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# taz.de -- Kriegsangst in Litauen: Die allgegenwärtige Bedrohung
> Die Litauer amüsieren sich über die Maßnahmen ihrer Regierung im Fall
> eines russischen Angriffs. Sie halten diese für unzureichend.
Bild: 10. Mai 2015: Die litauische Armee simuliert die Niederschlagung separati…
KLAIPEDA/SIAULIAI taz | „Im Fall eines russischen Luftangriffs hätte
Klaipeda keine Chance“, sagt Arnold Piklaps. Zwei Kilometer nördlich der
Stadt liegt ein Erdölterminal, acht Kilometer südlich die neue
Flüssiggasanlage. Auch russische Panzer könnten schnell hier sein: „Bis zur
Grenze des Kaliningrader Gebiets sind es nur 50 Kilometer.“
Klaipeda, das ist Litauens Zugang zur Welt. Eine Hafenstadt an der Ostsee,
knapp 170.000 Einwohner und ein bedeutender Umschlagplatz für russisches
Erdöl. Bis 1945 hieß Klaipeda Memel und war die nördlichste Stadt des
deutschen Reichs. Schon im Zweiten Weltkrieg waren die Hafenanlagen so
stark umkämpft, dass bei Kriegsende nur noch sechs Menschen in der Stadt
gelebt haben sollen. Eine derjenigen, die auf dem Land überlebt haben, war
die Mutter von Arnold Piklaps. Wenn es um Krieg geht, dann weiß der
Deutschstämmige aus ihren Erzählungen, was er bedeutet. Der 40-jährige
ausgebildete Informatiker leitet das Simon-Dach-Kulturzentrum in Klaipeda.
Und nun sieht es so aus, als könnte der Stadt erneut Krieg drohen. Keine
Woche vergeht, in der nicht russische Militärflugzeuge auf dem Weg vom
russischen „Festland“ nach Kaliningrad von Abfangjägern der Nato gestellt
werden. Litauens Regierung hat 2014 den Verteidigungshaushalt um 50 Prozent
erhöht und die gerade erst abgeschaffte Wehrpflicht wieder eingeführt.
Staatspräsidentin Dalia Grybauskait gilt in der EU als schärfste Kritikerin
Wladimir Putins. „Litauen sieht sich einer realen Bedrohung gegenüber“,
stellte sie kürzlich fest, „ es muss in der Lage sein, wenigstens drei Tage
ohne fremde Hilfe Widerstand gegen einen Aggressor leisten zu können.“
## Einziger Nato-Stützpunkt im Baltikum
Doch obwohl Arnold Piklaps die Kriegsgefahr gerade noch so plastisch
beschrieb, muss er bei der Aufzählung der Maßnahmen seiner Regierung
lachen. Ganz besonders über den „Survival Guide“, den das
Verteidigungsministerium vor einigen Monaten zusammenstellte und in dem
sich Sätze finden wie: „Schüsse vor ihrem Fenster bedeuten nicht das Ende
der Welt.“ Außerdem soll die Bevölkerung alte Luftschutzbunker reaktivieren
und den Feind bei einem hybriden Angriff über Twitter oder Facebook
lahmlegen. Piklaps meint dazu: „Eigentlich sollte ich das Buch wohl lesen.
Aber 102 Seiten über Zivilverteidigung?“ Zudem gibt es den Survival Guide
nicht umsonst, sondern die Litauer müssen ihn kaufen. Oder können ihn im
Internet herunterladen. „Bleibt nur zu hoffen, dass dies bei einem hybriden
Angriff dann noch möglich ist.“
Was also ist los in Litauen? Will die Regierung in Vilnius mit ihren
Maßnahmen Angst vor einem Krieg schüren, die die Bevölkerung gar nicht
empfindet? Oder hofft sie, die Nato dazu zu bringen, endlich Einheiten im
Baltikum zu stationieren, wie es der Verteidigungsminister gerade wieder
gefordert hat?
Seit 2004 sind die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen
Mitglied der Nato. Truppen des nordatlantischen Bündnisses gibt es mit
Rücksicht auf russische Befindlichkeiten in den ehemaligen Sowjetrepubliken
bisher nicht. Eine Ausnahme bildet die Nato-Basis im litauischen Siauliai.
