| # taz.de -- Die Wahrheit: Schuldentilgung at its best | |
| > Last exit EU: Nach Griechenland werden jetzt noch ganz andere Länder | |
| > gerettet. Der finale Europakommentar. | |
| Er wollte nur zehn Minuten zur Post. Doch Berthold K. hat die Rechnung ohne | |
| die flinke Inspektorin gemacht, die ihm bereits einen geharnischten Brief | |
| hinter den Scheibenwischer geklemmt hat. Als er zu seinem fünftürigen Wagen | |
| zurückkommt, ist der ganze Vorgang schon gelaufen: Wegen unerlaubten | |
| Parkens in der Einfahrt wird Berthold K. für 90 Tage aus der Euro-Zone | |
| ausgeschlossen. Sein Vermögen wird unter Aufsicht der Troika gestellt, als | |
| „Pleite-Berthold“ landet sein Foto im ewigen Krisenticker von Spiegel | |
| Online. | |
| ## Eingekauft wird nur noch in speziellen Lizenzgeschäften | |
| Für Berthold K. beginnt ein Spießrutenlauf. Am Geldautomaten darf er jeden | |
| Tag nur noch den Gegenwert von 60 Euro abheben – ausgezahlt natürlich nicht | |
| in Euro, sondern in einer zufällig ausgelosten Fremdwährung. Einkaufen kann | |
| er damit ausschließlich in speziellen Lizenzgeschäften der Regierung, den | |
| sogenannten Rettungsshops. Wer glaubt, dass Herr K. wenigstens hier sein | |
| Geld nach Herzenslust und Laune verprassen könnte, irrt: Auch sein | |
| Einkaufszettel unterliegt nicht mehr seiner freien Entscheidung und seinen | |
| ursprünglich recht bescheidenen Bedürfnissen, sondern wird von einem | |
| Gremium international reputierter Experten zusammengestellt. Nach dem Plan | |
| der globalen Ratingagentur Partner, Partner & Partner muss Berthold K. | |
| heute Toast, Buntwaschmittel, vier waffenfähige Atom-U-Boote und | |
| zweihundert Panzerhaubitzen kaufen. | |
| Ob er es bis zu einem Rettungsshop schafft, stellt sich allerdings jeden | |
| Tag aufs Neue heraus: Jeder Schritt aus seiner Wohnungstür gilt rechtlich | |
| als Einreise in den Euroraum und muss von zwei mittel bis stark genervten | |
| Zollbeamten registriert werden. Sein Vermögen wird eingefroren, ebenso wie | |
| die Reste vom Abendessen und seine Frau. Tägliche Videokonferenzen mit der | |
| bis zur Mumifizierung braungebrannten IWF-Chefin Christine Lagarde sind da | |
| nur die i- und ä-Tüpfelchen auf dem Wort Austerität. „Das klingt für | |
| Nichteingeweihte vielleicht etwas hart“, gibt der für Berthold K. | |
| zuständige Rettungsmanager Peter Tauber zu. Doch der pädagogische Effekt | |
| dürfe nicht unterschätzt werden: „Herr K. wird sich künftig zweimal | |
| überlegen, wo er sein Auto parkt – vorausgesetzt, er überlebt das | |
| Rettungsprogramm.“ | |
| Von einer starren Einheitswährung hat sich der Euro zu einem flexiblen | |
| Steuerungsinstrument entwickelt, das staatliche Kontrollinstanzen wie | |
| Justiz, Polizei und Pegida spürbar entlastet. Auch die | |
| Erziehungseinrichtungen profitieren: In vielen Kitas und Grundschulen gibt | |
| es jetzt einen sogenannten Euroraum, in den besonders unartige Kinder | |
| gesteckt werden können. Allein schon der Name führt bei den Knirpsen zu | |
| mittleren Panikattacken. Denn hinter der unschuldigen Bezeichnung verbirgt | |
| sich ein leerer Raum mit weißen Wänden, von denen herunter das leblose | |
| Gesicht Wolfgang Schäubles blickt. Eine strengere Mahnung zu europäischen | |
| Werten wie Stabilität, Zuverlässigkeit und gnadenloser Härte gegen | |
| Abweichler ist kaum vorstellbar. | |
| ## Eurowirtschaft - eine florierende Industrie | |
| Um den Euro herum hat sich inzwischen eine florierende Industrie | |
| entwickelt, die sogenannte Eurowirtschaft. Ihre Hauptaufgabe ist die | |
| Verwaltung der verschiedenen Eurozonen, die einem höchst komplizierten | |
| kosmologischen Modell folgen. | |
| „Wir gehen von einem heliozentrischen Weltbild aus“, erklärt | |
| Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker beflissen, „und leiten davon alles step | |
| by step ab. Im Zentrum der Galaxie vermuten wir eine unvorstellbar dichte | |
