet so beste Sicht.
Dann sind der Hundeausführdienst „Freigänger“ zu nennen oder die findigen
Parkplatzscouts, die Parkplätze in ihrer Umgebung ausfindig machen und mit
dem Baseballschläger freihalten. Platzhalter besetzen Sitzplätze in den
überfüllten S-Bahnen des Berufsverkehrs und Treueherzchensammler und
Bonuspunktsammler sammeln gegen einen kleinen Obulus Sammelpunkte für alle,
die nicht zum Einkaufen kommen, weil sie Pfandflaschen sammeln müssen. Eins
ist klar: Wer suchet, der findet!
17 Aug 2015
## AUTOREN
KRIKI
## TAGS
Großstadt
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