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# taz.de -- Daily Dope (697): „Ich bin aus der BRD ausgetreten“
> Warum auch eine dauerhafte Dopingopferrente die ehemalige DDR-Ruderin
> Cornelia Reichhelm nicht zur Ruhe kommen lässt.
Bild: DDR-Dopingmittel: macht dicke Arme – und krank.
Die Verhandlung fing schon sehr ungewöhnlich an. Als Cornelia Reichhelm am
Freitagmorgen von der 4. Kammer des Sozialgerichts Magdeburg zu ihrem
Personenstand befragt wurde, erklärte sie: „Ich bin aus der BRD
ausgetreten.“ Mit ihrem Mann hat sie vor geraumer Zeit zu Hause die
Personalausweise zerschnitten und sie im Rathaus der brandenburgischen
Gemeinde Luckau abgegeben. Vor Gericht erläuterte Reichhelm, sie vertrete
ihre Interessen ohne Hilfe eines deutschen Anwalts und exterritorial zur
Bundesrepublik.
Gelungen ist ihr das recht gut. Am Ende der Verhandlung fällte das Gericht
ein sporthistorisches Urteil. Erstmals wurde einer Sportlerin wegen
schwerer gesundheitlicher Schädigung durch Doping in der DDR eine
Dauerrente zuerkannt.
Die ehemalige Ruderin Reichhelm soll etwa 416 Euro monatlich erhalten.
Bislang musste die 52-Jährige von den Zuwendungen einer Lebensversicherung
leben, die unter dem Hartz-IV-Satz liegen. Die Dopingopferrente fällt nicht
höher aus, weil das Gericht die Folgeschäden durch Doping lediglich auf
einen Schädigungsgrad von 60 Prozent taxierte.
„Das psychiatrische Gutachten, das mir psychisch-physische
Erschöpfungszustände wegen der chronischen Schmerzen bescheinigte, wurden
vom Gericht aus formalen Gründen gar nicht berücksichtigt“, klagt
Reichhelm. Ein medizinisches Gutachten attestiert ihr eine „schwer
degenerativ veränderte Wirbelsäule“ aufgrund der physiologischen
Überbelastung in ihren Jugendjahren.
## Ein hoffnungsvolles Zeichen
Mit 13 Jahren wurde sie bereits als Versuchskaninchen der
DDR-Dopingforscher missbraucht. Trotz bester Platzierungen schickte man sie
im Wissen, dass sie bei Tests auffliegen würde, nicht zu internationalen
Wettkämpfen. Ein Bandscheibenvorfall wurde ihr in Jugendjahren
verschwiegen. Reichhelm musste weitertrainieren. Heute kann Reichhelm, die
stets eine Halskrause trägt, ihren Kopf nur um Millimeter bewegen.
Die nun unter dem Existenzminimum liegenden staatlich garantierten
Zuwendungen nennt Reichhelm dennoch „einen Riesenerfolg“. Sie erklärt: „…
habe lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.“ Und außerdem
sei es nicht nur um sie gegangen. Das Urteil sei auch ein hoffnungsvolles
Zeichen für all die anderen Geschädigten. Seit zwölf Jahren kämpft
Reichhelm bereits um eine Dopingopferrente. Und wahrscheinlich ist auch der
Kampf nach dem historischen Urteil vom Freitag noch lange nicht beendet.
Mit dem „Austritt aus der BRD“ will Reichhelm weitere jahrelange
Hängepartien verhindern.
Ein Akt der Verzweiflung. Aus ihrer Sicht bleibt ihr damit die nächste
Instanz, in der sie sich nicht selbst verteidigen darf, verschlossen.
Deshalb kündigte sie für den Fall, dass die Gegenseite Revision beantragt,
einen Strafantrag vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in
Den Haag an. „Ich bin müde. Ich will nicht weiter vor Gerichten kämpfen“,
sagt Reichhelm.
## Makabere Seite der Marathonverhandlungen
Ines Geipel, Vorsitzende des Dopingopfer-Hilfe-Vereins (DOH), weiß gar
nicht so recht, ob sie sich über das Urteil von Magdeburg freuen soll.
Einerseits, sagt sie, sei das ein „historisches Urteil, das auch die
Hoffnung vieler anderer Dopingopfer stärkt“. Ihr Verein betreue derzeit
allein 700 Menschen. „Ich habe allergrößten Respekt vor dem Mut und der
Kraft von Frau Reichhelm.“
Andererseits aber weist Geipel auf die makabere Seite der juristischen
Marathonverhandlungen hin. Auch Geipel geht von einer Revision im Fall
Reichhelm aus. Viele Prozesse würden so lange verschleppt werden, dass die
Kläger nicht mit einem abschließenden Urteil vor ihrem Tod rechnen könnten.
Zudem sei der Gang durch die Gerichte zermürbend und den Opfern nicht
zuzumuten. „Wir können die extrem Geschädigten nicht durch die Gerichte
jagen. Wir brauchen eine grundsätzliche politische Lösung.“ Es bestehe die
Gefahr, dass der Fall Reichhelm von der Politik als falsches Signal
wahrgenommen werde: dass die Politiker nicht selbst aktiv werden müssten.
## Lieber nicht zurückschauen
Der DOH habe im März erst wieder eine Initiative gestartet, damit auf
politischer Ebene den Geschädigten eine Dauerrente zuerkannt wird. Auch mit
dem Deutschen Olympischen Sportbund habe man viele Gespräche geführt. Aber
außer den Grünen und den Linken stelle sich niemand hinter die Forderungen
des DOH.
„Es heißt immer nur. Wir prüfen, wir prüfen, wir prüfen. Es ist aber nich…
passiert“, erklärt die recht desillusionierte Geipel. Sie moniert, dass im
Leistungssport immer wieder sehr viel Geld in die Hand genommen wird, um
etwa die Olympischen Spiele 2024 oder 2028 in Hamburg zu ermöglichen.
Zurück würde man aber lieber nicht schauen und schon gar kein Geld
ausgeben.
13 Jul 2015
## AUTOREN
Johannes Kopp
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
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