# taz.de -- Referendum in Griechenland: „Uns bleiben drei Tage“ | |
> Am Sonntag stimmt Griechenland über weitere Sparpläne ab. Wie Athens | |
> Politgruppen auf der Straße versuchen, zu überzeugen. | |
Bild: Vorbereitungsarbeiten für das Referendum am Sonntag. | |
ATHEN taz | Fünf Stunden, bevor Griechenland in der Nacht auf Mittwoch ganz | |
offiziell das Geld ausgeht, kündigen Wind und dunkle Wolken Regen an. Auf | |
den Treppen der U-Bahn-Station des zentralen Syntagma-Platzes steht ein | |
einsamer Angestellter der Verkehrsbetriebe, aus seiner Uniform brüllt er an | |
gegen die Sprechchöre Tausender, er rudert mit den Armen, sie sollen diese | |
Treppe nicht benutzen, damit die entgegenkommenden Menschen den Bahnsteig | |
erreichen können. | |
Doch die Leute ignorieren ihn. Wie ein kalbender Gletscher, | |
zentimeterweise, schiebt sich die Masse aus allen Ausgängen. Die Menschen | |
draußen begrüßen sie klatschend. Fast alle tragen an diesem Abend | |
EU-Fähnchen, einige haben ein Exemplar in der Größe eines Busses genäht. | |
Wie eine Osterprozession schleppen sie sie über ihren Köpfen vor dem | |
Parlamentsgebäude auf und ab. Polizisten stehen an der Seite, sie tragen | |
Gurte mit Tränengaskartuschen auf der Brust. Aber die werden sie heute | |
nicht brauchen. Die Freunde der Haushaltsdisziplin neigen nicht zu Krawall. | |
## Ja zum „Nai“ | |
Die Demonstranten tragen Anzüge, Krawatten, Kleider, Schmuck. Oberschicht. | |
Sie rufen im Chor nach Tsipras Rücktritt und recken ihre Fäuste in Richtung | |
des rosafarbenen Parlaments, als stünde der ungeliebte Ministerpräsident | |
dort auf der Balustrade. Der Regen setzt ein. Aus der Menge ragt ein Plakat | |
mit der Aufschrift „Don‘t Varoufuck Greece“, der Träger, ein Mittvierzig… | |
hat seinen weißen Polokragen hochgestellt. Er spricht Englisch, als habe er | |
in Großbritannien studiert. „Wir hoffen, dass die Rationalität siegt“, sa… | |
er. Es sei die dritte Demo dieser Art, an der er teilnimmt. „Tsipras macht | |
dieses Land kaputt. Was er vorhat, führt ins totale Chaos.“ | |
Was ist mit den Armen, den Kranken, den Rentnern? Er schüttelt den Kopf. | |
„Gerade wegen ihnen müssen wir im Euro bleiben,“ sagt er. „Wir können n… | |
in Europa überleben, nirgendwo sonst. Wenn wir uns nicht mit Brüssel | |
einigen, geht dieses Land kaputt.“ Er arbeite im öffentlichen Dienst, er | |
sagt das so, als unterstreiche das seine Überzeugung: Er, der vom Staat | |
lebt, geht auf die Straße, damit dieser seine Ausgaben zügelt. | |
Rechtspfleger sei er, bei einem Gericht in Athen. Er und seine Freunde | |
mögen nicht nur Tsipras nicht, sondern auch sonst keine Parteien. Wie | |
Synchronschwimmer schütteln sie den Kopf. Nein, keine Partei habe zu dieser | |
Demo aufgerufen. „Alles selbstorganisiert. Über das Netz. Facebook und so“, | |
sagt eine Frau. | |
Eine große Freundin von Parteien ist auch Olga Lafazani nicht. Einen Tag | |
nach der „Ja zum Ja“-Demo steht die Aktivistin des Diktio-Netzwerks vor | |
einem alternativen Zentrum im Athener Anarcho-Stadtteil Exarhia. Wie die | |
meisten hier trägt die junge Frau schwarz, ihre Locken hat sie | |
