| # taz.de -- Flüchtlingstragödie an EU-Außengrenzen: Was wir sehen müssen | |
| > Auf ihrer Überfahrt in die EU sterben 17 Menschen. Tage später liegen sie | |
| > in Müllsäcken im Kühlschrank einer sizilianischen Klinik. | |
| Bild: In einer Leichenkammer in Augusta (Sizilien) liegen tote Flüchtlinge auf… | |
| CATANIA/SIRACUSA/AUGUSTA taz | Anfang Juni reiste ein Mitarbeiter des | |
| Zentrums für politische Schönheit nach Sizilien. Der Student wollte | |
| Recherchen anstellen für die nächste Aktion der Künstler. Ein Bestatter | |
| führte ihn in die Leichenkammer des kommunalen Muscatello-Krankenhauses von | |
| Augusta, erzählt er. Der Mann wollte, dass er begreift, wie dramatisch die | |
| Lage an der Südflanke Europas ist. | |
| Er sah dort einen Raum, in der Ecke ein kleiner Gebetsschrein, zwei Kerzen, | |
| zwei Blumenstöcke. Dahinter ein Kühlschrank, groß wie drei Telefonzellen, | |
| gefüllt mit den Leichen von 17 Afrikanern, eingewickelt in Leinentücher und | |
| Müllsäcke, aufeinander geworfen wie Schlachtabfälle. Ihr Blut ist an der | |
| Seite des Kühlschranks auf den Boden geflossen und zu einer großen, | |
| schwarzen Lache getrocknet. | |
| Das Foto, das der Künstler davon gemacht hat, ähnelt einem Kippbild: Je | |
| nachdem, wie man darauf schaut, präsentiert es andere Einsichten. | |
| Geht man nahe heran, scheint zwischen den Müllsäcken, dem Blut und den | |
| Schädelumrissen die Gewissheit auf, dass Tote mit weißer Hautfarbe in | |
| Europa niemals so behandelt würden. | |
| Wenn man die Verantwortlichen damit konfrontiert, zeigt das Foto auch die | |
| Nachlässigkeit eines Staates, in dem viel improvisiert und wenig | |
| hinterfragt wird. | |
| Und im Strom all der Bilder von Mittelmeer-Toten verweist es auf eine | |
| kleine Stadt, alleingelassen mit den Folgen der Abschottungspolitik. Es | |
| stellt ein Europa bloß, das die hässlichen Folgen seiner | |
| Verantwortungslosigkeit ignoriert. | |
| ## Am Hafen | |
| 31. Mai, 1.09 Uhr. Chiara Montaldo, Medizinerin bei Ärzte ohne Grenzen, | |
| steht am Hafen von Pozzallo, ganz im Südosten Siziliens. Fast 1.000 | |
| Menschen gehen von Bord eines Schiffes, eingehüllt in die goldfarbene | |
| Wärmefolie sehen sie in der Nacht aus wie Raumfahrer. „Für uns sind es | |
| nicht 1.000, sondern es ist ein Mensch und noch einer und noch einer …“, | |
| [1][twittert sie]. Fast 100.000 Migranten sind in diesem Jahr in Italien | |
| angekommen, manchmal dauert es nur wenige Stunden, bis ein neues Schiff | |
| ankommt, beladen mit Menschen, die alles riskiert haben für die Hoffnung, | |
| in Europa leben zu können. | |
| Sieben Stunden später ist das Ärzteteam beim nächsten Einsatz, 85 Kilometer | |
| weiter nördlich, am Hafen von Augusta. Die Militärfregatte „Fenice“ hat 4… | |
| Migranten gerettet und 17 Leichen auf dem Meer geborgen. Es ist halb neun | |
| Uhr morgens, [2][Montaldo twittert ein Bild]. „Wir versuchen, wenigstens | |
| den Lebenden zu helfen“, schreibt sie. | |
| Um die Toten kümmert sich der Bestattungsunternehmer Concetto Cacciaguerra. | |
| Vor den Zelten des Roten Kreuzes haben er und ein Mitarbeiter die | |
| Kleinbusse geparkt, mit denen sie 17 Särge hergeschafft haben. In einer | |
| Reihe liegen sie jetzt am Kai: Hellbraunes, rotes, dunkelbraunes, schwarzes | |
