# taz.de -- Tagebuch aus Griechenland II: „Keine Angst mehr heute“ | |
> Eine Aktivistin, eine Exilgriechin, eine Bankangestellte und der | |
> Schriftsteller Nikos Dimou haben Tagebuch geführt. | |
Bild: „Es scheint, als wären wir Schachfiguren in einem schmutzigen Spiel.�… | |
Den ersten Teil des Tagebuchs können Sie [1][hier nachlesen]. | |
Mittwoch, 1. Juli | |
Griechenland hat die fällige Kreditrate an den Internationalen Währungsfond | |
nicht zurückgezahlt. Damit ist Griechenland das erste Industrieland, das | |
beim IWF in Zahlungsrückstand gerät – so wie Somalia, Sudan und Simbabwe. | |
Gleichzeitig ist das EU-Rettungsprogramm um Mitternacht offiziell | |
ausgelaufen. Wie es weitergeht, ist unklar. Die Europäische Zentralbank | |
gewährt Athen kein neues Geld. Der Rahmen für die Notfallkredite bleibt bei | |
etwa 89 Milliarden Euro eingefroren. | |
Nikos Dimou, der Schriftsteller: Der Tag gehört den Rentnern. Die meisten | |
haben keine Karten, um ihr Geld aus den Automaten holen. Sie werden in | |
kleinen Gruppen in bestimmte Bankgeschäfte eingelassen. Sie dürfen nur 120 | |
Euro pro Person und Tag abheben. Das heißt, dass sie mehrere Male zur Bank | |
müssen. | |
Wir sind ein Land der Rentner. Ich dachte nie, dass es so viele sind. Man | |
kann jetzt tatsächlich sehen, was die Statistik sagt: Griechenland bezahlt | |
gemessen am Bruttoinlandsprodukt die höchsten Renten in der EU. Heute ist | |
auch der erste Tag ohne irgendeine Art von finanziellem Schutz. Ich fühle | |
mich wirklich nicht ganz sicher… | |
Maria Ioannidou, die Bankangestellte: Ich wache auf, bevor der Wecker | |
klingelt, also entscheide ich mich, früher zur Arbeit zu gehen als ich | |
müsste. Aber die Wahrheit ist eigentlich, dass ich die Massen an Menschen | |
vermeiden will, die auf jeden Fall vor meiner Filiale warten werden. Je | |
früher, desto besser. Ich öffne meinen Schrank und schaue mir meine | |
„Arbeitskleidung” an. Nein, nicht heute. Ich will nicht wie eine | |
Bankangestellte aussehen, wenn ich durch die Straßen laufe. Ich entscheide | |
mich für etwas Einfaches und verlasse das Haus. | |
Mein Direktor öffnet für meine Kollegen und mich die Hintertür. Alle sehen | |
heute anders aus, angespannt, besorgt, erschöpft. Ich möchte sie alle | |
umarmen, aber ich gehe einfach in mein Büro und warte auf Anweisungen. | |
Gefühle könnten alles noch schlimmer machen und wir haben einen langen Tag | |
vor uns. Ich fühle schon die Tränen in mir aufsteigen. Ich zwinge mich, | |
ruhig zu bleiben. | |
Als die Tür schließlich öffnet, lächle ich. Nicht, weil ich es müsste, | |
sondern weil ich denke, dass diese alten Leute es verdienen, dass sie etwas | |
Mut bekommen. Schnell merke ich, dass meine Angst vor einer | |
unkontrollierbaren Menge unbegründet war. Ein paar Stunden später will eine | |
alte Dame, die ich das erste Mal treffe, einen Kaffee für mich kaufen. „Sie | |
arbeiten so hart für uns. Soll ich Ihnen etwas zu trinken oder zu essen | |
bringen?” Meine Griechen. Eigenartig und manchmal schwer zu verstehen, aber | |
wunderbar. | |
Alexandra Sifaki, die Exilgriechin: Ich bin müde. Wir waren die Ersten | |
heute Morgen in der Klinik. Es ist eine gutes Haus, eine Frauenklinik, | |
zwanzig Minuten zu Fuß von uns. Niemand hat da über Politik gesprochen. Wir | |
sollten das hier außen vorlassen und uns auf die Gesundheit konzentrieren, | |
sagten die Leute im Krankenhaus. Meine Mutter bekam eine Injektion, gut | |
fünf Stunden hat es gedauert. Jetzt geht es ihr gut. Ziemlich gut sogar. In | |
drei Tagen könnten Nebenwirkungen einsetzen, sagte der Arzt. Zuhause muss | |
sich meine Mutter zusätzlich zwei Spritzen jeden Tag geben. | |
„Injektiönchen“, haben sie im Krankenhaus gesagt. | |
Dimitra Kyrillou, die Aktivistin: Ich habe heute im Internet ein kurzes | |
