| # taz.de -- Massensturz bei der Tour de France: Crashituri te salutant | |
| > Der Massensturz der Tour de France ist ein guter Anlass, als Zuschauer | |
| > wie als Chronist, die eigene Lust am Spektakel des Leidens zu | |
| > hinterfragen. | |
| Bild: Das größte Ereignis der bisherigen Tour de France: der Massensturz. | |
| HUY taz | Fahrradfahrer stürzen. Menschen und Räder fliegen durch die Luft, | |
| schlagen heftig auf dem Boden auf. Ein Körper fliegt gar gegen einen Mast. | |
| Andere sind begraben von Karbonkonstruktionen. Ärzte, Sanitäter schwirren | |
| um sie herum. Aber auch Fernsehkameras und Fotoapparate. Sie fangen Blut | |
| ein, zerrissenes Textil, verbogenes, geborstenes Aluminium, Körperteile, | |
| die seltsam herausstehen. | |
| Ist das noch Chronistenpflicht, fragt man sich selbst beim Sehen dieser | |
| Bilder, auch beim Schreiben dieser Worte? Oder ist man nicht schon selbst | |
| in ein Spektakel eingebunden, das vom Blut sich nährt, vom Leiden, und das | |
| die extreme Dosis braucht als Auslöser für eine Regung, eine Sensation, | |
| verstanden als basalen Sinnesreiz? | |
| Die Kameras – Dokumentar- wie Spektakelinstrumente – fangen auch ein, wie | |
| eine Zuschauerin sich nicht entblödet, ein Autogramm von dem gerade auf | |
| sein Rad steigenden Fabian Cancellara zu holen. Der Mann im gelben Trikot | |
| war ebenfalls in den Sturz verwickelt. Der König der Tour im freien Fall; | |
| Spartacus ist sein Spitzname wegen seines für einen Radsportler | |
| ungewöhnlichen Muskelpakete, er ist ein Herkules unter den spacken | |
| Beinarbeitern. | |
| Dieser Spartacus ruft die Erinnerung an seinen Namensvorgänger, den | |
| Gladiator, auf. Der musste mit seinen Berufskollegen unter den Augen von | |
| Zehntausenden kämpfen. Sie mussten sich gegenseitig metzeln und nach | |
| überlebter Schlacht noch darauf warten, ob der Daumen des hochrangigsten | |
| Regierungsvertreters im Stadion nach oben unter unten zeigte. | |
| Der Daumen allerdings war nicht nur vom Herrscherhirn gelenkt, sondern auch | |
| von der Stimmung in der Arena, auf den Rängen. Herrschte dort Blutdurst? | |
| Oder war der gestillt, sodass Besinnung, Langmut, Gnade einen Weg fand, | |
| sich in den Gemütern auszubreiten? | |
| ## Zurück im römischen Imperium | |
| Mit den Ereignissen der dritten Etappe der Tour de France sind wir wieder | |
| in den Tagen des römischen Imperiums angekommen. Wir sind global vernetzt, | |
| die Reaktionen schießen von flämischen Landstraßen nach Berlin, nach London | |
| und Tokio. | |
| Die Rolle des Gnadengebers, des imperatorischen Daumens, haben die Arme des | |
| Tourdirektors Christian Prudhomme übernommen, der hier mal Gnade walten | |
| ließ und das nervöse, erschöpfte Feld anhielt, in dem es dennoch brodelte. | |
| Es waren Fahrer darin, die einfach weitermachen wollten, die ungehalten | |
| waren über den Stopp, von animalischem Kampfeswillen durchströmt. Von | |
| Schaulust waren all die erfüllt, die die Augen nicht von den Bildern | |
| brachten. | |
| Die sportlichen Leiter schließlich brachten die Härte von Veteranen ein, | |
| die das Anhalten lachhaft fanden, die sich an viel größere Gemetzel | |
| erinnerten – damals, vielleicht noch ohne Fernsehen, nur in grob | |
| gerasterten Schwarz-Weiß-Aufnahmen überliefert. | |
| Die Frage stellt sich, wohin ist der Sport gekommen, die Wahrnehmung des | |
| Sports. Noch eine Frage stellt sich: Hat in der Betrachtung des | |
| Straßenradsports die Faszination am Leid, am Schmerz, am Verunfallen und am | |
| Kitzel der Gefahr eine andere, ebenso dunkle Passion abgelöst? Die | |
| Dopingskandale nämlich, die Lust am Erkunden der kriminellen Zonen des | |
| Betrugs, die Sensation an der menschlichen Tragödie, wenn aus Idolen | |
| Verräter werden, von denen die Ärmsten sogar mit dem Leben bezahlen. | |
| ## Schaulust statt Doping | |
| Um Grenzzustände ging es auch dabei. Doch seit das Doping eingehegt, auf | |
| Mikrodosen reduziert, seit Epo nicht mehr gespritzt – ganz böse! –, sondern | |
| nur noch geschluckt zu werden braucht und neue Präparate nicht mehr | |
| Substanzen transportieren, sondern nur noch den | |
| Substanzenproduktionsapparat im eigenen Körper steuern, seit Doping also | |
| kulturell gebremst ist in diesem Sport, und manch einer wohl auch gar nicht | |
| mehr dopt, seitdem sucht sich die Schau-, die Erschau- und die | |
| Erschauerlust offenbar andere Wege. | |
| Es liegt am Publikum zu entscheiden, an diesem Lustkonstrukt durch | |
| Rezeption beglaubigend mitzuwirken. Es liegt an den Machern, auch dieses | |
| Problem vielleicht einzuhegen, das Fahrerfeld zu verkleinern, die | |
| Sturzzonen aber zu erweitern. Auch Berichterstatter müssen Chronisten- und | |
| Spektakelanteile wieder besser abzuwägen lernen. | |
| Und nicht zuletzt liegt es an den Protagonisten zu entscheiden, in welchem | |
| Maße sie ihre Haut zu Markte tragen wollen. Spartacus und Kollegen stiegen, | |
| wie man in der Schule lernt, aus dem Zirkus aus und erschütterten ein | |
| Weltreich. Was machen der aktuelle Träger dieses Namens und seine heutigen | |
| Kollegen? | |
| 7 Jul 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
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