| Holz, davor stehen Polizisten, Ärzte und Fotografen mit weißen | |
| Atemschutzmasken. | |
| ## Der Rechtsmediziner | |
| Sie haben den Rechtsmediziner Francesco Coco angerufen. 17 Tote seien es | |
| diesmal, Ankunft in wenigen Stunden. „Mach alles bereit, haben sie gesagt.“ | |
| Er telefonierte die sechs Krankenhäuser der Provinz Siracusa ab, nur die | |
| Pathologie des Ospedale di Lentini, einer Klinik im Hinterland, hatte | |
| Platz. | |
| Cocos Praxis liegt in der Provinzhauptstadt Siracusa, das Geschäft ist | |
| einträglich. Braune Ledersofas, die Nähte im gleichen Cremeton wie Fliesen | |
| und Tapete, an der Wand Flachbildschirme, der Empfangstresen wie in einem | |
| teuren Hotel. Coco, taubenblaue Leinenhose, hellgraue Slipper, kurzärmliges | |
| Hemd, sieht aus wie eine Werbefigur für private Altersvorsorge. Er setzt | |
| sich in einen Rattansessel auf seinem Balkon. Bevor er von den Toten | |
| spricht, erzählt er von den Reisen in seiner Studentenzeit hinter den | |
| Eisernen Vorhang, wie er den Jungs Marlboro und den Mädchen Nylonstrümpfe | |
| mitgebracht hat, und dann zieht er an seiner Zigarette und schaut einen an, | |
| als hoffe er, diese Zeit nun zurückzubekommen. | |
| „Keiner weiß, wie viele es wirklich sind“, sagt Francesco Coco. „Wir | |
| kriegen nur die zu sehen, die das Militär vom Meer mitbringt. Das ist nur | |
| ein Bruchteil.“ | |
| Die Neigung der Marine, lange nach Leichen zu suchen, dürfte gering sein. | |
| Zu sehr beschäftigt sie die Rettung der Lebenden, der Aufwand, den die | |
| Bergung jeder Leiche nach sich zieht, ist hoch. 150 tote Flüchtlinge hat | |
| Coco in den vergangenen Jahren begutachtet. Mal 5 in Pozzallo, 15 in | |
| Samperi, 25 in Augusta, auch die Toten, die am Strand bei Pachino | |
| angeschwemmt wurden. | |
| Ein Riesenaufwand sei das, die Rechtsmediziner, Assistenten, Polizisten, | |
| Kriminaltechniker, die Inventarlisten, die Schutzanzüge – „man weiß nie, | |
| welche Infektion sie haben“, sagt er und hebt den Kopf etwas an, sodass | |
| seine Brillengläser die Sonne reflektieren und man seine Augen nicht mehr | |
| sieht. Rund 300 Euro zahle ihm die Justizkasse pro Leiche, „übrig bleibt da | |
| kaum was“. | |
| Coco war am Hafen, als die Militärfregatte „Fenice“ ankam. „Wir machen | |
| zuerst nur eine Kadaverinspektion“, sagt er. „Wenn wir die Todesursache | |
| verstehen, brauchen wir keine Autopsie.“ Die 17 Geborgenen vom 31. Mai | |
| waren im Zustand beginnender Verwesung, etwa drei Tage tot. Sie hatten | |
| Dieseldämpfe im Schiffsbauch eingeatmet. „Wahrscheinlich gab es einen | |
| Unfall mit dem Motor.“ | |
| Coco versah die Leichen mit Nummern, er vermaß und wog sie, nahm | |
| Fingerabdrücke, dokumentierte Gebiss, Narben und andere Auffälligkeiten, am | |
| Ende schnitt er ihnen etwas Fleisch aus dem Oberschenkelmuskel und ein paar | |
| Haare ab und schickte die Gewebeproben ins kriminaltechnische Labor von | |
| Catania. Polizisten machten Fotos, legten eine Liste der Habseligkeiten an, | |
| einer führte Protokoll. „Wir haben die ganze Arbeit an einem Tag gemacht, | |
| das läuft wie bei Fiat am Band“, sagt Coco. | |
| ## Was für Hygieneprobleme? | |
| „Wir hatten große Hygieneprobleme“, sagt Coco. Es kämen sehr viele Leichen | |
