| # taz.de -- Reise nach Litauen: Kalter Krieg frisch aufgewärmt | |
| > Die Baltenrepublik bietet phantastische Aussichten auf Meer, Strand und | |
| > Dünen. Zum Gruseln gibt es den Besuch einer ehemaligen Atomraketenbasis. | |
| Bild: Kurische Nehrung: Blick über die Große Düne auf die Bucht von Nida | |
| Der größte Feind des Soldaten ist die Langeweile. Auch die jungen Briten | |
| auf dem Passagierdeck der „Athena Seaways“ haben diesem Gegner nicht viel | |
| entgegenzusetzen. Träge lümmeln sie in den Polstern der Bordbar, über sich | |
| große Bildschirme, aus denen russische und litauische TV-Stimmen plärren. | |
| Dass die Truppen während der Überfahrt keinen Alkohol trinken dürfen, macht | |
| die Sache nicht kurzweiliger. Zwei Soldatinnen starren lustlos in ihr | |
| Smartphone, ein Kahlkopf hat Tisch und Stühle beiseitegeräumt und übt | |
| einsam seine Liegestützen. | |
| Die Lastwagenfahrer auf der Fähre haben es besser. Die Atmosphäre ist | |
| gesellig. Die zwanzigstündige Passage zwischen Kiel und Klaipeda geht | |
| sechsmal pro Woche, viele Trucker kennen sich seit Jahren. Und obwohl ein | |
| Schild vor Alkohol warnt, wird kurz nach dem Auslaufen bereits kräftig | |
| gebechert. | |
| „Alkohol ist manchmal ein Problem an Bord. Nach den langen Stunden am | |
| Steuer ist die Bar bei den Fahrern beliebt“, sagt Christoph Knobloch vom | |
| Schiffsbetreiber DFDS Seaways mit Blick auf die Baltikum-Urlauber, die von | |
| den Fahrern an Bord nicht gestört werden sollen. | |
| ## Der Ukraine-Konflikt ist allgegenwärtig | |
| Doch was an diesem Abend wirklich stört, sind nicht die Trucker, sondern | |
| die gelangweilten Soldaten. Was haben die vor? Wo fahren die hin? Während | |
| die Briten vor sich hin dämmern, zeigt der russische TV-Sender über ihren | |
| Köpfen Bilder aus Donezk von zerstörten Häusern und weinenden Frauen. Ist | |
| das Wahrheit? Staatspropaganda? Oder irgendwas dazwischen? | |
| Der Ukraine-Konflikt, die internationale Krise und die Konturen eines neuen | |
| kalten Krieges sind mit Händen zu greifen. Für Passage-Manager Knobloch ist | |
| das nichts Neues. Die Folgen des Wirtschaftsboykotts gegen Russland spürt | |
| die Schiffslinie bereits seit Monaten. Warenaustausch und Speditionsverkehr | |
| über die Ostsee sind stark zurückgegangen. | |
| Für das Nato- und EU-Land Litauen ist die Richtung hingegen klar: je | |
| unabhängiger von Russland, desto besser. Als das Schiff in den Hafen von | |
| Klaipeda einläuft, passiert es einen im Bau befindlichen Erdgas-Terminal. | |
| Die Energie soll künftig nicht nur aus Russland, sondern über den Seeweg | |
| auch aus anderen Ländern importiert werden können. | |
| ## Heute kommen Nato-Soldaten | |
| Gastgeber Rolandus Sipavicius, der uns am Kreuzfahrtterminal empfängt, | |
| macht deutlich, dass sein Land die Russen zwar abgeschüttelt, aber nicht | |
| vergessen hat: „Für Moskau war Klaipeda ein wichtiger Militärhafen, um im | |
| Ostseeraum schnell operieren zu können. Bei Unruhen in der DDR hätte man in | |
| kürzester Zeit Panzer in Mukran auf Rügen anlanden können.“ | |
| Dass heute in Gegenrichtung Nato-Soldaten an Russland heranrücken, | |
| empfinden viele Litauer hingegen als alternativlos. Zumindest für die | |
| mittlere und ältere Generation ist Putins Politik eine alarmierende | |
| Erinnerung an die Zeit der sowjetischen Besatzung. Dass die jungen Litauer | |
| angesichts guter Jobs im EU-Raum kein Russisch mehr lernen wollen, kann | |
| Rolandus nicht nachvollziehen: „Man muss unterscheiden zwischen der Politik | |
| und der Sprache und nicht gleich alles Russische verdammen“, meint der | |
| Übersetzer. | |
| Die Idee einer kompletten Unabhängigkeit von Russland ist ohnehin Illusion. | |
| Litauens Abhängigkeit von russischen Gas-, Erdöl-und Stromlieferungen liegt | |
| bei fast 100 Prozent. Der Erdgas-Terminal und die Suche nach einem Partner | |
| zur Wiederinbetriebnahme des Atomkraftwerks Ignalina haben da eher | |
| symbolischen Wert. Auch die vielen gut betuchten Russen aus Kaliningrad, | |
| die in Litauen Urlaub machen, sind wegen ihrer Kauflust gern gesehene | |
| Gäste. | |
| ## Nur wenige Russen | |
| Was den Alltag angeht, halten sich die Litauer auf ihren entspannten Umgang | |
