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# taz.de -- Auf der Fährte von Fuchs und Wolf: Wer wirft die Grünspechtkacke?
> Vor dem Sesshaftwerden waren die Menschen darauf angewiesen, die Zeichen
> der Tiere zu erkennen. Ein Besuch in einer Wildnisschule.
Bild: Wer ging, lief, sprang denn hier? Die Zeichen der Natur lassen sich deute…
LAUSITZ taz | Schwarzer Schlamm quatscht über die Gummistiefel, saugt die
Füße in den Grund. Astrid und Immo stapfen am Rand des Rinnsals entlang,
das quer durch den abgelassenen Karpfenteich von Mücka in der Oberlausitz
läuft. Die Sonne hat die Oberfläche des Schlamms grau verfärbt, auf der
dünnen, hellen Schicht zeichnen sich die Spuren eines leichtfüßigen Tieres
ab. Nur die Krallen und Mittelhandballen sind eingesunken, die wie mit
schwarzem Schlick auf den hellen Grund gezeichnet scheinen.
Immo und Astrid beugen sich über die Spur. Sie ahnen, wer hier sprang, doch
sie gehen nun schon lange genug auf die Pirsch nach Fährten, um zu wissen,
dass ihnen vorschnelle Schlüsse nicht helfen. Wenn sie sich bei den Spuren
zu früh festlegen, lesen sie eben nicht die Zeichen, sondern folgen
Vorannahmen. So wie damals im Schnee. Feine Röhren löcherten den Neuschnee
im Wald, bestimmt 20 Zentimeter tief, ganz unten der Fußabdruck, nur ein
Loch im Schnee, kaum beleuchtet vom fahlen Winterlicht. Klar, ein Reh, wer
sonst sollte hier so grazil langgestapft sein?
War es aber nicht. Von Röhre zu Röhre gemessen, Länge, Breite, Abstand und
Gangart erzählten den Spurenlesern, dass ein Fuchs mit schlankem Fuß hier
gesprungen war. Astrid legt also auch im Schlamm des Karpfenteiches den
Zollstock an, misst den Abdruck von Ballen bis Krallen, nimmt Länge und
Breite der Spur, reicht den Zollstock an Immo, ein paar Meter entfernt, um
gemeinsam den Abstand zwischen den Abdrücken einer Gruppe von Trittsiegeln
messen zu können.
Die Zeichen der Natur werden zu Daten, fügen sich zu einer Idee, geben der
Ahnung eine Basis. Aus der Vermutung entsteht vor dem geistigen Auge der
Fährtenleser ein Tier. Und dann steigt aus dem Schlamm das Bild eines
Fischotters auf, der über den Grund des abgelassenen Teiches springt, auf
seine Fischotterart diagonal über den Boden zu schweben scheint, am Ende
des Wasserlaufs neben dem Abflussrohr auf die Böschung springt, mit zwei,
drei Sätzen durch das Gras gleitet und auf der anderen Seite des Dammes
verschwindet.
## Zweisprung über den Waldweg
„Beim Spurenlesen erwacht die Umgebung zum Leben“, sagt Astrid, die mit
Immo und 17 weiteren Frauen und Männern seit einem Jahr an der
„Wildnisschule Wildniswissen“ lernt, Fährten zu lesen. Außerhalb des
Karpfenteichs leitet Astrid die Schulverwaltung von Backnang, einer
Kreisstadt in Baden-Württemberg.
Immo bezeichnet sich als „Schrat“, weil er Stunde um Stunde im Wald rund um
seine Heimatstadt verbringt, Kotwürstchen, Fußabdrücke und Haare von
Wildkatzen sammelt. Mit den Zeichen hat er herausgefunden, wo die
Wildkatzen mit ihren Jungen wohnen. Die meisten Wildbiologen brauchen dafür
einen Sender, den sie einem Tier umhängen, um den elektronischen Signalen
folgen zu können. Immo macht allerdings einen vernünftigen und nicht völlig
verschrobenen Eindruck, was ihm seine Stellung als Leiter der Jugendarbeit
der Evangelischen Kirche in Vallendar sichert.
