# taz.de -- Wahlkampf in der Schweiz: Legenden, Märchen und Mythen | |
> Die national-konservative Schweizer Volkspartei inszeniert einen | |
> Erinnerungstanz rund um die glorreiche Schweizer Geschichte. | |
Bild: Historische Bedeutung hat die Schlacht bei Morgarten sicher nicht. Trotzd… | |
Viele Schweizer haben ein gebrochenes Verhältnis zur Schweizer Geschichte. | |
Nicht etwa deshalb, weil sie diese verdrängten (das tun sie auch, aber das | |
ist hinlänglich bekannt), sondern weil sie vollkommen vernarrt sind in das, | |
was sie in der Schule und in den Medien an Schweizer Geschichte mitbekommen | |
haben und seither als Idées fixes mit sich herumtragen. | |
Schweizer Milizsoldaten, die ein Sturmgewehr zu Hause verwahren, halten | |
sich gelegentlich an die Devise: „Der Starke ist am mächtigsten allein.“ | |
Die „schwäbische Hausfrau“ folgt in der Schweiz dem biederen Rat der | |
„Stauffacherin“: „Ertragen muss man, was der Himmel sendet, Unbilliges | |
erträgt kein edles Herz.“ | |
Beide Devisen stammen zwar aus dem Drama „Wilhelm Tell“ des waschechten | |
Schwaben Friedrich Schiller, aber das hindert Berufsschweizer nicht daran, | |
sich als Tellensöhne oder Winkelriede zu verstehen und ihre Frauen als | |
„Stauffacherinnen“. Das ist relativ harmlos: Sie verwechseln nur poetische | |
Erfindungen mit der Wirklichkeit. | |
Weniger harmlos ist das in der Politik. Hier spiegelt sich die Verwechslung | |
als närrische Gleichsetzung von nationalen Mythen mit der | |
historisch-politischen Wirklichkeit. Im Wahljahr 2015 hat sich die | |
national-konservativ populistische Schweizerische Volkspartei (SVP) des | |
Milliardärs und Mediengurus Christoph Blocher darauf verlegt, ihre | |
Wahlkampagne als Erinnerungstanz rund um die glorreiche Schweizer | |
Geschichte zu inszenieren. Landauf, landab werden jetzt Erinnerungsfeiern, | |
Schützenfeste und patriotisch gestimmte Jahrmärkte organisiert zum Gedenken | |
an die Schlacht bei Morgarten (1315), bei Marignano (1515) und an den | |
Wiener Kongress (1815). | |
## Butterweiches Fundament | |
Diese Selbstversicherungsrituale stehen, historisch und rational gesehen, | |
auf butterweichen Fundamenten. Von der Schlacht bei Morgarten weiß man | |
nicht einmal genau, wo sie stattgefunden haben soll. Wahrscheinlich ging es | |
um eine Strafaktion eines habsburgischen Herzogs gegen Bauern aus dem | |
Kanton Schwyz, die das reiche Kloster Einsiedeln geplündert hatten – | |
vielleicht aber nur um eine strittige Erbschaft. Historische Bedeutung | |
hatte die Schlacht mit Sicherheit nicht. Solche Bedeutung wurde ihr erst | |
viel später zugeschrieben, nämlich als Beginn der Vertreibung der | |
Habsburger, auf deren Seite freilich auch Eidgenossen kämpften. Nur | |
unwesentlich besser dokumentiert ist die Schlacht bei Marignano, die bis in | |
die heutigen Schulbücher hinein als „Beginn der schweizerischen | |
Neutralitätspolitik“ und „Absage an die Expansionspolitik“ verklärt wir… | |
Schon von „schweizerischer Politik“ zu reden ist Unsinn. | |
„Die damalige Schweiz“ bestand aus 13 Kantonen („Orten“), die untereina… | |
durch lockere Bündnisverträge zu einem Verein zusammengeschlossen waren, | |
dem jeder Charakter von Staatlichkeit abging. Der Historiker Bernhard | |
Stettler spricht von einem „Haus ohne Dach“. Niccolò Machiavelli erwähnt | |
zwar einmal „svizzeri“, meint aber damit nur Söldner und keinen | |
staatsrechtlich relevanten Verband. Die einzige gemeinsame Institution des | |
Bundes war ein Botschafterklub („Tagsatzung“), ohne eigene Kompetenzen und | |
Finanzen sowie zur Einstimmigkeit verpflichtet, falls etwas entschieden | |
werden sollte. Diese „Tagsatzung“ verdankt ihre Existenz dem Umstand, dass | |
die von den 13 Kantonen eroberten Untertanengebiete (“gemeine | |
Herrschaften“) gemeinsam ausgebeutet werden sollten. | |
In der Schlacht von Marignano ging es um das reiche Herzogtum Mailand, um | |
das sich Frankreich, Habsburg und der Papst stritten. Auf allen Seiten | |
wirkten Schweizer Söldner mit, die kommandiert wurden von eidgenössischen | |
Warlords, die vom Handel mit Bauernsöhnen aus den Alpen sehr reich wurden. | |
Die Schlacht vom 13./14. 9. 1515 lief für die erfolgsverwöhnten | |
eidgenössischen Söldner schlecht. Das französische Heer mit seiner | |
Artillerie und Kavallerie war den veralteten Waffen der Söldner überlegen, | |
die mit Spießen und Halbarten kämpften. Rund 10.000 Schweizer Söldner kamen | |