zusammengebunden. Pausenlos ist sie in diesen Tagen auf Versammlungen, | |
spricht vor Nachbarschaftskommitees, verteilt Flugblätter. „Komm‘ mit | |
rauf,“, sagt sie jetzt. „Die Versammlung ist wichtig.“ Sie könne ins | |
Englische übersetzen. Ernsthaft? „Es ist jetzt wie im Krieg. Da redet man | |
sowieso nicht lange.“ | |
## Hilfe für die Regierung | |
Seit der letzten Nacht ist Griechenland Pleite, in den Straßen Exarhias ist | |
davon nichts zu spüren. Am frühen Abend sind die Bars brechend voll, nur | |
wenig Polizei ist in den Straßen rund um den als aufgezogen. Das Stadtteil | |
gilt jeher als aufrührerisch. Seit Jahrzehnten versammeln sich die | |
Diktio-Leute in dem Zentrum in der Tsamadou-Gasse, mit dem orangefarbenen | |
Licht und den Stuckdecken, sitzen an den abgewetzten grünen Schultischen | |
und überlegen, wie sie die Verhältnisse umstürzen können. Diktio ist eine | |
der wichtigsten Sammlungsbewegungen der Linken, antiautoritär, in | |
Griechenlands anarchistischer Bewegung gleichermaßen verwurzelt wie in | |
marxistischen Kreisen. Kaum eine politische Auseinandersetzung, in die sie | |
sich nicht eingemischt hätte. Doch was heute auf der Agenda steht, ist neu: | |
Hilfe für die Regierung. | |
Etwa dreißig Menschen haben sich an den meterhohen „Oxi“-Flugblattstapeln | |
vorbei die kleine Treppe hoch gedrängt. Offiziell mobilisieren sie für ein | |
Nein. Doch unumstritten ist die Parteinahme für Syriza auf Seiten der | |
Linken nicht: „Das ist der größte Klassenkonflikt seit 40 Jahren in | |
Griechenland“, sagt der Versammlungsleiter. So sei die Lage: „Die Armen | |
haben Angst vor neuen Sparrunden, die Mittel- und Oberschicht will | |
kooperieren.“ Aber lässt man sich deshalb mit den Herrschenden ein? | |
Nach der Bankenschließung ist die Zustimmung für Tsipras Kurs auf unter 50 | |
Prozent gefallen. Auch manche Linke trauen Syriza nicht zu, eine | |
Staatspleite zu händeln. Die Lage bereitet der Versammlung Kopfzerbrechen. | |
Sie wisse auch nicht, was nach einem ‚Nein‘ passieren wird, sagt Lafazani | |
nach einer Weile. Doch ein neues Memorandum sei keine Alternative. „Uns | |
bleiben drei Tage. Wir müssen alles tun, um die Leute zu überzeugen. Auch | |
die Elite setzt alles ein, was sie hat.“ Die Anwesenden nicken bedächtig. | |
## Nein zu „Nai“ und „Oxi“ | |
Im Gegensatz zu den Diktio-Leuten boykottiert die Kommunistische Partei das | |
Referendum. „Tsipras redet schließlich immer noch mit der EU“, sagt einer | |
am Tisch. „Er hat selbst gesagt, dass er ein ‚Nein‘ nur benutzen will, um | |
danach weiter zu verhandeln“, sagt er. Soll man ihm dabei auch noch helfen? | |
„Das Worst-Case-Szenario ist doch: Er kriegt sein ‚Nein‘, handelt kleine | |
Zugeständnisse aus, und alles geht weiter wie bisher.“ Am Ende werden die | |
Bedenken zurück gestellt. Auch die nächsten 72 Stunden wirbt Diktio | |
weiterhin dafür, Tsipras‘ Aufruf zu folgen. | |
„Wir sind nicht seine Fans“, sagt ein junger Mann namens Nasim nach dem | |
Ende der Versammlung. „Wir sind bei Syriza, wenn sie gutes tun und gegen | |
