# taz.de -- Zwangseinweisung in die Psychiatrie: Ruhiggestellt | |
> Der Fall Eva B.: Wie das Leben einer Frau zwischen psychiatrischen | |
> Gutachten, Justiz und dem Willen der Angehörigen zerrieben wird. | |
Bild: „Meine Schwester befand sich in einer Konfliktsituation“, sagt Susann… | |
BERLIN/HEIDELBERG/KIEL taz | „Ich bin es nicht gewohnt, dass ich mit | |
Argumenten nicht durchkomme.“ Irritation, Erschöpfung, Erschütterung | |
klingen in seiner Stimme nach. Hans-Reimer Rodewald, 57, ist Immunologe am | |
Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Ein Naturwissenschaftler, | |
groß, schlank, der seinen norddeutschen Akzent nicht abgelegt hat in den | |
Jahren in Boston, Basel, Heidelberg. In seinem Job geht es um | |
Krankheitsbilder des Immunsystems, biologische Reaktionen des Körpers und | |
moderne Untersuchungsverfahren. Und es geht um Ursachen von Krankheiten und | |
Möglichkeiten der Heilung. | |
„Meine Schwester ist kaputt und abgeschrieben“, sagt Rodewald in seinem | |
kleinen Büro auf dem Campus des Krebsforschungszentrums. Seit zehn Monaten | |
befindet sich Eva B. in der Psychiatrie. Gegen ihren Willen. Gegen den | |
Willen ihrer Geschwister und Mutter. Nicht gegen den Willen ihres Ehemanns, | |
von dem sie sich trennen wollte, ihrer Söhne. „Es ist alles gegen uns | |
gelaufen“, sagt der Bruder, „medizinisch, menschlich, juristisch. Ich halte | |
das für tiefstes Mittelalter.“ | |
In den vergangenen zehn Monaten ist Eva B. in drei psychiatrischen Kliniken | |
gewesen, lange auf der geschlossenen Station. Die ursprüngliche Diagnose, | |
„Bipolare Störung“, hat sich längst in Richtung drohende Demenz verschobe… | |
„Ich will hier raus“, teilt sie ihrer Mutter und ihren Geschwistern | |
regelmäßig mit. Zurzeit befindet sich Eva B. im Klinikum Wahrendorff im | |
niedersächsischen Sehnde. | |
Das Amtsgericht Hannover hat eine Fremdbetreuung verfügt, das Landgericht | |
die Entscheidung bestätigt. „Ich lehne die Betreuerin ab“, schrieb sie | |
zuletzt am 27. Mai an die zuständige Amtsrichterin: „Ich will die Betreuung | |
durch meinen Bruder oder meine Schwester.“ Als nächste Instanz bleibt nur | |
der Bundesgerichtshof. Ob er den Fall annimmt, ist offen. | |
## Die Mühlen der Psychiatrie | |
Eva B. ist 64 Jahre alt. Ihre Geschichte zeigt, wie schnell ein Mensch in | |
die Mühlen der Psychiatrie, der Gerichte, ja des Systems geraten kann. Und | |
wie schwer es für die Angehörigen ist, sich in dem juristischen Wirrwarr zu | |
behaupten. | |
Der Fall Eva B. spielt im Ärztemilieu, fast alle Beteiligten tragen | |
Doktoren- oder Professorentitel. Eva B. ist ausgebildete Apothekerin, ihr | |
Mann Claus B. Kardiologe und Chefarzt – inzwischen ist er pensioniert. | |
Bruder Hans-Reimer Rodewald ist Professor in Heidelberg, die Schwester | |
Susanne Kraas HNO-Ärztin. Der Vater der Geschwister, Georg-Wilhelm | |
Rodewald, war ein bekannter Herzchirurg in Hamburg. Die Rodewalds nehmen | |
den Jugendfreund der mittleren Tochter Eva, Claus B., auf, als er etwa 23 | |
Jahre alt ist. Sie heiraten, das Paar zieht nach Hannover, bekommt zwei | |
Kinder. Auch der älteste Sohn wird Arzt. | |
Ab 2008 kriselt die Ehe. Eva B. hat die Zerrüttung dokumentiert und die | |
Aufzeichnungen ihrer Schwester übergeben. „Sie hatte Angst vor ihrem Mann“, | |
sagt Susanne Kraas. „Sie fühlte sich regelrecht von ihm gestalkt.“ Im April | |
2014 flieht Eva B. zu ihrer Mutter nach Schleswig-Holstein, zugleich | |
erklärt sie sich ihrem Mann per Anwältin. | |
## Ein Schreiben mit Folgen | |
„Frau B. hat sich entschlossen, aus der gemeinsamen Ehewohnung | |
auszuziehen“, heißt in dem Schreiben vom 3. Juni 2014. „Sie besteht darauf, | |
dass die gemeinsame Immobilie verkauft wird und der Erlös jeweils zwischen | |
ihnen beiden hälftig geteilt wird.“ Nach altem Scheidungsrecht steht Eva B. | |
viel Unterhalt zu. Kurz darauf sitzt sie in der Falle. | |
„Meine Schwester befand sich in einer Konfliktsituation“, sagt Susanne | |
Kraas. „Sie hat immer versucht, die Fassade der Familie zu wahren. Eva war | |