| nach Sizilien. „Ich habe Syrer aus Damaskus gesehen, aus Aleppo, Ärzte, | |
| Ingenieure …“, sagt er, sie hatten Diplome in ihren Taschen, Lebensläufe, | |
| Fotos von der Mutter, der Verlobten, der Abschlussfeier. | |
| Oder Afrikaner, manche mit zehn Euro in der Tasche. „Was kriegt man in | |
| Europa für zehn Euro?“, fragt er. Jeder müsse sehen, was er, Coco, gesehen | |
| habe, „nur so versteht man, was für ein Ausmaß diese Tragödie hier hat“.… | |
| zündet eine neue Zigarette an. | |
| „Wenn so viele Kadaver kommen, weiß man nicht, wohin damit“, sagt er. „M… | |
| muss schnell improvisieren, man kann sie nicht überallhin verteilen.“ Zwei | |
| hier, sechs da, drei da, „das macht alles nur viel komplizierter und | |
| teurer, das dauert dann alles einen Monat“, sagt er. Alle Leichen | |
| „konzentriert an einem Ort, das reduziert Kosten und Zeit und Material“. | |
| Es sei nicht leicht für Sizilien, sagt er dann. „Wir tragen den schwersten | |
| Teil, dabei ist es auch euer Problem, das Problem von Europa. Aber es ist | |
| so, als ob es Europa gar nicht gäbe“, sagt er. „Jeder denkt nur an sich.“ | |
| Wenn es nicht endlich eine gemeinsame Lösung gebe, „dann geht das hier | |
| immer so weiter“. | |
| ## Der Bestatter | |
| Das Bestattungsinstitut von Concetto Cacciaguerra liegt am Rande der | |
| Altstadt von Augusta. Vom nahen Marktplatz weht der Jubel einer Kundgebung | |
| der Protestbewegung Cinque Stelle herüber, vor der Tür sitzt Cacciaguerras | |
| Vater auf einer kleinen Bank, eine Hand auf dem Kopf eines Hundes, den | |
| Blick auf den Stadtpark auf der anderen Straßenseite gerichtet. Der Laden | |
| könnte eine der vielen Lottoannahmestellen sein, stünden im Schaufenster | |
| nicht die Urnen aus blank poliertem Metall, aus Ton und Steingut, die | |
| Papstbilder und die Muster für die kleinen Totenkärtchen mit dem Bild einer | |
| früh verstorbenen jungen Frau. | |
| Cacciaguerra, Mitte 20, ist gerade von einer Beerdigung zurückgekommen. In | |
| schwarzer Hose, grauem Hemd, die Haare gegelt, Hornbrille auf der Nase, | |
| sitzt er an seinem Schreibtisch im Hinterzimmer; während er redet, schaut | |
| er unentwegt auf seinen Monitor und klickt mit der Maus am Bildschirm | |
| herum. Sechzig Migranten hat er in diesem und dem letzten Jahr bestattet, | |
| „es sind immer mehr geworden“. Er redet schnell, in militärischem Tonfall, | |
| als habe er keine Zeit zu verlieren. „Alles muss allein die Kommune | |
| bezahlen. Wir sind verlassen. Die Regierung in Rom hilft uns nicht.“ Anfang | |
| des Jahres hat Cacciaguerra für die Berlusconi-nahe Partei Lista Azzurra | |
| kandidiert. | |
| Die Migranten, die überlebt haben, werden auf das ganze Land verteilt, für | |
| sie ist die nationale Migrationspolizei zuständig. Die Verantwortung für | |
| die Toten aber ist in Italien ein Abbild des europäischen Asylsystems: Um | |
| sie kümmern sich die Kommunen, in denen die Leichen an Land gebracht werden | |
| – also jene, in denen Marine oder Küstenwache ihre Basen haben. | |
| Cacciaguerra übernahm die toten Migranten am Mittag des 31. Mai von der | |
| Kommandantin der Militärfregatte, Leutnant Claudia di Paolo, und brachte | |
| sie ins Krankenhaus von Augusta. Am 3. Juni zeigte er dem Mitarbeiter des | |