In dieser Stadt, etwa 150 Kilometer nordöstlich von Klaipeda, unterhielten
schon der Zar und die Rote Armee einen bedeutenden Militärstützpunkt, nun
hat ihn die Nato übernommen.
„Baltic Air Policing“ heißt ihre Aufgabe; da die baltischen Staaten über
keine eigenen Kampfflugzeuge verfügen, sind die Nato-Partner für die
„Überwachung des baltischen Luftraums“ zuständig. Jeweils zwei
Partnerstaaten mit je 4 Flugzeugen und 100 Soldaten sind in Siauliai
stationiert. Alle vier Monate werden sie bei einem „Handover Day“ abgelöst,
ein Ereignis, das auch für die Kneipen der Stadt seine Bedeutung hat. Das
ist aber auch schon fast das Einzige, was die Einwohner vom Antritt der
neuen Soldaten mitbekommen.
## Handover Day mit Selfies
Anfang Mai war es wieder so weit. Einen Wachwechsel in einer Zeit, in der
so viele von einem neuen Kalten Krieg reden, stellt man sich eigentlich
anders vor. Doch der Handover Day kennt keine Machtdemonstration mit
Eurofighter, Falcon oder Mirage. Statt Strammstehen sind Selfies angesagt,
und nur die polnischen Soldaten, die an diesem Tag mit Orden verabschiedet
werden, mühen sich um eine halbwegs militärische Gangart.
Colonel Marco Bertoli, 44 Jahre alt, ist der italienische Detachment
Commander, er stammt aus Livorno und ist gerade einmal 1,60 Meter groß. Wie
viele seiner Kollegen, denn im Cockpit eines Abfangjägers ist nicht viel
Platz. Für sein Alter hat Bertoli schon ziemlich viele graue Haare, auch
das unterscheidet ihn nicht von seinen Kameraden. 240 Starts haben sie in
den vier Monaten in Siauliai hinter sich gebracht. Das sind
durchschnittlich zwei pro Tag.
Auf der Internetseite des litauischen Verteidigungsministeriums wird
akribisch aufgelistet, warum die Abfangjäger aufsteigen mussten. In der
Regel ist dann eine russische MIG oder Iljuschin ohne angemeldeten
Flugplan, ohne Kontakt zur Bodenkontrolle oder ohne eingeschalteten
Transponder unterwegs. „So sind diese Flugzeuge eine Gefahr für die zivile
Luftfahrt, für Passagiermaschinen“, sagt Marco Bertoli.
Für die Nato-Piloten heißt das: Start, Einkreisen des russischen Flugzeugs,
Kontakt aufnehmen und hoffen, dass der Pilot gegenüber einsieht, dass es
ein Fehler war, so völlig losgelöst von der Erde – also ohne normale
Kontrolle – zu fliegen. Zu einem wirklich ernsten Zwischenfall sei es, so
Bertoli, in seiner Zeit nicht gekommen. „Unsere Gegenüber sind Profis, die
wissen, wann sie einlenken müssen. Es gab nie, nein, nie eine Verletzung
des litauischen Luftraums.“
## 30 Flugzeuge auf einmal
In den politischen Verlautbarungen und Medienberichten der letzten Wochen
hörte sich das oft anders an. Doch warum agieren die russischen Flugzeuge
so? Und warum hat sich die Zahl der Vorfälle seit dem Beginn des
Ukraine-Kriegs derart erhöht, dass die Nato am 8. Dezember 2014 gleich 30
russische Flugzeuge abfangen musste? „Fragen Sie die Politiker“, sagt Marco
Bertoli nur.
Einer, der darauf eine Antwort haben müsste, ist Marijus Velicka, Litauens
Vizeverteidigungsminister. Wenn der 36-jährige Jurist spricht, kommt in
zwei Sätzen dreimal das Wort offensiv vor. Tatsächlich jedoch scheint auch
der Vizeverteidigungsminister ziemlich ratlos. Deutlich wird nur: Wenn die
Russen in der Offensive sind, dann ist Litauen in der Defensive.
Tatsächlich sieht sich das kleine Land mit seinen nicht einmal drei
Millionen Einwohnern plötzlich Problemen gegenüber, die es mit dem
Wiedererlangen der Unabhängigkeit 1991 schon gelöst glaubte. In Chile sucht
man derzeit nach Absatzmöglichkeiten für litauischen Käse, den man
eigentlich nach Kaliningrad exportieren wollte, dies aber wegen der
russischen Sanktionen nun nicht kann.
