# taz.de -- Nach dem Attentat von Charleston: „Wir antworten nicht mit Gewalt… | |
> Neun afroamerikanische Gottesdienstbesucher hat Dylann Roof ermordet. | |
> Doch sein Ziel, die Aufwiegelung der Stadt, ist gescheitert. | |
Bild: Zeichen der Selbstbehauptung: Vier Tage nach der Bluttat mit neun Toten b… | |
CHARLESTON taz | Dieselben spitzen Kirchtürme, die über den niedrigen | |
Häusern an jeder dritten Ecke in den Himmel stechen. Dieselbe schwüle | |
Hitze, die den Körper einhüllt. Dieselben Touristenströme, die sich durch | |
die historische Altstadt und den überdachten Markt wälzen. Dieselben | |
Straßennamen und Denkmäler, zu Ehren der Sklavenhalter und Rassentrenner | |
der Stadt. | |
Und dennoch ist Charleston anders. Fremde Menschen liegen sich in den | |
Armen. Drücken sich lang und fest. Sagen einander: „I love you“, sprechen | |
von „Einheit“ und „Zusammensein“ und von „Vergeben“. Niemand hat si… | |
diesen Überfluss an Liebe gebeten. Am wenigsten der junge weiße Mann, der | |
am Mittwochabend mit dem Ziel in ihre Kirche gekommen ist, Terror zu | |
stiften. Er hat sechs schwarze Frauen und drei schwarze Männer erschossen. | |
Hat sie in ihren letzten Momenten mit den hässlichsten rassistischen | |
Schimpfworten bedacht und hat eine Frau überleben lassen, „damit sie alles | |
erzählen kann“. | |
In den Monaten vor seiner Tat hat der 21-jährige Dylann Roof Freunden, die | |
nicht glaubten, dass er es ernst meint, erzählt, er wolle die „weiße Rasse | |
rächen“. Als man ihn fasste, wurde eine mit „The Last Rhodesian“ | |
gezeichnete Seite im Internet bekannt, die er gemacht haben soll. Sie | |
enthält ein Manifest, das von langer Vorbereitung zeugt. Roof hat demnach | |
seit 2012, als der gewaltsame Tod des Afroamerikaners Trayvon Martin in | |
Florida landesweite Proteste auslöste, über seine Tat nachgedacht. | |
Er wählte das eineinhalb Autostunden von seinem Wohnort entfernte | |
Charleston, weil es einst die größte schwarze Bevölkerung der USA hatte. | |
Für die „Emanuel African Methodist Episcopal (AME)“-Kirche entschied er | |
sich, weil sie die älteste schwarze Gemeinde der Südstaaten ist. | |
## Manifest voller Hass | |
Das Manifest ist garniert mit Fotos, auf denen Roof posiert - mit einer | |
Schusswaffe, beim Verbrennen einer US-Fahne und beim Schwenken einer | |
kleinen Confederate-Fahne. Unter dieser Fahne verteidigten die Südstaaten | |
im Bürgerkrieg die Sklaverei. 152 Jahre nach ihrer Niederlage benutzen | |
weiße Rassisten diese Fahne als Symbol. | |
Jeder in Charleston kennt jemanden, der Angehörige der Opfer kennt. Die | |
neun waren das Herz ihrer Gemeinde. Sie waren bibelfest - und zugleich in | |
der Welt engagiert. Ihr Pastor, der 41-jährige Clementa Pickney, war in | |
vielen sozialen Bewegungen aktiv. Als demokratischer Abgeordneter im zwei | |
Autostunden entfernten Columbia, der Hauptstadt von South Carolina, galt er | |
außerdem als das Gewissen des Senats. | |
Bei seiner letzten parlamentarischen Arbeit ging es um eine stärkere | |
Kontrolle der Polizisten. Nachdem im April ein weißer Polizist in North | |
Charleston einen Afroamerikaner mit Schüssen in den Rücken getötet hatte | |
und ein Video der Szene um die Welt ging, erreichte Pickney im Senat, dass | |
Polizisten in South Carolina künftig Kameras am Körper tragen müssen. | |
## Geistlicher und Bürgerrechtler | |
„Er hatte das Zeug, eines Tages Gouverneur von South Carolina zu werden“, | |
sagt Nelson B. Rivers. Wie der Ermordete hat auch der 65-Jährige die | |