Der Ruf von Rohrdommel und Rothirsch hat außerdem einen Finanzdienstleister
zu den Fährtenlesern der Wildnisschule getrieben, einen
Bausachverständigen, eine Biologin. Zahnarzt, Lehrerin, Student,
Sozialpädagogin, Journalistin, alle wollen wissen, ob in einer Höhle ein
Dachs lebt oder ein Fuchs, ob hier ein Reh lag und dort ein Hase, ob auf
dem Baumstumpf der Habicht rupfte oder ein Bussard, wer im Zweisprung auf
dem Waldweg jagte und wer mit den großen Paarhufen über den Acker
galoppierte.
## „Das Gehirn dockt wieder an“
„Neulich“, wie Wolfgang Peham, Gründer der Wildnisschule, sagt, sicherte
dieses Wissen das Überleben der Menschen. Nur weil sie den Zeichen und
Spuren folgen, finden sie Wasser, Hirsche, essbare Pflanzen. „Neulich“ ist
schon ein paar Hundert oder ein paar Tausend Jahre her, aber Peham hat
schon so vielen Leuten das Spurenlesen gezeigt, dass er weiß: „Das Gehirn
dockt wieder an.“ Zeit ist in der Natur sehr relativ.
Ein bisschen zivilisatorische Tünche trennt Mensch und Natur, aber die
Fähigkeit, aus Krallen- und Ballenabdrücken die Geschichten von Tieren zu
lesen, hat auch der Mensch mit Smartphone nicht verlernt.
Vom Hufabdruck zum Buchstaben war es ein langer Weg, aber die Fähigkeit,
Zeichen zu kombinieren und Geschichten zu lesen, beherrscht das menschliche
Gehirn noch immer. Vor dem Seßhaftwerden mit Acker und Stall waren die
Menschen davon abhängig, die Spuren der Tiere zu erkennen und danach zu
handeln. Aus den Abdrücken, Fraßspuren, Liegestellen lasen sie Geschichten
und erzählten sie den anderen in ihrem Clan mit Händen und Füßen, solange
sie keine Worte hatten und nur Laute aus ihren Kehlen drangen. Nicht nur
die Schrift entstand im Sand. Vermutlich hat der Mensch lange davor die
Sprache entwickelt, um seinen Leute erzählen zu können, wo die besten
Jagdgründe sind.
## Muster und Lösungen
„Das Spurenlesen hilft mir, auch im Job Muster zu erkennen und Lösungen zu
finden“, sagt Astrid, die in der Schulverwaltung für 140 Mitarbeiter
verantwortlich ist. Auch Fährtenlesen beschäftigt den Kopf bis ins
Reptilienhirn. Aber das Meditieren über die Hinterfußzehenstellung beim
Marder und die Drehung im Fuchskot entspannt den vom Computer strapazierten
präfrontalen Kortex, der die Hochkonzentration im Job sichert. „Die Spur
bringt mich ins Hier und Jetzt“, sagt Astrid. „Ich kann nicht über den
Bürokram nachdenken und gleichzeitig in der Fährte sein.“
„Spurenlesen verbindet uns mit der Natur und mit uns selbst“, sagt Joscha
Grolms, der professioneller Fährtenleser an der Wildnisschule ist. Um zu
lesen, müssen die Spurenschüler erst mal die Zeichen verstehen. Grolms
erklärt ihnen die Fußmorphologie von Mauswiesel, Eichelhäher und Waldmaus,
macht mit staksigen Beinen und gestreckten Armen den übereilten Trab des
Waschbären vor, hält seinen Schülern die Kotpillen von Rothirsch und
Damhirsch unter die Nase und reicht einen blanken Fuchsschädel herum, damit
sie Schädelkamm und Raubtiergebiss befühlen. Vor rund zehn Jahren, mit
Anfang 20, hat Grolms in einer Gruppe ein Jahr lang in den Wäldern von
Wisconsin verbracht und sich von den Früchten und Tieren der Wildnis
ernährt. Der Hunger brachte ihn dazu, die Wege der Hasen im Dunkeln zu
finden.
