# taz.de -- Ost-West-Konfrontation in Polen: Keine Kippen aus Kaliningrad | |
> Zwischen Polen und Kaliningrad gab es einen soliden Schwarzhandel. Dann | |
> kam die große Politik. Nun ist nichts mehr wie zuvor. | |
Bild: Polen, Bartoszyce: Die letzte Wechselstube vor der Grenze zu Russland, Ka… | |
BARTOSZYCE taz | Weil es mit Russland nicht mehr so gut läuft, sitzt Jarek | |
vor einem geschlossenen Kiosk, starrt auf sein Smartphone, wartet. Vor ihm | |
eine vierspurige Asphaltstraße, über die niemand fährt. Neben ihm ein | |
Wachhund ohne Aufgabe, der gelegentlich bellt. Jarek, der eigentlich anders | |
heißt, streicht sich über seinen Bauch, wie eine schwangere Frau. Er wartet | |
auf seinen Bruder, den er von hier aus sehen kann – dort hinter dem | |
Schlagbaum, einem Grenzposten zwischen Polen und Kaliningrad. Die | |
Grenzschützer durchsuchen sein Auto. Sie werden nichts finden. Heute hat | |
Jareks Bruder nur billiges Benzin gekauft. | |
„Kaliningrad ist schön“, sagt Jarek. Die Gebäude, die Stadt. Jarek war | |
schon oft im Ausland, in Russland zum Einkaufen, in Deutschland, in den | |
Niederlanden, um billige Häuser zu bauen. Gerade arbeitet er auf polnischen | |
Baustellen, schwarz. Jareks Bruder ist arbeitslos. | |
„Wenn du mehr Benzin über die Grenze bringen willst, als erlaubt“, sagt | |
Jarek, „musst du die Russen bezahlen.“ Vier Złoty. Einen Euro. Und | |
Zigaretten? 50 Euro, manchmal auch 80. Jarek und sein Bruder verstecken sie | |
stangenweise unter dem Fahrersitz, im Polster der Rückbank, in der | |
Verkleidung der Türen, aber das wissen die Grenzschützer. | |
Weißt du, welche der russischen Grenzschützer gegen Geld nicht so genau in | |
den Autos suchen? „Alle.“ | |
Eigentlich fahren die Brüder oft zusammen nach drüben, kaufen Zigaretten, | |
verkaufen sie weiter. Jetzt vermiest ihnen die Weltpolitik das Geschäft. | |
Die Grenze ist ein grüner Streifen. Rund 200 Kilometer von der Ostsee bis | |
nach Litauen, markiert durch Holzpfähle: Rot-weiße im Süden, rot-grüne im | |
Norden. Sie führt durch Wälder und an Feldern vorbei, die so gleich | |
aussehen, dass mancher Spaziergänger sie versehentlich übertritt und | |
aufgegriffen wird. Diese Grenze trennt nicht nur Länder voneinander, Europa | |
von Russland, Westen von Osten und Gut und Böse. | |
Sonst ist hier immer Stau, zwei, drei Kilometer lang. Fünf Stunden | |
Wartezeit, nur um nach Kaliningrad zu kommen. Doch Anfang Juli hat Polen | |
seine Grenzkontrollen verschärft. Bis dahin galt ein Abkommen, das die | |
Regierung mit Russland geschlossen hatte. Anwohner brauchten seit 2012 kein | |
teures Touristenvisum. „Früher war die Grenze ein schöner Ort im Wald“. | |
Kleine Visaregelung nennt sich diese Besonderheit in der Europäischen | |
Union. Eine versöhnliche Geste in Zeiten festgefahrener Weltpolitik. Jetzt | |
hat Polen sie zurückgenommen, offiziell wegen erhöhter Sicherheitsrisiken | |
während des Nato-Gipfels und des Papstbesuchs. Doch auch nach diesen | |
Ereignissen ist die Sonderregelung nicht wieder eingeführt worden. Auf | |
unbestimmte Zeit. | |
1,3 Millionen Grenzübertritte registrierte Polen im vergangenen Jahr mit | |
diesem Visum. Was bedeutet das für den Alltag der Anwohner? | |
Da sind diejenigen, die ganz offiziell vom Handel mit Russland | |
profitierten. Zum Beispiel Mirek. Er sitzt in einer Bretterbude, 100 Meter | |