| Zentrums für politische Schönheit den Kühlschrank. Die Lagerung habe die | |
| Präfektur so angeordnet, sagte er dem Aktionskünstler. „Wir haben einfach | |
| nicht genug Platz für all die Leichen“, sagt er nun. | |
| Fünf Tage lang müssen die Gebeine dem Staatsanwalt Tommaso Pagano zur | |
| Verfügung stehen. Nach Ablauf dieser Frist, es war der 4. Juni, ordnete der | |
| Magistrat von Augusta in der Verfügung Nummer 48 an, was mit den Toten zu | |
| geschehen habe: Weil Cacciaguerra auf dem Friedhof von Augusta zuvor schon | |
| andere Migranten bestattet hatte, habe dieser die 17 nun auf den | |
| umliegenden Friedhöfen von Siracusa, Palazzolo Acreide, Avola, Carlentini, | |
| Melilli, Priolo Gargallo und Francofonte beizusetzen. 1.000 Euro bekam er | |
| für jedes Begräbnis. „Genauso viel wie bei anderen Toten“, sagt | |
| Cacciaguerra. Am 6. Juni hat er die letzten der 17 bestattet. | |
| ## Lentini | |
| Im Krankenhaus von Lentini, einem großen, runden Gebäudekomplex auf einem | |
| Hügel, ist die Hygieneabteilung für Leichen zuständig. Die verantwortliche | |
| Ärztin hat ihr Büro im fünften Stock, sie will anonym bleiben. „Die 17 | |
| toten Migranten waren niemals hier“, behauptet sie. Hat der Rechtsmediziner | |
| Coco gelogen? Sie zieht die Schultern hoch, hebt die Hände und schaut zur | |
| Decke. Dann räumt sie ein, dass die Leichenschau in Lentini stattgefunden | |
| habe. „Sie waren kurz hier. Aber dann wurden sie sofort wieder | |
| weggebracht.“ Warum? „Wir hatten Probleme mit den Kühlschränken. Es waren | |
| sehr viele Leichen“, sagt sie. | |
| Tatsächlich hat der Bestatter Cacciaguerra wohl am 1. oder 2. Juni, die | |
| Beteiligten widersprechen sich in diesem Punkt, die Leichen wieder in | |
| seinen Transporter geladen, immer vier auf einmal, und sie aus dem | |
| Krankenhaus von Augusta die 34 Kilometer ins Krankenhaus von Lentini | |
| gebracht. Beide gehören zur regionalen Krankenhausholding Azienda Sanitaria | |
| Provinciale di Siracusa. Die erste Fuhre musste um sieben Uhr morgens da | |
| sein. | |
| „Die Pathologen waren bis zwei Uhr in der Früh beschäftigt“, sagt die | |
| Ärztin. Danach habe es „im Konferenzraum“ von Lentini eine Trauerfeier mit | |
| „Vertretern aller Religionen“ gegeben, sagt sie. Anschließend seien die | |
| Friedhofsverwaltungen der umliegenden Städte gekommen und hätten die Toten | |
| abgeholt. „Aber das habe ich nicht gesagt, ich darf gar nichts sagen“, sagt | |
| die Dame, hält sich die ausgestreckte Hand seitlich an den Kehlkopf und | |
| bewegt sie hin und her, als ob ihr jemand wegen ihrer Gesprächigkeit den | |
| Hals aufschneiden würde. | |
| Dabei hat sie wohl erneut die Unwahrheit gesagt. Keith Abdelhafid, der Imam | |
| der Barmherzigkeitsmoschee in Catania, gibt an, erst am 6. Juni vom | |
| stellvertretenden Stadtdirektor von Augusta, Pino Pisana, zur Totenfeier | |
| eingeladen worden zu sein. Die habe am Nachmittag des 8. Juni | |
| stattgefunden, also nach dem Begräbnis, und zwar in einer Kapelle in | |
| Augusta, zusammen mit einem katholischen Priester. | |
| „Ein paar gemeinsame Gebete, wir haben um Gnade und Vergebung für die Toten | |
| gebeten“, sagt Abdelhafid. Eine richtige Totenfeier sei es allerdings nicht | |
