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# taz.de -- Doping im Leistungssport: „Ein ekelhaftes Geschäft“
> In der DDR experimentierte man an der Ruderin Cornelia Reichhelm mit
> Dopingmitteln. Noch immer kämpft sie vor Gericht um ihre Rehabilitation.
Bild: In der DDR wurde gedoped. Ist heute alles Natur?
Cornelia Reichhelm hat keine andere Wahl. Sie kann ihren Kopf gar nicht
abwenden von der Sachbearbeiterin, die im Saal 12 des Magdeburger
Justizzentrums gerade versucht, ihre Schmerzen kleinzureden. Sie sitzt ihr
direkt gegenüber, und Reichhelm vermag ihren Kopf nur um Millimeter zu
drehen. Ihre Halswirbelsäule ist versteift.
Die 50-jährige ehemalige Leistungssportlerin trägt eine Halskrause und ein
Stützkorsett. Das sind nur die offensichtlichen Kennzeichen ihrer
Leidensgeschichte, die ihren Anfang nahm, als sie mit 13 Jahren von den
Erfüllungsgehilfen des DDR-Sportsystems erstmals missbraucht wurde, weil
man mit allen Mitteln Hochleistungssportler heranzüchten wollte. Der Körper
der jungen Ruderin diente ihnen knapp sechs Jahre lang als
Dopingversuchsobjekt.
37 Jahre später, am 16. Oktober 2013, kämpft Reichhelm, die
zwischenzeitlich den Namen ihres früheren Ehemannes Jeske trug, im
wiedervereinigten Deutschland in einem kleinen Magdeburger Gerichtssaal
immer noch um ihre Rehabilitation und insbesondere um ihre „physische
Existenz“, wie sie sagt.
Gerade hat ihr Anwalt Dr. Michael Lehner ein medizinisches Gutachten
nachgereicht, das ihren Antrag untermauern soll, einen deutlich höheren
Schädigungsgrad zugesprochen zu bekommen als die bisherigen 50 Prozent.
Doch die Sachbearbeiterin des nun für Reichhelm zuständigen Landesamts für
Soziales und Versorgung Brandenburg ist daran interessiert, die möglichen
Folgekosten einer höheren Einstufung für das Bundesland gering zu halten.
Sie wendet ein, die vom medizinischen Gutachter attestierte Migräne und die
„psychophysische Erschöpfung mit depressiven Verstimmungszuständen“ halte
sie ebenso wie die Richterin für unzureichend belegt. Dazu stellt sie die
Schäden an der Brustwirbelsäule infrage.
„Das ist Schikane“, sagt Reichhelm hinterher. Zwei-, dreimal bricht ihr
während der Verhandlung die Stimme, weil „das juristische
Prozentgeschachere“ sie aus der Fassung bringt. Am Ende wird ihr ein
Schädigungsgrad von 70 Prozent zugestanden.
## Sie will nicht als Bettlerin erscheinen
Ihr Anwalt Lehner hatte 80 Prozent gefordert. Dass dieses entwürdigende
Prozedere kaum jemand mitbekommt, ist ihr ganz recht. Außer ihrem Mann sind
nur sechs Justiztouristen gekommen, die in den Pausen kichernd Privates
austauschen. Ihren Stolz lässt sich aber Reichhelm nicht nehmen. Sie will
nicht als Bettlerin erscheinen.
„Eines ist mir wichtig zu sagen“, erklärt sie, „ich würde das Geld gern…
meinen Trainern in der DDR einklagen und nicht vom Staat. Aber diese Täter
werden ja auch von diesem Staat geschützt.“ Ihr früherer Verbandstrainer
Dieter Altenburg etwa, der nach der Vereinigung sofort eine Stelle im
Jugendsport angeboten bekam. Bis 2007 war er Bundestrainer im Deutschen
Ruderverband.
Vor dem Magdeburger Sozialgericht geht es Reichhelm darum, eine möglichst
gute Ausgangsposition für ihr anderes Verfahren am selben Hause zu
erzielen, in dem sie auf Bewilligung einer Dopingopferrente klagt. Seit
2009 hängt dieser Prozess in der Warteschleife. Sie wäre die Erste, die in
Deutschland eine Dauerrente erhielte.
Vor wenigen Wochen wurde immerhin erstmals der Kanutin Kerstin Spiegelberg,
die infolge ihres unwissentlichen Anabolikakonsums an Brustkrebs erkrankte,
für die halbjährige Krankheitszeit eine Opferrente zugesprochen. Cornelia
Reichhelm spricht von einem hoffnungspendenden „Kratzen an der
Schallmauer“.
Für sie steht nun allerdings weit mehr auf dem Spiel. Schon im Jahre 2000
bescheinigten ihr die Ärzte die volle Erwerbsunfähigkeit. Ihre monatlichen
Einnahmen liegen 80 Euro unter dem Sozialhilfesatz und damit unter dem
Existenzminimum.
## Mit 13 Jahren regelmäßig Testosteron verabreicht
Sozialhilfe würde sie nur erhalten, wenn sie wiederum ihre
Lebensversicherung auflösen würde, die ihr im Alter zugutekommen soll. Ihre
sonstigen Ersparnisse und die einmalig ausgezahlte Entschädigungssumme als
staatlich anerkanntes Dopingopfer von knapp 10.500 Euro sind längst
aufgebraucht.