hinter dem Schlagbaum, auf polnischer Seite. Wechselstube, Café und | |
Versicherungsbüro in einem. Zwei Stunden seiner langen Tagesschicht sind | |
vorüber und kein Kunde hat angehalten. Mirek arbeitete früher als | |
Grenzbeamter, sah die vielen Gebrauchtwagen, die Russen aus Europa | |
mitbrachten. Er stand an der Grenze, als die EU Russland mit einem Embargo | |
belegte und die Lkw mit polnischen Waren wegblieben. Aber leere Straße? | |
Er öffnet trotzdem jeden Tag, für die Stammkunden. Vielleicht kommt ja | |
einer. | |
Wenige hundert Meter von der Grenze entfernt steht ein Supermarkt. Windeln, | |
Schokolade und Sekt stapeln sich hier. Erst 2015 war die Filiale für | |
russische Reisende eröffnet worden. Lebensmittel sind hier günstiger als in | |
Kaliningrad. Russen kommen auch, um zum Zahnarzt zu gehen, Autos reparieren | |
zu lassen, für Luxusartikel und Schönheitsoperationen. Heute bleiben viele | |
Flächen auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt frei. | |
Und dann gibt es den inoffiziellen Handel in Bartoszyce, einer Kleinstadt, | |
16 Kilometer von Russland entfernt, wo Passanten im Schatten der Mauer acht | |
Złoty für russische Zigaretten zahlen. Die Verkäufer: Rentner mit | |
gebügelten Bundfalten. Und dann wuchtige Männer, die aussehen, als | |
vertickten sie Härteres als Zigaretten. Und eine junge Frau: Grauer Pulli, | |
blonder Zopf und eine Umhängetasche, wie sie Studentinnen tragen. Darin | |
liegen dünne Mentholzigaretten die bislang keiner wollte. „Das ist alles, | |
was ich noch habe“, sagt sie, und schließt ihre Tasche wieder. Sie will | |
nicht reden, hat Angst vor der Polizei, sagt nur: „Wir können keine neuen | |
mehr holen.“ Und: „Wenn die alle sind, habe ich kein Einkommen mehr.“ Sie | |
lacht. Ihr Zahnfleisch ist wund. | |
## „Ich diene den Menschen, nicht der Regierung.“ | |
In Polen heißt es, es gebe A-Regionen, in denen sich die Wirtschaft gut | |
entwickelt hat, die Arbeitslosigkeit auf unter drei Prozent gesunken ist. | |
Es gibt die schwächeren B-Regionen, mache Städte im Osten zum Beispiel. Und | |
es gibt noch Orte wie Bartoszyce, wo alles im Argen liegt. Hier regiert | |
Piotr Petrykowski, ein linker Bürgermeister, Gedichteschreiber, gewählt mit | |
nur zehn Stimmen Vorsprung vor dem Gegenkandidaten. Er sagt: „Ich diene den | |
Menschen, nicht der Regierung.“ | |
Bartoszyce ist so etwas wie ein Klischee der Region: Preußische Geschichte, | |
damals noch Bartenstein genannt, im ersten Weltkrieg Paul von Hindenburgs | |
Hauptquartier. Später von der roten Armee überrannt, von polnischen | |
Kommunisten in Bartoszyce umbenannt. Bis heute wirbt die Stadt mit ihrer | |
Vielfältigkeit: den deutschen und ukrainischen Minderheiten, den Polen. Die | |
Stadt steht dafür, dass sich die Namen von Territorien ändern, Nachbarn mal | |
Freunde sind und mal Feinde, die Entscheidungen darüber aber oft weit | |
entfernt getroffen werden. So wie heute. Nicht der Bürgermeister bestimmt | |
darüber, wie es der Stadt geht, sondern Jean-Claude Juncker, der polnische | |
Präsident Andrzej Duda und Wladimir Putin – so empfindet es Piotr | |
Petrykowski. | |
Der Bürgermeister, millimeterkurze Haare, grauer Anzug und eine Krawatte | |
mit dem Emblem der Stadt, ist als Kind mit dem Moped seines Vaters die | |
Grenze abgefahren, rauf und runter. Der Vater, ein Grenzschützer. | |