Sein Können ist gefragt, seitdem Luchs und Wolf auch durch Deutschland
streifen. Nur erfahrene Fährtenleser können die Spuren von Hunden und
Wölfen zweifelsfrei unterscheiden und erkennen, wo sich die Wölfe bewegen.
Hund und Wolf sind sich auch 15.000 Jahre nach der Hundwerdung so ähnlich,
dass Laien nicht erkennen können, ob ein Wolf durch den Waldkindergarten
lief oder ein großer Hund. Die Technik des Spurenlesens ist kaum noch
Bestandteil der Jagdprüfung. Joscha Grolms und Wolfgang Peham bilden daher
auch die staatlichen Wolfsbetreuer in Fährtenkunde aus.
## Die Wolfsbetreuer
Die Wölfe ziehen aus ihrem ersten Siedlungsgebiet Lausitz in Deutschland
nach Norden und Westen. Sie können überall auftauchen, was sie zum
Entsetzen so manchen Landbewohners auch tun. Dann sollen die Wolfsbetreuer
erkennen, ob ein großer Haufen Kot am Dorfrand und die zehn Zentimeter
langen Fußabdrücke von einem Wolf stammen oder einem Schäferhund. Im
Frühjahr strolchten große Tiere durch Gärten und Wohnsiedlungen am Rande
von Dörfern in Niedersachsen, mehrere mutmaßliche Wölfe begleiteten eine
Spaziergängerin und ihren Hund aus dem Wald, ein Jäger gab Ostern zu
Protokoll, von einem Wolf angegriffen worden zu sein. Die Wolfsbetreuer
untersuchten die Spuren, fast immer waren es aber doch Hunde.
„Spuren sagen mehr aus über die komplexen ökologischen Zusammenhänge als
einzelne Daten“, sagt Grolms, lässt seinen Blick über die steppenähnliche
Tagebaufolgelandschaft der Lausitz schweifen; die Augen zusammengekniffen,
späht er unter dem Filzhut auf seinen braunen Locken hervor, das linke Bein
aufgestellt, das rechte kniet auf dem spärlich bewachsenen Sand.
Auf der Innenfläche seiner linken Hand liegen zwei schwarze, längliche
Krümel, jeder einzelne nicht einmal einen Zentimeter lang, die Grolms unter
Grashalmen hervorgeholt hat. Mit dem rechten Zeigefinger zerbröselt er die
Krümel und deutet auf die zernagten Reste von Pflanzenteilen in der Losung.
„Typisches Wühlmausfutter“, erklärt er den Fährtenschülern, zerbröckelt
weiter und fixiert die offenen Kötel. „Es ist halt Gras“, sagt er
schließlich mit strahlenden grünen Augen und freut sich, dass er den
Grundschülern der Fährtenkunde die Nahrung der Feldmaus zeigen kann, ohne
dass sie das Tier treffen.
Fährtenleser stoßen immer wieder an ihre Grenzen. Die Spuren sind unzählig,
vielfältig, immer wieder neu, und nicht alle Zeichen fügen sich zu
Geschichten. So stehen Astrid, Immo und selbst Joscha Grolms ratlos vor
einem Ameisenhaufen auf einem Damm zwischen den Karpfenteichen der Lausitz.
„Wer hat die Grünspechtkacke runtergeworfen?“, fragt einer, leicht
verschratet.
15 Jul 2015
## AUTOREN
Ulrike Fokken
## TAGS
Lausitz
Tierwelt
Natur
Wildtiere
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Tierschutz
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Bären
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