Doppelfunktion als Geistlicher, in seinem Fall in einer Baptistengemeinde, | |
und als Bürgerrechtler. Kurz vor Pickneys Tod witzelten die beiden Männer | |
darüber, wie einfach es war, das Gesetz über die Körperkameras | |
durchzusetzen. Als am Mittwochabend die ersten Nachrichten über den Terror | |
in der Kirche kamen, hoffte Rivers, dass sein Freund nach der Sitzung des | |
Senats in Columbia geblieben wäre. | |
Bei den Gedenkveranstaltungen und Mahnwachen für ihn sagt Rivers über die | |
afroamerikanische Community: „Wir antworten nicht mit Gewalt. Nur jemand, | |
der uns nicht kennt, kann etwas anderes erwarten“. Er ist überzeugt, dass | |
die Reaktion entgegengesetzt wäre, wenn ein schwarzer Mann in eine weiße | |
Kirche gegangen wäre, um dort zu morden. Rivers sagt: „Dann könnte sich | |
jetzt keine schwarze Person in Charleston mehr auf die Straße trauen“. | |
Die Morde in der Kirche haben Charleston mit zwei Grundübeln konfrontiert: | |
Rassismus und Waffenfanatismus. Doch die Aufwiegelung von schwarzen | |
Charlestonians, die der 21-Jährige Täter nach eigenem Bekunden beabsichtigt | |
hat, ist misslungen. Die Tausende, die seit der Gewalttat zu der AME-Kirche | |
pilgern, suchen vor allem Trost und Frieden. Sie sind traurig. Aber Wut auf | |
den Täter zu haben weisen die meisten weit von sich. | |
## Keine Befürworter der Todesstrafe | |
Selbst über dessen Bestrafung machen sie sich keine Gedanken. Während die | |
radikal rechte Gouverneurin des Bundesstaates, Nikki Haleym wünscht, dass | |
er zum Tode verurteilt wird, sagen die Menschen vor der Kirche: „Über seine | |
Strafe muss Gott entscheiden“. Die meisten von ihnen sind keine Befürworter | |
der Todesstrafe. | |
Cheryl Lawrence war mit dem Geistlichen Daniel Simmons befreundet, der | |
ebenfalls ermordet wurde. „Es tut sehr weh“, sagt sie. „Aber wir sind | |
stark: körperlich und moralisch. Wir mögen nicht viel Geld haben, aber wir | |
haben ein Ziel im Leben. Und den Geist des Herrn mit uns.“ Rajeeyah | |
Mujahid, die in ihrer Jugend vom Christentum baptistischer Prägung zum | |
Islam übergetreten ist, reagiert ähnlich: „Wir müssen uns lieben und | |
respektieren.“ Sie dachte sofort, dass der Mörder „die Rassen spalten und | |
gegeneinander aufhetzen wollte“. Beide Frauen haben Rassismus erfahren: | |
dass sie Jobs nicht bekamen, Getuschel. Und die Mahnungen ihrer Mütter: | |
„Guck einem Weißen nie in die Augen!“ | |
„Holy City“ ist der Spitzname von Charleston - heilige Stadt. Gewöhnlich | |
beten die Menschen nach Hautfarbe, sozialer Zugehörigkeit und Konfession | |
getrennt. Doch seit Mittwoch sind die Gläubigen aus ihren Bethäusern heraus | |
und beten in Parks, auf Straßen und vor allem vor der AME-Kirche. Bis | |
Samstag haben die Ermittler im Inneren der Kirche nach Spuren gesucht. | |
Unterdessen ist das Trottoir davor zu einem Pilgerort geworden. Täglich | |
türmen sich Tausende von Rosen. | |
## Gebete, Gospels und Umarmungen | |
Tag und Nacht kommen Menschen, sie singen Gospels, fassen mit verschränkten | |
Armen die Hände ihrer Nachbarn. Schwingen sich sanft hin und her oder | |
verharren in langen Umarmungen. Die Mehrheit sind Afroamerikaner. Aber die | |
meisten sichtbaren Tränen laufen über die weißen Gesichter. Die Straße, an | |
der die Kirche liegt, ist nach einem der „Gründerväter“ aus South Carolina | |
benannt: Calhoun, einem Sklavenhalter und Verteidiger der Sklaverei. | |
Charleston, mit rund 120.000 Einwohnern am Atlantik gelegen, ist eine | |
reiche Stadt. Das Geld hat sie ihrem Seehafen zu verdanken, durch den mehr | |