| mit den Russen viel zugute. Man gibt sich selbstbewusst. Anders als der | |
| Rest des Baltikums ist das kleine Land kaum russifiziert worden. Während in | |
| Estland mehr als 30 Prozent Russen leben, sind es in Litauen gerade 7 | |
| Prozent. | |
| Fernab von Stadt und Küste, auf Litauens plattem Land, hat auch der Westen | |
| längst Pflöcke eingeschlagen. Die Sanierung des frisch renovierten | |
| Heimatmuseums in Plateliai, einem ausgestorben wirkenden Dorf im | |
| Nationalpark Zemaitija, ist komplett aus EU-Mitteln finanziert. | |
| Das von Aldana Kuprelyté geleitete Haus bietet einen guten Einblick in | |
| Litauens ländliche Geschichte. Wandgroße Reproduktionen historischer Fotos | |
| zeigen bäuerliche Arbeiter aus dem 19. Jahrhundert bis in die Zeit der | |
| sowjetischen Kolchosen. | |
| „Diese Menschen“, sagt die Historikerin und zeigt auf das älteste Bild | |
| ihrer Sammlung, „hatten es nicht leicht, aber sie besaßen trotzdem Würde | |
| und eine eigene Kultur.“ Dann zeigt sie auf das Bild einer sozialistischen | |
| Erntebrigade: „Aber die dort, die waren nur Pack. Elende Lumpen und Pack.“ | |
| Das Trauma der Fremdherrschaft und die Hinterlassenschaften sowjetischer | |
| Willkür sind in der seereichen Gegend noch an anderer Stelle zu | |
| besichtigen. Unweit von Plateliai, verborgen im Wald, liegt die ehemalige | |
| Atomraketenbasis Plokstine, wo von 1962 bis 1979 acht Atomsprengköpfe auf | |
| Ziele in Westeuropa gerichtet waren. | |
| ## Gruselkabinett im Wald | |
| „Wir wussten, dass die Russen irgendwas im Wald treiben, aber wir wussten | |
| nicht, was es war. Es war unmöglich, in die Nähe zu kommen“, erinnert sich | |
| Fremdenführerin Ausra Brazdeikyté beim Gang durch die weit verzweigten | |
| unterirdischen Bunkeranlagen, die – ebenfalls mit EU-Hilfe – ein sehr | |
| spezielles Erlebnis aus Gruselkabinett und Geschichtsstunde bereithalten. | |
| Für sensible Naturen ist das nichts. Enge Gänge führen durch schwere | |
| Eisentüren, vorbei an Rohrleitungen und Wachsfiguren, die Funker und | |
| Atomingenieure darstellen oder Gasmaske und Schutzanzug tragen. Madame | |
| Tussauds meets Dr. Seltsam. Der Geruch von Raketentreibstoff und rostigem | |
| Eisen scheint noch immer in der Luft zu hängen. Und schließlich steht man | |
| am oberen Rand eines leeren Raketensilos und blickt in einen 25 Meter | |
| tiefen Trichter. | |
| Drei Stunden später auf einer Segelyacht im Kurischen Haff könnte der | |
| Gegensatz zur Klaustrophobie des Atomzeitalters kaum größer sein. Es ist | |
| ein ungewöhnlich schöner Tag, der Himmel blau, der Horizont weit. Die | |
| riesigen Dünenlandschaften der Kurischen Nehrung strahlen hell in der | |
| Sonne. Vom Anleger in Nida ist es über den schmalen Landstreifen der | |
| Nehrung nicht weit bis zur Ostsee, wo sich ein neunzig Kilometer langer, | |
| nahezu leerer Sandstrand offenbart. | |
| ## Thomas Manns Ferienort Nida | |
| Die Schönheit der Küste und die Lieblichkeit von Orten wie Juodkranté oder | |
| dem einstigen Thomas-Mann-Ferienort Nida mit alten Kirchen und bunten | |
| Holzhäusern könnten suggerieren, es habe hier einst eine bessere, | |
| unschuldigere Welt gegeben. Etwa, als dort noch Deutsche lebten, die die | |
| Gegend Memelland nannten und einen heute fast vergessenen ostpreußischen | |
| Dialekt sprachen. | |
| Dass es derart idyllisch nicht gewesen sein kann, lässt schon eine | |
| Fotografie von Thomas Mann und seiner Familie aus dem Jahr 1931 erahnen. | |
| Der eitle Dichterfürst steht am Strand von Nida in offenbar launiger | |
| Stimmung fröhlich winkend auf einem Stein, um ihn herum Ehefrau Katja und | |
| die Kinder, die pflichtschuldigst und mit gezwungenem Lachen zu dem | |
| Familientyrannen aufblicken. | |
| Thomas Mann ist nur dreimal in Nida gewesen, bevor ihn der Ekel vor den | |
| Nazis 1933 aus dem Land trieb. Doch je länger man das Bild der Mann-Familie | |
| anschaut, desto mehr ahnt man: Die Angst und die Neurosen des Jahrhunderts | |
| sind längst voll entwickelt, lange vor Vertreibung, Deportation und | |
| Atomraketen. | |
| 20 Apr 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Jahrfeld | |
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