# taz.de -- Brandenburg überprüft Kriminalstatistik: Neonazis sind doch recht… | |
> Straftaten durch Neonazis wurden oft nicht als solche eingestuft. Nun | |
> erkennt das Land doppelt so viele Todesopfer durch rechte Gewalt an. | |
Bild: Friedlich unter Polizeiaufsicht: Neonazis demonstrieren in Neuruppin | |
BERLIN/POTSDAM taz | Am 7. Oktober 1990 wird der Pole Andrzej Fratczak in | |
einer Diskothek in Lübbenau (Brandenburg) von drei jungen Deutschen | |
verprügelt und durch einen Messerstich tödlich verletzt. Wie der | |
Disko-Besitzer in seiner Vernehmung aussagt, trug einer der Täter ein | |
Adolf-Hitler-T-Shirt. Nach der Attacke habe er sich damit gebrüstet, dass | |
das Opfer ein Pole sei, der, so die Schilderung, „ein bisschen ausbluten | |
muss“. Zwei Jahre später beteiligen sich zwei der Täter an einem | |
Massenangriff auf eine Flüchtlingsunterkunft. | |
Dennoch: Polizei und Justiz werteten den Tod von Fratczak als Folge einer | |
unpolitischen Tat. Dem widerspricht eine Studie des Potsdamer | |
Moses-Mendelssohn Zentrum (MMZ), die am Montag vorgestellt wurde. | |
Die 2013 vom damaligen Innenminister und heutigen Ministerpräsidenten | |
Dietmar Woidke (SPD) in Auftrag gegebene Untersuchung ermittelte insgesamt | |
neun Fälle, die nun der Statistik hinzugefügt werden müssen. In Brandenburg | |
starben demnach seit der Wiedervereinigung 18 Menschen durch rechtsextreme | |
Gewalt. Das sind doppelt so viele wie bisher gezählt. In 15 weiteren Fällen | |
hatten die Täter zwar eine rechte Gesinnung, der Bezug zu den Taten konnte | |
jedoch nicht zweifelsfrei festgestellt werden. | |
Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) sagte, die aufgearbeiteten Fälle | |
könnten nun „dem Vergessen entrissen werden“. Sie sollen dem | |
Bundeskriminalamt (BKA) nachgemeldet werden. Konsequenzen haben die Täter | |
durch die neue Bewertung nicht zu befürchten. Ein Wiederaufnahmegrund liege | |
für die Verfahren nicht vor. Der Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums, | |
Julius Schoeps, nannte die Ergebnisse „unbequem für Innenbehörden, Polizei | |
und Justiz“. | |
## Wirren der Nachwendezeit | |
Eine systematische oder bewusste Fehldeutung habe es nicht gegeben, hieß es | |
am Montag. Die Wertungen seien den Wirren der Nachwendezeit geschuldet. Als | |
Beweis gelte auch, dass nur Fälle beanstandet wurden, die sich bis 2001 | |
ereigneten. | |
2013 hatte das Bundeskriminalamt auf Bundesebene ebenfalls eine Revision | |
möglicher rechtsextremer Tötungsfälle angeordnet – als Reaktion auf die | |
NSU-Mordserie. Dafür überprüften das BKA und die Länderpolizeien 745 | |
versuchte oder vollendete Tötungsdelikte zwischen 1990 und 2011, davon 628 | |
ungeklärte. Dafür fragten sie nach der Herkunft der Opfer, ihrer Religion | |
oder politischen Einstellung. Ergebnis: Kein einziger Fall wurde neu als | |
rechtsextrem motiviert eingestuft. | |
Laut BKA wird aber „in Einzelfällen“ auf Landesebene weitergeprüft. Ende | |
2014 erkannte die Polizei den Fall des Leipzigers Thomas K. nachträglich | |
an. Der 16-Jährige war 2003 von einem Neonazi in ein Gebüsch gelockt und | |
erstochen worden. Das rechte Motiv, erklärte das sächsische | |
Innenministerium, habe sich erst durch das Urteil ergeben. Der Polizei sei | |
es nicht bekannt gewesen. | |
## Externe Überprüfung | |
Mit den Brandenburger Fällen und Thomas K. sind nun bundesweit 73 | |
Todesfälle durch rechte Gewalt anerkannt. Unabhängige Initiativen sprechen | |
von mindestens 150 Toten. Nach der Brandenburger Studie werden nun Stimmen | |
laut, Tötungsdelikte auch andernorts in Deutschland extern überprüfen zu | |
lassen. | |
„Die Statistik der Bundesregierung stapelt tief und beschönigt die | |
rechtsextreme Gefahr“, kritisiert die Linken-Innenexpertin Petra Pau. | |
Deshalb brauche es für alle Länder externe Expertengremien. Andernfalls | |
sollten die Zahlen der unabhängigen Amadeu-Antonio-Stiftung offiziell | |
anerkannt werden. | |
Auch die Grüne Monika Lazar fordert eine „bundesweite unabhängige | |
Neuprüfung aller Altfälle“. Den Sicherheitsbehörden fehle bei rechter | |
Gewalt „Sensibilität und Fachkompetenz“, auch sei ihre Aufarbeitung „vö… | |
intransparent“. SPD-Innenexpertin Susann Rüthrich plädiert für eine | |
Stärkung der unabhängigen Initiativen, die sich mit rechter Gewalt | |
befassen. „Ihre Expertise sollte auch andernorts von den offiziellen | |
Stellen aufgegriffen und anerkannt werden.“ | |
30 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
Erik Peter | |
## TAGS | |
Rechtsextremismus | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
Gewalt | |
Schwerpunkt Neonazis | |
Mittelalter | |
Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan | |
North Charleston | |
Flüchtlinge | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Computer-Rollenspiel „The Witcher 3“: Da geht schon mal was kaputt | |
„The Witcher 3“ zeigt auch die idyllischen Seiten des Mittelalters und | |
fragt so: Ging‘s von 500 bis 1500 wirklich nur ums Saufen, Huren und | |
Prügeln? | |
Schwulen- und Lesbendemo in Istanbul: Behörden rechtfertigen Polizeieinsatz | |
Wasserwerfer, Tränengas, Gummigeschosse: Nach der Gewalt gegen Teilnehmer | |
der Gay Pride in Istanbul hält die Polizei das Vorgehen für angemessen. | |
Nach dem Attentat von Charleston: „Wir antworten nicht mit Gewalt“ | |
Neun afroamerikanische Gottesdienstbesucher hat Dylann Roof ermordet. Doch | |
sein Ziel, die Aufwiegelung der Stadt, ist gescheitert. | |
Flüchtlingscamp in Dortmund: „Methoden wie in der Nazizeit“ | |
Flüchtlinge fordern die schnellere Bearbeitung ihrer Asylanträge. Am ersten | |
Abend versuchten Neonazis, das Camp anzugreifen. |