als 260.000 verschleppte Afrikaner in das Land kamen. Zwischen 40 und 60 | |
Prozent aller Sklaven kamen über Charleston. Ihre erste Station war die | |
Quarantäne auf der Sullivan-Insel vor der Stadt. | |
Dort erinnert bis heute nur eine von der Schriftstellerin Toni Morrison | |
gestiftete Bank an das Verbrechen. In der Stadt, in der an zahlreichen | |
Kreuzungen Menschen auf Blocks gestellt und versteigert wurden, heißen die | |
Straßen nach Königen und Königinnen der alten Kolonialmacht oder nach | |
Plantagenbesitzern und Politikern, die die Sklaverei verteidigten. Die | |
Geschichte der schwarzen Charlestonians, die im 19. Jahrhundert mehr als 50 | |
Prozent der Stadtbevölkerung stellten, ist bis heute kaum geschrieben. | |
## Unbekannte Geschichte des Sklavenhandels | |
Eine dieser Geschichten handelt von Denmark Vesey, einem Mitgründer der | |
AME-Gemeinde im Untergrund. 1822 wurde er hingerichtet, weil er eine | |
Sklavenrevolte organisieren wollte. Bis heute ist er nirgends im Stadtbild | |
präsent. Nach Vesey wurde keine Straße benannt, und er kommt im Unterricht | |
genauso selten vor wie der Sklave Robert Smalls, der im Bürgerkrieg ein | |
Schiff der Konföderierten von Charleston zu den Truppen der Nordstaaten | |
navigierte. | |
Für die Touristen, die zu Lande oder auf Kreuzfahrtschiffen kommen, | |
schrumpft die afroamerikanische Geschichte auf geflochtene Körbe, auf Musik | |
und Tänze und auf einen Dialekt zusammen, der letzte westafrikanische | |
Elemente enthält. Einzige Ausnahme ist ein winziges Museum unter den Palmen | |
in der Chalmers Street. „Ryans Mart“ war von 1856 bis zu Abschaffung der | |
Sklaverei im Jahr 1865 der letzte Verkaufsplatz für Menschen in Charleston. | |
Weil sich Bürger über die Belästigung durch den öffentlich Verkauf beklagt | |
hatten, verlegte Ratsherr Ryan das Geschäft hinter verschlossene Türen. An | |
manchen Tagen versteigerte er an die Hundert Menschen. | |
Zwei Tage nach den Morden in der Kirche verspricht der weiße Bürgermeister | |
Joseph Riley, der Charleston seit 1975 leitet, dass er die Arbeit an dem | |
lang geplanten Internationalen Afroamerikanischen Museum nun beschleunigen | |
will. Es soll an dem Kai entstehen, über den Tausende Menschen in Ketten | |
kamen. Einen Raum darin will der 72 Jahre alte Riley nun dem ermordeten | |
Pastor widmen. | |
## Die Fahne soll verschwinden | |
Viele in Charleston hoffen, dass dies nicht die einzige Reaktion bleibt. | |
Für jene, die nicht nur beten, sondern die mit politischen Zielen auf die | |
Straße gehen, stehen zwei Forderungen im Vordergrund: Die Fahne der | |
Konföderierten, die immer noch am State House in Columbia weht, soll im | |
Museum verschwinden. Schusswaffen sollen stärker kontrolliert werden. | |
Am Samstagabend ziehen mehrere Hundert junge Leute durch die Market Street | |
zu einem protzigen Gebäude in der Innenstadt von Charlston. Es ist der Sitz | |
der „Töchter der Konföderierten“ - die ebenfalls trotz der Niederlage ihr… | |
Lagers im Bürgerkrieg ihre Position in der lokalen Gesellschaft bis heute | |
verteidigt haben. „Gegen den weißen Terrorismus“ steht auf Transparenten. | |
Und: „Es ist unsere Pflicht, uns gegenseitig zu lieben und zu verteidigen.“ | |
Die 75-jährige Louise, die schon 1969 bei einem legendären Streik von 12 | |
schwarzen Krankenschwestern gegen ungleiche Löhne mitgemacht hat, geht in | |
vorderster Reihe. Auf ihrem Schild steht: „Schwarze Leben zählen“. | |
22 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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