sie, wenn sie schlechtes tun.“ Wie der Staat mit den Migranten umgehe, mit | |
seinen Gefangenen, wie die Polizei sich aufführe, „das ist keine linke | |
Politik.“ Das Referendum schon. Und wenn das Volk sich für die Opposition | |
entscheidet, die jede Auflage der Troika annehmen will? „Ohne Risiko gibt | |
es keine Veränderung“, sagt Nasim. | |
## Ja zum „Oxi“ | |
48 Stunden vor dem Referendum hat die Syriza-Ortsgruppe des Athener | |
Stadtteils Dafni ein Tischchen auf dem Platz vor einer U-Bahn-Station | |
aufgebaut. Fast 40 Prozent haben hier im Januar für Tsipras gestimmt. Die | |
Bäume blühen fliederfarben, Despina Lagda hat ihre Accessoires farblich | |
offenbar darauf abgestimmt. Die ganze Woche ist die Partei-Aktivistin schon | |
hier, mit einem arbeitslosen Mathematiker und einer pensionierten | |
Lufthansa-Angestellten drückt sie den Passanten Flugblätter in die Hand. | |
Lagda hat Zeit. Aufträge habe sie durch die Rezession kaum noch, sagt die | |
Buchhalterin. Mit ihrer 11-jährigen Tochter lebt sie von der Pension ihrer | |
pflegebedürftigen Mutter. Fast alle hier sind in einer der vielen | |
Sozialinitiativen engagiert, die aus dem Syriza-Umfeld entstanden sind. | |
Die meisten Passanten nehmen die „Oxi“-Flugblätter schweigend entgegen, von | |
Zeit zu Zeit fängt einer an zu diskutieren. „Sie sind selber arm und | |
wollen, dass wir noch mehr sparen“, sagt eine der Syriza-Frauen und tippt | |
sich an die Stirn. Die Flugblatt-Verteilung sei „ein Kampf gegen die | |
Propaganda“ der Rechten, sagt Lagda. Die kontrollierten die Medien. „Jetzt | |
zeigen sie plötzlich die Schlangen mit den Rentnern vor den Bankautomaten. | |
Aber die alten Leute, die die letzten fünf Jahre vor den Suppenküchen in | |
der Schlange standen, die haben sie nie gezeigt“, sagt sie. Manche Chefs | |
hätten ihren Angestellten gar den Lohn verweigert, sollten diese nicht bei | |
der „Ja“-Demo erscheinen. | |
„Sie haben es alle darauf abgesehen, Tsipras zu stürzen.“ Wie zum Beweis | |
zeigt einer ihrer Mitstreiter eine griechische Zeitung. Auf der ersten | |
Seite ist ein Foto von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz abgedruckt ist. | |
„Hier“, sagt Lagda, und tippt auf den Artikel, in dem er sich für Neuwahlen | |
in Griechenland ausspricht. “Er hat das erst gestern ganz offen gesagt“, | |
empört sie sich. | |
Was sie will? „Eine Regierung, die für uns ist. Und die haben wir seit | |
Januar.“ Am Nachmittag wollen sie einpacken und Tsipras‘ Rede auf dem | |
Syntagma-Platz zu hören. „Es wird eine Versammlung der Freude am Leben“, | |
sagt Lagda, den pathetischen Ton ihres Parteichefs hat sie sich offenbar | |
abgeschaut. An einen Grexit glaubt hier keiner. Das ‚Nein‘ am Sonntag werde | |
Griechenland „seine Würde zurückgeben“ und die Regierun stärken für neue | |
Verhandlungen, sagt Lagda. | |
Und was, wenn es anders ausgeht? „Wir würden das demokratische Votum | |
respektieren. Aber dazu wird es nicht kommen“, sagt sie. Und wenn doch? | |
„Das wäre eine Katastrophe.“ | |
3 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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