Video gesehen. Eine Frau sagte: „Arme Leute treffen die falschen | |
Entscheidungen in wichtigen Momenten, darum geht es.” Sie klang wie Marie | |
Antoinette, als sie sagte: Wenn sie kein Brot haben, sollen sie Kuchen | |
essen. Ich habe von Dead Kennedys „Kill the poor” eingelegt und mich sofort | |
besser gefühlt. | |
Donnerstag, 2. Juli | |
Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass Griechenland bis 2018 noch | |
einmal 50 Milliarden Euro braucht. Der griechische Finanzminister Giannis | |
Varoufakis hat seinen Rücktritt angekündigt, falls die Griechen beim | |
Referendum mit „Ja“ stimmen sollten. | |
Maria Ioannidou, die Bankangestellte: Ich möchte für immer im Bett bleiben, | |
aber ich muss aufstehen. Keine Angst mehr heute. Eine Verbesserung, oder? | |
Als ich die Bank betrete, bin ich traurig, aber ich fühle mich sicherer als | |
am Tag davor. Ich weiß nicht mehr, wie viele Geschichten ich gehört habe: | |
Ein Vater, der kein Geld nach London schicken kann, wo sein Sohn studiert. | |
Eine Großmutter, die für ihre Enkelin kein Geburtstagsgeschenk kaufen kann. | |
Eine alte Frau, die die Arztkosten ihres Mannes nicht bezahlen kann. Es | |
scheint, als wären wir Schachfiguren in einem schmutzigen Spiel. Ich fühle | |
mich benutzt und meine Leute tun mir leid. | |
Nikos Dimou, der Schriftsteller: Die Griechen sind gespalten. Es gibt die | |
„Ja“-Sager und die „Nein“-Wähler. Aber es ist völlig unvorhersehbar, … | |
auf welcher Seite steht. Sie treffen einen alten Kommilitonen aus München, | |
ganz und gar europäisiert und denken: „Hier kommt ein Ja“. Aber nein. Er | |
hat zehn Gründe, gegen die Troika zu sein. | |
Diese Spaltung ist gefährlich. Sie hat eine lange Tradition in | |
Griechenland. Früher gab es die Royalisten und die Demokraten, dann die | |
Nationalisten und die Kommunisten. Manchmal wurde der Konflikt blutig. | |
Alexandra Sifaki, die Exilgriechin: Meiner Mutter geht es gut heute. Wir | |
gehen nachher zusammen eine Perücke kaufen. In drei Wochen kann der | |
Haarausfall kommen. | |
Freitag, 3. Juli | |
Der Euro-Rettungsfonds erklärt Griechenland für insolvent. Allerdings wird | |
entschieden, nicht die unmittelbare Rückzahlung von Krediten zu verlangen. | |
Die Zeitung „Ethnos“ veröffentlicht eine Umfrage, nach der 45 Prozent der | |
Teilnehmer angeben, beim Referendum mit „Ja“ stimmen zu wollen. 43 Prozent | |
wollten dagegen votieren. 74 Prozent sprachen sich für einen Verbleib des | |
Landes in der Euro-Zone aus. 15 Prozent sind für die Wiedereinführung einer | |
nationalen Währung. | |
Maria Ioannidou, die Bankangestellte: Ich werde heute arbeiten, aber ich | |
habe keine Ahnung, was als nächstes passiert. Wird die Bank am Montag | |
öffnen? Und nächste Woche, nächsten Monat? Ich schätze, ich muss wieder auf | |
einen Anruf warten. Ich kann nicht behaupten, dass ich meine Arbeit liebe. | |
Tatsächlich finde ich sie langweilig, anstrengend und ich beklage mich oft | |
darüber. Das Leben steckt voller Überraschungen. Ich bin mir sicher, dass | |
ich meine Kollegen vermissen werde, meine Kunden, sogar das dunkle Holz | |
meines schönen Schreibtisches. Ich hoffe nur, dass es nicht ewig dauert und | |
dass ich bald wieder in meiner Routine stecke und klagen kann. | |
Dimitra Kyrillou, die Aktivistin: Wichtig ist, dass wir das Gefühl von | |
Angst loswerden, Angst vor Veränderungen, auch wenn es Veränderungen zum | |
schlechteren sind. Wenn du an etwas glaubst, solltest du die Konsequenzen | |
in Kauf nehmen. Das hat mich diese Woche gelehrt. | |
Alexandra Sifaki, die Exilgriechin: Ich habe mich entschieden. Ich gehe zum | |
Referendum und stimme mit „Nein“. Meine Mutter und Schwester stimmen mit | |
„Ja“. Wir haben drüber gesprochen. Wir sind eben verschieden. | |
5 Jul 2015 | |
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