| gewesen, „dafür müssen die Leichen da sein“. „Aber man hat uns gesagt, … | |
| sei aus hygienischen Gründen nicht mehr möglich.“ Ohnehin sei über die | |
| Identität der Toten nichts bekannt gewesen – also auch nichts über ihre | |
| Religion. Einige Migranten waren bei der Feier anwesend, Vertreter des Rats | |
| von Augusta. „Nach einer halben Stunde war es vorbei“, sagt Abdelhafid. | |
| Tatsächlich wurden die Leichen auch nicht von Lentini aus zu den Friedhöfen | |
| gebracht, sondern offenbar wieder im Krankenhaus von Augusta im Kühlschrank | |
| gestapelt. | |
| Weshalb? | |
| Jetzt greift die Ärztin zum Telefonhörer. „Unsere Krankenhausgesellschaft | |
| hat eine Pressesprecherin, nur die darf etwas sagen“, sagt sie. Doch die | |
| will nicht. „Ich soll etwas ausrichten“, sagt die Ärztin nach einem kurzen | |
| Telefonat. „Wir sagen dazu nichts. Alle Fragen müssen an die Präfektur | |
| gerichtet werden.“ | |
| ## Die Präfektur | |
| Aus ihrem Fenster schaut Filippina Cocuzza, die Vizepräfektin der Provinz | |
| Siracusa, auf die historische Piazza Archimede. Die Sonne hat ihr Büro so | |
| aufgeheizt, dass sie ihren Blazer ausgezogen hat. Wenn Besuch durch die Tür | |
| kommt, legt sie ihn sich schnell wieder über die Schulter. Sie schaut auf | |
| das Foto mit dem geöffneten Kühlschrank, dann ruft sie einen ihrer | |
| Mitarbeiter, dann noch einen, die beiden stehen in ihrem Büro und beginnen | |
| zu telefonieren, auch Cocuzza telefoniert und unterschreibt dabei Akten in | |
| hellroten Pappheftern, hintereinander weg. | |
| Sie dachten, dass die Leichen in Augusta untersucht worden wären, sagt sie. | |
| Ein Dezernent ruft den Rechtsmediziner Coco an, nach einer Weile hat sie | |
| die Sache geklärt. „Für die Untersuchung gab es keinen Platz in Krankenhaus | |
| von Augusta und für die Aufbewahrung keinen im Krankenhaus von Lentini“, | |
| sagt sie. | |
| „Die Bilder sind grauenhaft, schrecklich, das ist gar keine Frage“, sagt | |
| Cocuzza. Sie habe davon nicht gewusst. „Aber die Leichen müssen vier Tage | |
| lang für die Justiz greifbar bleiben, das ist Vorschrift.“ Für die kleinen | |
| Städte sei es ein großes Problem, dass so viele Tote ankämen. | |
| Ist es legal, Leichen so zu lagern? | |
| „Ich bin nicht die Polizei“, sagt sie. „Wie das genau gemacht wird, ist | |
| allein die Sache des Krankenhauses.“ | |
| ## Die Holding | |
| Die Krankenhausholding Azienda Sanitaria Provinciale di Siracusa hat ihren | |
| Sitz in einem unscheinbaren Gebäude am Corso Gelone, außerhalb der | |
| prächtigen Altstadt von Siracusa. Anfragen beantworte nur die Sprecherin | |
| Agata Di Giorgio, sagt einer der beiden Herren am Empfang. Doch die sei | |
| nicht anwesend. Wie es möglich ist, dass in einem ASP-Krankenhaus Leichen | |
| wie Tierkadaver verwahrt werden? Die beiden betrachten das Foto, dann geht | |
| einer nach hinten und kommt mit einer grell geschminkten Dame zurück. Sie | |
| will nicht sagen, wer sie ist, „das hier ist die Direktion“, sagt sie nur. | |
| Sie schaut kurz auf das Kühlschrankfoto, dann wird sie noch lauter. „Und | |
| was soll ich jetzt tun?“ Anfragen nur per Mail. | |
| Warum wurden die Leichen so aufbewahrt? Wie lange lagen sie da? Wer wusste | |
| davon? Hat das Krankenhauspersonal sie in den Kühlschrank gelegt? | |