nie depressiv, suizidal. Um eine Depression abzuwenden, hat sie eine Manie | |
entwickelt.“ Eva B. war außerdem valiumabhängig geworden. Als ehemalige | |
Apothekerin, als Arztgattin ist es kein Problem, an das Beruhigungsmittel | |
zu kommen. Im Frühjahr 2014 eskaliert die Situation: Eva B. zieht sich nach | |
Strande bei Kiel zurück, wo ihre Mutter lebt. Sie fängt an, viel Geld | |
auszugeben. Kauft teure Kleider, ein Boot, ein Auto. | |
Drei Tage nachdem sie ihrem Mann die Trennungsabsicht mitgeteilt hat, ruft | |
Claus B. den Sozialpsychiatrischen Dienst, der Eva B. unter Polizeischutz | |
aus einem Ferienhaus in Strande holt und in eine Rendsburger Klinik | |
einweisen lässt. Durch die Einnahme von Diazepam, einem Beruhigungsmittel, | |
drohe die Gefährdung anderer im Straßenverkehr. Dort wird Eva B. | |
zwangsfixiert und zwangsmedikamentiert, eine neurologische Untersuchung | |
wird nicht veranlasst. | |
## Keine eigene Diagnose | |
„Wie kann das sein“, fragt die Schwester, noch heute fassungslos, „dass e… | |
Mensch in Not zwangseingewiesen wird und die Ärzte übernehmen völlig | |
unkritisch die Diagnose des Ehemanns, es läge eine ,bipolare Störung‘ vor? | |
Da läuft einmal etwas falsch, und ab da schreibt einer vom anderen ab.“ | |
Susanne Kraas ist fünf Jahre älter als Eva, eine damenhafte Erscheinung, | |
ins Café in Berlin hat sie zwei Stofftaschen voller Aktenordner | |
mitgebracht, mit Gutachten und Schriftwechseln mit Anwälten, Richtern, | |
Ärzten. Auch Fotos, die sie im November in der Klinik von ihrer Schwester | |
gemacht hat und belegen sollen, dass Eva B. parkinsonoide Symptome | |
aufweist: den typischen kleinschrittigen, nach vorne gebeugten Gang, die | |
nicht mitschwingenden Arme, das maskenhafte Gesicht. Eine Folge der | |
Neuroleptika. „Eva hat viele zu starke Medikamente bekommen. Sie war völlig | |
dehydriert und hatte lebensgefährliche Schluckbeschwerden.“ | |
Im Frühsommer 2014 gelingt es Susanne Kraas zunächst, ihre Schwester aus | |
Rendsburg in eine Klinik nach Bonn verlegen zu lassen. Fast scheint alles | |
gut zu werden. Eva B. verbringt den Sommer in Berlin, stellt vorsorglich | |
eine Betreuungsvollmacht für ihre Schwester Susanne aus. Sie weiß um ihren | |
fragilen Zustand, ihre ungeklärten Lebensverhältnisse. | |
## Der Beschluss des Amtsgerichts | |
Wieder entwickelt sie manische Züge, besucht ihren Mann, lässt die | |
Vollmacht durch den Anwalt ihres Ehemanns widerrufen. Kurz darauf wird sie | |
in Braunschweig auf dem Bahnhof verwirrt aufgegriffen und in die | |
Psychiatrische Abteilung der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) | |
eingewiesen. Am 8. Oktober 2014 findet eine Anhörung statt, am Tag darauf | |
beschließt das Amtsgericht Hannover die psychiatrische Unterbringung von | |
Eva B. | |
„Das ist der Tag, an dem wir die Schlacht verloren haben“, sagt Hans-Reimer | |
Rodewald bitter. „Ich bin völlig gutgläubig in die Anhörung gegangen, ohne | |
Anwalt. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass der Richter sich meine | |
Argumente anhört und den Widerruf der Vollmacht für meine Schwester dubios | |
findet.“ Dass bei dieser Anhörung der behandelnde Arzt zugleich der | |
Gutachter ist? Die Patientin muss vorab darüber informiert werden – das sei | |
nicht geschehen, sagen ihre Geschwister. | |
Stattdessen benennt das Gericht eine Berufsbetreuerin aus Hannover. „Sie | |
hat von Anfang an nicht mit uns geredet“, sagt Rodewald. Sie habe sich | |
stattdessen immer nur vom Ehemann informieren lassen, bestätigt Kraas. Der | |
Ehemann ist im Raum Hannover als ehemaliger Chefarzt gut vernetzt. | |
## Die Söhne schweigen | |
Claus B. schreibt auf Anfrage der taz, er teile „die von Ihnen erwähnte | |
Sorge der Geschwister meiner Frau in jeder Hinsicht“. Für ein Gespräch | |
steht er nicht zur Verfügung. Die Söhne schweigen. | |
„Auch die Pressestelle des Amtsgerichts Hannover will sich nicht konkret | |
zum Fall Eva B. äußern, da es sich „um ein nichtöffentliches | |
Betreuungsverfahren“ handele. Als sich die taz telefonisch an die | |