## Gerüchte machen die Runde
Und obwohl die russische Minderheit im Land mit nur 6 Prozent klein ist,
haben viele plötzlich das Gefühl, dass wieder mehr Russisch und weniger
Litauisch gesprochen wird. Gerüchte über russische Agenten, die versuchen,
in der polnischen Minderheit Unruhe zu stiften, machen die Runde. Dass die
Regierung die Ausstrahlung des russischen Auslandssenders RTR Planeta
verboten hat, findet fast überall Zustimmung. Die machen Kriegspropaganda,
heißt es in der Bevölkerung.
Und daher gibt es im Land auch keine Debatte darüber, ob es richtig war,
die Wehrpflicht wieder einzuführen. Nur 3 Abgeordnete von 140 stimmten im
Parlament gegen das Gesetz; seit Ende März, als es verabschiedet wurde,
haben sich bereits 1.500 Freiwillige gemeldet. Zweifel daran, dass sich bis
September noch einmal so viele stellen werden und das erste Kontingent von
3.000 dann ganz ohne jede Pflicht stehen wird, gibt es nicht.
Einer dieser Freiwilligen ist Liudovikas Jakavicius. Er ist bereits 30
Jahre alt und spricht kein Litauisch. Seine Muttersprache ist Spanisch,
seine Familie wanderte wegen der Okkupation des Landes durch die Rote Armee
nach Argentinien aus. Jakavicius studierte in Spanien Politik und hatte
dort zwei gute Jobangebote. Trotzdem hat er sich für den Dienst in der
litauischen Armee entschieden. Lernt dafür eine nicht gerade einfache
Sprache und versucht auch noch 35 Kilo Übergewicht loszuwerden. Warum nur?
Seine Antwort ist schlicht: „Litauen braucht ein starke Armee.“
## Viele Rückkehrer
Liudovikas Jakavicius ist mit seiner ungewöhnlichen Geschichte kein
Einzelfall. Im Baltikum gibt es Tausende Familien, die ihre Heimat nach dem
Zweiten Weltkrieg verlassen haben und seit dem Wiedererlangen der
Unabhängigkeit zurückgekehrt sind. Ihr Patriotismus ist ungebrochen. Als
der russische Zar Mitte des 19. Jahrhunderts verbot, litauische Bücher zu
drucken, schmuggelte Liudovikas Urgroßvater diese über die
deutsch-russische Grenze bei Tilsit. Der Kampf gegen die Russen, er dauert
in Litauen nun schon über 200 Jahre.
Wird es nun bald wieder Krieg mit diesen Russen geben? „Die Situation ist
angespannt, aber ich habe keine Angst“, sagt Liudovikas Jakaviius.
In Klaipeda steht ein Denkmal, das aus grauem und rotem Granit besteht, der
für knapp 300.000 Euro aus China importiert wurde. Es ist eines der größten
Denkmäler des Landes, errichtet zum Jahrestag der Annektion des Memellandes
durch Litauen 1923, und trägt die Inschrift: „Wir sind ein Volk, ein Land,
ein Litauen“. Ein Satz, der nicht nur bei Deutschen unangenehme
Assoziationen auslöst.
## Militärunterricht gewünscht
Für den Informatiker Arnold Piklaps ist „dieses Denkmal Ausdruck für den
Minderwertigkeitskomplex unseres Landes“. Wie bitte? Für einen Nichtlitauer
ist das kaum verständlich und bedeutet doch so viel: Weil wir ein so
kleines Volk sind und so lange unterdrückt waren, müssen wir erst recht
zeigen, dass wir stark sind. Selbst wenn wir genau wissen, dass wir
eigentlich keine Chance haben.
Auch deshalb lacht Arnold Piklaps, lachen die Litauer über den Survival
Guide der Regierung. Er ist ihnen zu wenig. Sie diskutieren jetzt über
Militärunterricht an Schulen. „Eine bedenkenswerte Idee“, sagt Arnold
Piklaps. Den gab es übrigens schon einmal, zu Sowjetzeiten.
26 May 2015
## AUTOREN
Sabine Herre
## TAGS
Nato
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Litauen
Ukraine-Konflikt
Lettland
Lettland
Schwerpunkt Überwachung
Leopard 2
Russland
Verteidigungsetat
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