Cornelia Reichhelms besondere Not korrespondiert mit ihrer besonderen
DDR-Sportlerbiografie. Mit 13 Jahren wurde ihr beim SC Dynamo Berlin
regelmäßig Testosteron verabreicht. Reichhelm erfuhr dies im Jahre 2003,
als sie ihre „gynäkologische Dynamo-Akte“ erstmals einsehen konnte.
Und weil sie bald zu den Schnellsten zählte, gehörte sie zu den
Auserwählten, die auch einen Eiweißtrunk unter Aufsicht leeren sollten,
der, so Reichhelm, nach Rattengift roch und scheußlich schmeckte. Die
leistungsfördernde Wirkung blieb nicht aus. Aber trotz bester Ergebnisse
bei DDR-Meisterschaften durfte Cornelia Reichhelm nie zur Junioren-WM
mitfahren.
Wie sie heute vermutet, hatte man Angst, dass sie als Hochgedopte
aufgeflogen wäre. „Ich war wohl nie dafür vorgesehen, Medaillen zu holen.“
Aus Enttäuschung über die Ungleichbehandlung wollte Reichhelm aufhören,
wurde aber von ihren Trainern massiv unter Druck gesetzt, weiterzumachen.
Auch die Bandscheibenvorfälle, die sie laut Akten bereits mit 17 Jahren
erlitt, verschwieg man ihr. Sie bekam Spritzen gegen die
„Muskelverspannungen“ und musste weitertrainieren. Auch diese kriminelle
Vorgehensweise kann als Beleg gelten, dass man sie nicht als Sportlerin,
sondern als Versuchskaninchen benötigte.
## Präparierte Schokolade als Dopingzufuhr
Als sie volljährig war, wurde sie erstmals gefragt, ob sie Anabolika
einnehmen wolle. Weil sie sich weigerte, stellte man die weitere
Dopingmittelzufuhr sicher, indem man sie angeblich wegen ihres geringen
Gewichts täglich eine präparierte Tafel Schokolade essen ließ.
Bislang bestand die schier unüberwindbare Schwierigkeit der Dopingopfer
darin, vor Gericht zu beweisen, dass ihre körperlichen Leiden nicht Folge
der ungesunden Überbelastung eines Leistungssportlers waren, sondern
unmittelbar auf den Konsum von Dopingmitteln zurückzuführen sind.
Im Falle von Reichhelm arbeitete aber der vom Gericht Magdeburg bestellte
Gutachter Dr. Christoph Raschka genau diesen Zusammenhang fein säuberlich
aus. Anhand von Statistiken belegt er, dass Skelettschäden zum typischen
Erscheinungsbild von DDR-Dopern gehören.
Und er kommt zu dem Schluss, dass die Wirbelsäulenschädigung „in erster
Linie als Folge einer unphysiologischen Überbelastung durch gewaltige
Trainingsvolumina und Trainingsintensitäten anzusehen ist, welche der
jugendliche, weibliche Körper der Klägerin noch in der Wachstumsphase nur
durch unphysiologische Gabe anaboler Steroide durchhalten konnte.“
In aller Deutlichkeit entkräftet Raschka auch ein früheres Gutachten, in
dem der Münsteraner Prof. Eberhard Nieschlag apodiktisch einen Zusammenhang
zwischen der Einnahme von anabolen Steroiden und den „Gesundheitsstörungen“
ausschließt.
## Schmerzen in Abrede gestellt
Erst nachdem das Magdeburger Gericht von Reichhelm und ihrem Anwalt Lehner
darauf hingewiesen wurde, dass Nieschlag laut einem Spiegel-Bericht von
1992 ein Interesse daran habe, Testosteron nicht in Misskredit geraten zu
lassen, weil er für einen Pharmakonzern an der Erprobung des Sexualsteroids
als Pille für den Mann beteiligt sei, bestellte es mit Dr. Raschka einen
eigenen Gutachter.
Im Kampf um die Anerkennung als Dopingopfer hat Reichhelm schlimmste
Erfahrungen gemacht. Manche Ärzte haben die Ursache ihrer Schmerzen in
Abrede gestellt. So etwa ein Mediziner aus Halle, der, wie Reichhelm
herausfand, Sportarzt bei den Ruderern war. Im Gespräch hatte er ihr
versichert, er fände es richtig, was man mit den DDR-Sportlern damals
gemacht habe.
Über mögliche Folgen wusste man indes schon früh Bescheid. Reichhelm stieß
bei ihrem intensiven Vergangenheitsstudium auf ein Papier der
Birthler-Behörde, in dem der Sportarzt Dr. Kurt Franke mit dem Decknamen
„Philatelist“ die DDR-Trainer und Funktionäre genau vor den Folgeschäden
von Anabolikakonsum (Wirbelsäulenschäden et cetera) warnte, unter denen
Reichhelm heute leidet.
Aber auch im Nachhinein verschließt man sich im vereinigten Deutschland vor
vorhandenem Wissen. Laut Reichhelm wurden ihrem Sohn, der mit Klumpfuß zur
Welt kam (eine häufig auftretende Dopingopferfolgeerscheinung in der
zweiten Generation), jegliche Ansprüche mit der Begründung verweigert, die
Mutter sei ja nicht während der Schwangerschaft gedopt gewesen.
Reichhelm fühlt sich nicht als Opfer eines einzelnen Unrechtssystems. Sie
sagt: „Leistungssport ist ein schmutziges, ekelhaftes, dreckiges Geschäft.“
21 Oct 2013
## AUTOREN
Johannes Kopp
## TAGS
Doping
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