Betreuerin wendet, verweigert sie das Gespräch – „im Interesse der | |
Patientin. Und überlegen Sie sich gut zu schreiben, was diese | |
Verwandtschaft Ihnen erzählt“, schiebt sie noch hinterher. | |
Die Familie sei zerstritten, ist auch eine Begründung des Gerichts, warum | |
Susanne Kraas oder Hans-Reimer Rodewald die Betreuung von Eva B. nicht | |
übertragen bekommen – obwohl diese es ausdrücklich wünscht, unbeirrt seit | |
fast einem Jahr. Die Betroffene brauche eine neutrale Person als | |
Betreuerin, argumentiert das Gericht. Aber was, wenn Eva B. ihrer | |
Betreuerin nicht vertraut? Das Gericht bestätigt diese am 1. Juni 2015 für | |
ein weiteres Jahr. | |
## Strafanzeige gegen die Betreuerin | |
„Mein Verständnis von Rechtsstaat ist durch“, sagt Hans-Reimer Rodewald in | |
Heidelberg. „Gerichte, Betreuerin, Psychiater arbeiten Hand in Hand.“ Zum | |
ersten Mal in seinem Leben hat er sich einen Anwalt genommen. David | |
Schneider-Addae-Mensah hat inzwischen Strafanzeige gegen die | |
Berufsbetreuerin und unbekannt erstattet – wegen „versuchten Mordes, | |
schwerer Körperverletzung, unterlassener Hilfeleistung, Nötigung und | |
Freiheitsberaubung“. | |
Für den Karlsruher Anwalt, mit Psychiatrieverfahren vertraut, ist Eva B. | |
leider „eher der Regelfall“. Strafanzeigen gegen Betreuer oder Ärzte seien | |
langwierig und eine „heikle Sache“, weiß Schneider-Addae-Mensah. Er rät | |
dennoch dazu, damit die Sache aktenkundig ist. „Anschauungen ändern sich“, | |
erklärt er. „Das sieht man bei der Problematik der Heimkinder gerade. Es | |
wird noch Zeit brauchen, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass | |
psychopharmakologische Behandlung Menschen entstellen kann.“ | |
Ingelene Rodewald ist die Mutter von Eva B., 93 Jahre alt. Ihr läuft die | |
Zeit davon. „Ich bin nicht die Mutter, die betüddert“, sagt sie. Eva B. | |
sieht ihrer Mutter besonders ähnlich. Für den Besuch brät sie Dorsch, es | |
gibt Kartoffelsalat und Rote Grütze. Mit Kirschen aus dem Garten. Spät hat | |
sie angefangen zu schriftstellern. Zeit- und Familiengeschichte, neuerdings | |
Liebesromane – unter Pseudonym. „Haben sie ,50 Shades of Grey‘ gelesen? D… | |
hat Pep.“ | |
## Wie Effi Briest, nur ohne Affaire | |
Ihre Tochter Eva hätte besser in die Fontane-Zeit gepasst: „Eine Effi | |
Briest – aber ohne Verhältnisse“. Mit einem „Touch für die heile Welt�… | |
Drei Kinder hat Ingelene Rodewald, zehn Enkel, zwölf Urenkel. Der Fall Eva | |
B. hat die Familie gesprengt. Macht sie sich Vorwürfe wegen der Tabletten, | |
den Eheproblemen? „Nein, es tut mir nur unendlich leid. Ich war kein gutes | |
Vorbild, habe familiär oft zurückgesteckt.“ | |
Seit ein paar Wochen befindet sich Eva B. auf einer offenen Station. Von | |
„einer hirnorganischen Erkrankung“ bei ihr ist in der ärztlichen | |
Stellungnahme vom 24. März 2015 die Rede, auf die sich das Gericht im Juni | |
2015 bezieht. Eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung ist bis heute nicht | |
eingeholt worden. Susanne Kraas fürchtet, ihre Schwester könne als | |
Demenzkranke auf Dauer in der Gerontopsychiatrie landen. „Das Groteske ist, | |
dass sich nun kein Psychiater mehr dafür interessiert, warum und wie alles | |
begann.“ | |
## Das Gericht lässt sich Zeit | |
Welche Rechtsmittel bleiben den Geschwistern? „Viel und wenig zugleich“, | |
sagt Susanne Kraas’ Anwalt Dietmar Kurze. Spielt das Gericht auf Zeit? „Es | |
arbeitet jedenfalls extrem langsam“, sagt er. „Nach unserem Eindruck werden | |
wir hartnäckig und systematisch außen vor gelassen. Wichtige Informationen | |
bekommen wir zu spät oder gar nicht.“ | |
Susanne Kraas möchte einen Unterstützerkreis aufbauen wie im Fall Mollath. | |
Hans-Reimer Rodewald hat einen alternativen Behandlungsplan entwickelt. | |
Seine Schwester soll in der Uniklinik Heidelberg neurologisch untersucht | |
und behandelt werden. Die dafür erforderliche Herausgabe der Krankenakten | |
wurde vor Kurzem abschlägig beschieden. | |
28 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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