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# taz.de -- Die Wahrheit: Alte Säcke auf neuen Zügen
> In einem Café in Hannover sitzt ein Formwandler mit Paarungsabsicht, ein
> 50-jähriger Hipster, der auf jung macht – das Grauen.
Bild: Eine Geschichte ohne Inhalt: „Enigma“ von Rosaire Appel​.
Als Jugendlicher kaufte ich mir gelegentlich eine Ausgabe der „U-Comix”.
Das „U” stand für „Underground”, weil in diesen Bildergeschichten Them…
verhandelt wurden, die damals als nicht comic-kompatibel galten. Bei den
Freak Brothers, Fat Freddy und Wunderwarzenschwein ging es um Drogen, Sex,
Politik und Rockmusik. Manchmal auf eine sehr schlichte Art, die nahelegte,
dass auch bei der Herstellung der Storys die eine oder andere Droge
verkostet wurde, manchmal aber waren die Wendungen angenehm absurd und
subversiv.
Unter anderem gab es eine Serie von Ted Richards unter dem Titel „Der 40
Jahre alte Hippie”, deren Komik vor allem darauf aufbaute, dass der
titelgebende Hippie die sechziger Jahre überlebt hatte und nun, Ende der
Siebziger, immer noch ein Hippie war. Hmh. Mal abgesehen davon, dass das
von heute aus betrachtet niedlich ist – so richtig verstand ich das damals
schon nicht. Ich wunderte mich eher darüber, dass Menschen sich angeblich
änderten – und nicht darüber, dass sie sich treu blieben.
Zum Beispiel, wenn der Kasseler Oberfreak, der gestern noch mit langen
Zotteln und Nickelbrille und auf einer Matratze sitzend „Cochise” gehört
hatte, auf einmal zum New Wave konvertierte, sich den Meckie blondierte und
mich in die Ästhetik von Chrom, Stahl und Neonröhren einweisen wollte. Oder
wenn irgendwelche Altnazis zu Demokraten wurden, Fleischesser zu
Vegetariern, Raucher zu Nichtrauchern, Atheisten zu Christen oder andersrum
– alles Quatsch!
Sicher ändern diese Leute ihr Verhalten, was im Einzelfall von Vorteil sein
kann, aber nicht muss – doch es bedeutet nichts. Weil sie die neuen Dinge
aus den gleichen Gründen tun wie die alten. Nur Soundtrack und Kostüm
wechseln.
Eine der lächerlichsten Varianten dieser Formwandler sind die 50-jährigen
Hipster. Wenn junge Leute auf einen neuen Zug aufspringen – meinetwegen.
Wenn aber alte Säcke versuchen, ihr Berufsjugendlichentum durch modische
Aktualität zu adeln, wird es gruselig. Vor allem wenn die Mode schon wieder
am Abklingen ist.
Neulich saß ich in einem Café in Hannover-Linden, und mir gegenüber
rhabarberte eine Art Mann in Paarungsabsicht auf eine junge Frau ein. Er
war eindeutig mein Alter, aber ausgestattet mit allen Accessoires eines
Kulturwissenschaftsstudenten in den Mittzwanzigern: schlumpfartige
Wollmütze trotz Hochsommer, Pilgervollbart graumeliert, Pullunder, enge
Jeans, Sneakers. Mir war klar, dieser Formwandler hatte in seinem Leben
schon einiges hinter sich: Freak, Punk, New Romantic, Grunge, was weiß ich…
Ich schaute in die andere Richtung und sah meinen Lieblings-Lindener
vorbeigehen. Leicht gebeugt, aber doch irgendwie aufrecht: der 75-jährige
Rock ’n’ Roller. Die vollkommen synthetisch schwarz gefärbten Resthaare von
hinten nach vorne zu einer Art umgekehrter Entenschwanzfrisur gekämmt, ein
abgetragener hässlicher Lederblouson, Jeans, Cowboystiefel. Und plötzlich
verstand ich, was das Wort Würde bedeutet.
28 Jul 2015
## AUTOREN
Hartmut El Kurdi
## TAGS
Hipster
Würde
Bremen
Flüchtlinge
Wendland
Christentum
Eltern
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