| Masse ungedeckter Liquidität, auf die aber keiner zugreifen kann, wegen | |
| Dispo. Im direkten Umkreis dieser Masse bewegen sich die „Early Adopter“: | |
| Frankreich, Deutschland, Sigmar Gabriel, die alle AAA-Bonität genießen. | |
| Diese geben ihre Bonität als Teilchen oder Wellen ab, je nach Wunsch, und | |
| versorgen so jeweils bis zu sechs organisch gewachsene Makrobiotope.“ | |
| In den Makrobiotopen findet dann der biochemische Prozess statt, den der | |
| Laie schlicht und umgangssprachlich als „Dauerauftrag“ kennt. „Der | |
| Kleinanleger“, so Juncker aufklärerisch, „muss es also lediglich schaffen, | |
| seine DNA in ein ganz spezifisches Portfolio zu schießen, bevor die | |
| fruchtbaren Tage endlich rum sind. Viel Glück dabei!“ | |
| Eine Menge Fachchinesisch für eine höchst simple Wahrheit: Nach dem Willen | |
| der Troika ist Euro künftig nicht gleich Euro! Deutsch-Euro, Belgisch-Euro | |
| und glutenfreie Euro sind bereits in Planung; Paypal-Euro, | |
| Sanifair-Gutscheine und Warcraft-Gold können heute schon frei gegeneinander | |
| gehandelt werden. „Die Einrichtung eigener Noten- und Zentralbanken für | |
| diese Individual-Euro wird nicht zuletzt auch dringend benötigte | |
| Arbeitsplätze schaffen“, so Junckers letzte Worte, bevor er im Kreise | |
| seiner Angehörigen friedlich verschied. | |
| Schöne neue Geldwelt: Die Eurozonen stehen miteinander im direkten | |
| Wettbewerb, konkurrieren um wichtige Schuldner, können Handel treiben und | |
| Krieg führen. „Vorstellbar ist zum Beispiel, dass die Eurozone Bayern die | |
| Eurozone Franken wegen Misswirtschaft ausschließt“, sagt ein hohes Tier | |
| (Giraffe) aus dem Europa-Park in Rust. „Dann muss Franken bei einer anderen | |
| Eurozone um Asyl bitten – oder unrentable Städte und Bürger komplett | |
| abstoßen. Da herrscht ein gewisser Spielraum.“ | |
| ## Luxemburg darf sich ein Stück Algarve kaufen | |
| In einem zweiten Schritt sollen sich die börsennotierten Euroländer | |
| gegenseitig kaufen und verkaufen können. „Wenn Luxemburg sich ein schönes | |
| Stück Algarve oder Paris zuschlagen möchte – warum nicht? Geld, das wusste | |
| schon Marx, regiert die Welt“, heißt es bündig aus dem Europa-Park. | |
| Die Crux: Keiner weiß mehr so genau, wie und warum dies oder das gilt. | |
| „Oder auch andersrum“, ergänzt die Giraffe. „Die Zersplitterung der | |
| nationalstaatlichen Souveränität hat beim Bürger zu einer tiefen | |
| Verunsicherung geführt, die nur durch große Gaben Geld gemildert werden | |
| kann. Aber woher nehmen, wenn nicht vom IWF stehlen?“ | |
| ## Der Hauptwohnsitz wird in ein Drittweltland verlegt | |
| Auf den Straßen der Hauptstädte tummelt sich bereits jetzt ein riesiges | |
| Euro-Prekariat ohne klar zugewiesenes Rating, die Schlangen vor den | |
| Ein-Euro-Shops werden lang und länger. Das Problem: Keiner kann rausgeben! | |
| Die großen Telefonkonzerne bieten interimsmäßig an, per SMS für wahlweise | |
| 14 oder 28 Tage ausgewählte Bürgerrechte zu erwerben – nach mehr als 50 | |
| kritischen Leserbriefen an die Frankfurter Allgemeine Zeitung werden sie | |
| aber für den Rest der Laufzeit gedrosselt. | |
| Wer von diesem Szenario schon geflasht ist, sollte sich für die Zukunft | |
| ganz genau überlegen, wie viel Europa er sich überhaupt noch leisten kann. | |
| Für die Mehrzahl der Eurobürger könnte es tatsächlich günstiger sein, den | |
| Hauptwohnsitz in ein Drittweltland zu verlegen und dann jeden Morgen per | |
| Schlepper übers Mittelmeer zu pendeln. | |
| „Die europäische Idee ist zu wertvoll, als dass man sie den Leuten | |
| kostenlos hinterherschmeißen sollte“, schrieb der weise Hans-Dietrich | |
| Genscher vor Kurzem auf Twitter. Ob er recht behält, weiß zurzeit nur die | |
| Kanzlerin. Und die schweigt beharrlich. | |
| 18 Jul 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Leo Fischer | |
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