| Auch am nächsten Tag geht die ASP-Sprecherin nicht ans Telefon, sie | |
| antwortet nicht auf die erste Mail, nicht auf die zweite, ebenso wenig die | |
| beiden Krankenhausdirektoren von Augusta oder die Kommunalverwaltung. | |
| ## Der Friedhof von Siracusa | |
| Der Friedhof von Siracusa, nahe der Auffahrt zur Autobahn, gleicht einem | |
| Skulpturenpark. Überall Statuen, private Kapellen, Grüfte. Kaum ein Toter, | |
| dem die Lebenden nicht ein kleines Denkmal errichtet hätten. In Sektor 2S, | |
| in den Gräbern mit den Nummern 212 bis 217, hat Cacciaguerra sechs der | |
| toten Migranten bestattet. Ein Erdhügel pro Person, die umgegrabene Erde | |
| erinnert an einen Acker, aber es ist kein Massengrab. Auf jedem Hügel | |
| steckt nur ein einzelner vertrockneter Zweig und ein kleiner Stein, auf den | |
| jemand mit schwarzer Farbe in ungelenken Buchstaben die Nummer des | |
| Grabplatzes gemalt hat. | |
| ## Die Polizei | |
| An der Sicherheitsschleuse im Justizpalast von Siracusa geht es streng zu. | |
| Zwei Clans der Mafia sollen sich die Stadt aufgeteilt haben, Nardo und | |
| Linguanti, sie gilt als eine Hochburg des organisierten Verbrechens. | |
| Das graue Haar des Kommissars Carlo Parini ist noch voll. Er trägt eine | |
| blaue Weste, hat eine Sonnenbrille in den Kragen gesteckt und verschwindet | |
| fast hinter einem Stapel von Akten in seinem fensterlosen Zimmer. Auf einem | |
| Tisch steht ein Fähnchen der EU-Grenzschutzagentur Frontex, an der Wand | |
| hängt ein Kalender der italienischen Marine. Parini leitet die Kommission | |
| gegen illegale Einwanderung. Eigentlich kümmert er sich um Schleuser, die | |
| Identifizierung der toten Bootsflüchtlinge in der Provinz Siracusa ist sein | |
| Nebenjob. | |
| 33 Leichen waren es 2014, bislang 28 in diesem Jahr. Parini bekommt Fotos | |
| vom Rechtsmediziner, den Untersuchungsbericht, das DNA-Profil aus dem | |
| Polizeilabor. Er speichert das Todesdatum, das Ankunftsdatum, die Namen der | |
| Boote, die die Leichen gebracht haben. Am Ende bleibt von jedem Toten eine | |
| CD. Sollte jemand auftauchen, der nach seinen Angehörigen sucht, kann per | |
| DNA-Vergleich festgestellt werden, ob sie unter Parinis Leichen waren. | |
| Manchmal stellt er Fotos ins Netz, manchmal schicken Angehörige Bilder und | |
| bitten um einen Vergleich. Nur in vier Fällen hatte Parini bislang Erfolg: | |
| Zwei syrische Flüchtlinge, ein Palästinenser und ein Ägypter konnten | |
| identifiziert werden. „Ein syrischer Mann hat die Leiche seiner Frau nach | |
| Deutschland überführen lassen, ein anderer Syrer die seines Neffen nach | |
| Dänemark.“ Der Palästinenser und der Ägypter wurden mithilfe der | |
| Botschaften in ihr Herkunftsland gebracht. | |
| Die 17 Toten vom 31. Mai waren die bislang größte Gruppe. Über sie hat er | |
| nichts herausgefunden. „Wir haben die Überlebenden befragt, aber keiner | |
| wusste etwas“, sagt er. Vermutlich seien es Eritreer gewesen. „Nach denen | |
| fragt niemand“, sagt er. | |
| 21 Jun 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/MSF_SICILY/status/604786661973733377 | |
| [2] https://twitter.com/MSF_SICILY/status/604961029232164864 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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