um, ihre Kameraden aus Bern, Solothurn, Freiburg und dem Wallis räumten das | |
Feld schon vor der Schlacht – gekauft mit Geld des französischen Königs. | |
Die herbe Niederlage beendete das Zwischenspiel der Eidgenossenschaft als | |
international agierender Machtfaktor für immer. Fast 400 Jahre später, Ende | |
des 19. Jahrhunderts, drechselten eidgenössische Gesinnungsathleten die | |
Niederlage von 1515 zum Beginn der Neutralitätspolitik. | |
## Kein aufgeklärtes Geschichtsbild | |
Historisch sah dieser Beginn ganz anders aus. Mit dem Friedensschluss von | |
1516 und einem Söldnervertrag mit Frankreich (1521) erreichten die 13 | |
eidgenössischen „Orte“ leichteren Zugang zum französischen Markt, | |
insbesondere zum Salzhandel. Im Gegenzug sicherte sich der französische | |
König Franz I. für 300 Jahre lang das Exklusivrecht auf Schweizer Söldner. | |
Die Schweizer Oligarchen ließen sich diese aparte Form von „Neutralität“ | |
reichlich honorieren. | |
Erst 1965, zum 450. Jahrestag der Schlacht, stiftete ein reicher | |
Industrieller, bei dem der junge Christoph Blocher ein Praktikum | |
absolvierte, ein Denkmal mit dem Motto „Aus der Niederlage Heil“ (Ex clade | |
salus). Mit dem „Heil“ waren 1515 der Salz- und Soldatenhandel gemeint. | |
1965 ging es der schweizerischen Industrie um den freien Zugang zum | |
damaligen EWG-Markt und um die Abschirmung des vermeintlichen „Sonderfalls | |
Schweiz“ vor der politischen Integration. | |
Und genau darum geht es auch der SVP-Kampagne im Wahljahr 2015, und deshalb | |
zelebriert sie jetzt lärmige Erinnerungsrituale um die Schlacht von 1515 | |
und den Wiener Kongress von 1815. Auf diesem garantierten die Großmächte | |
der Schweiz die „ewige Neutralität in ihren neuen Grenzen“. Das war ein | |
Diktat der Großmächte, die die Schweiz als Pufferstaat zwischen Habsburg | |
und Frankreich installieren wollten, während die konservativen Kantone | |
lieber ihre Untertanengebiete, die Napoleon „befreit“ hatte, zurückhaben | |
wollten. | |
Blocher und sein Lautsprecher Roger Köppel von der nationalistischen | |
Postille Weltwoche wollen mit dem aufgeklärten Geschichtsbild nichts zu tun | |
haben. Sie halten historisch-kritische Aufklärung jenseits von nationalen | |
Legenden und patriotischen Geschichtsbildern für ein „Abbruchunternehmen | |
von links“, wie der Amateurhistoriker Köppel schreibt. | |
## Mythen sind wahr, auch wenn sie nicht stimmen | |
Im Gegensatz zu diesem verkündet historische Aufklärung keine ewigen | |
Wahrheiten, sondern sieht in historischen Erkenntnissen einen Zeitkern, der | |
dafür sorgt, dass Erkenntnisse revidiert werden müssen, wenn plausiblere | |
Erklärungen, neue Quellen oder stichhaltigere Deutungen auftauchen. An die | |
Stelle historischer Aufklärung treten beim SVP-Trompeter Köppel | |
psychologisch motivierte Langzeitspekulationen. Für ihn wussten „die“ | |
Eidgenossen nach der Niederlage von 1515, dass „außenpolitisches | |
Stillesitzen“ angesagt war und „klugerweise“ ein Verzicht darauf, | |
„potenzielle Kunden anzugreifen“, an die man weiterhin Soldaten vermieten | |
wollte. Wollte er damit sagen, dass die „Neutralität“ nur ein Codename für | |
die „Händlerlogik“ ist oder dass 1515 mit „Neutralität“ eben gar nich… | |
tun habe? | |
Wie auch immer. Köppel bescheinigt kritischen Historikern pauschal „Mangel | |
an Weisheit“ und schlägt sich in der Frage „Mythos oder Wahrheit?“ – | |
Winkelried gleich – entschlossen auf die Seite des Mythos. Denn Mythen hält | |
der Mythologiker Köppel für „wahr, auch wenn sie nicht stimmen“. Auf diese | |
Ptolemäer-Idee muss man erst mal kommen. | |
Entscheidend ist für Köppel nicht Nähe oder Distanz von Mythen zu Fakten, | |
sondern ihre profane „Brauchbarkeit“: „Nützliche Mythen überleben, weil… | |
gebraucht werden und freiwillig geglaubt werden.“ In dem Maße, wie sich | |
nationale Mythen im SVP-Wahlkampf als nützlich erweisen, werden sie zu | |
„mehr als Märchen“ herausgeputzt, nämlich zu „Vorratsspeichern an | |
Erfahrungswissen“. Was der Zauberstab des Amateurhistorikers berührt, | |
verwandelt sich in eine konfuse Mixtur aus Legenden, Märchen, Mythen, | |
Glauben und Wissen. Hauptsache, sie ist irgendwie, irgendwem, irgendwann | |
„nützlich“. Köppel kaschiert mit seiner verquasten Mythologik nur die | |
Herkunft seiner Parolen aus dem chauvinistischen Stammtischgerede. | |
2 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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