Würde sich der Bürgermeister aus dem Fenster seines Büros im zweiten Stock | |
der Stadtverwaltung lehnen, könnte er das Rentnerpaar, die wuchtigen Männer | |
und die blonde Frau dabei beobachten, wie sie Schmugglerware verkaufen. | |
„Wir haben kein Sicherheitsproblem mit Russen“, sagt er. „Wir bekommen | |
eines mit der Sicherheit, wenn die Grenze weiter für Anwohner verschlossen | |
bleibt.“ Keine Arbeit, keine Absicherung durch den Staat, solche Leute, | |
sagt Petrykowski, könnten kriminelle Machenschaften beginnen. Er will, dass | |
die Leute schmuggeln können. Die polnische Regierung schließt die Grenze | |
für Anwohner, weil ihnen nicht viel bleibt, um die eigene Macht zu | |
demonstrieren. Die großen Konflikte zwischen Westen und Osten sind in der | |
Provinz im polnischen Norden angekommen, wo die Grenze eigentlich nicht | |
mehr bedeutet, als dass Menschen im Schatten von Mauern stehen, Jarek auf | |
seinen Bruder wartet und auf das nächste Geschäft, damit er nicht schon | |
wieder in Deutschland arbeiten muss. Und dann sind da diejenigen, die | |
längst vergessen hatten, wie nah Russland ist. | |
## Schmutzige Politik | |
Irene Ziemocka steht hinter ihrer eigenen kleinen Grenze, einem Gartenzaun, | |
der Beete umsäumt und Obstbäume, Äpfel, Birnen, Pflaumen. Sie zupft | |
Unkraut, während sie über Politik schimpft. Die Probleme werden durch die | |
EU größer, Politik wird schmutziger. „Dann müssen wir sie sauber machen“, | |
sagt die Nachbarin in Kittelschürze, die ihr von der anderen Seite des | |
Zauns zuschaut. Hinter ihnen steht der Jugendclub, in dem Kinder | |
Tischtennis spielen – finanziert mit Geldern der EU. | |
Ziemockas Welt reicht von hier aus nur nach Süden, bis nach Bartoszyce. | |
Dahinter kommt das, was der Fernseher erzählt. Sie lebt in der Siedlung | |
Piesele, einer Ansammlung von Häusern, zwei Kilometer von der Grenze | |
entfernt. Ziemocka ist 65 Jahre alt. Sie hat einen kräftigen Körper, | |
passende Beine, die offenen Haare hält sie mit einer Spange zurück wie die | |
Mädchen. Früher, erzählt sie, fuhr sie manchmal über die Grenze, schoss | |
Fotos. Von sich, der Touristin, in einem fremden Land, das nur wenige | |
Schritte von ihr entfernt liegt. | |
Neulich hatten uniformierte Männer in Jeeps sie angehalten, nach ihrem | |
Namen gefragt und wohin sie denn ginge. Spazieren, hatte sie geantwortet | |
und ihren Ausweis gezeigt. „Die Kontrollen sind okay“, sagt Ziemocka, | |
„vielleicht gibt es ja schlechte Menschen, die sich über die Grenze | |
schleichen.“ So heißt es im Fernsehen. Grenzbeamte überprüfen neuerdings in | |
Ziemockas Dorf die Nummernschilder Fremder. Die Nato hat 50 Wachttürme | |
aufgestellt, auf denen Kameras jede Bewegung im Umkreis kontrollieren, und | |
kürzlich ein Training in der Nähe veranstaltet. Ein Sprecher des | |
Innenministeriums teilt mit, dass man nun eine Risikoanalyse über die | |
Grenzsituation vornehmen wolle, „um Sicherheit zu gewährleisten“. Wessen | |
Sicherheit sie von wem bedroht sehen – darauf antwortet er nicht. Und so | |
beleben die Regierungen am Rande Europas ein altes Feindbild, das die | |
Menschen vor Ort längst überwunden hatten – weil sie lieber günstige | |
Schokolade kaufen oder Benzin, Zigaretten verkaufen, um nicht in Armut zu | |
leben, nehmen, was die auf der anderen Seite der Grenze zu geben haben. | |
„Früher war die Grenze ein schöner Ort im Wald“, sagt Irene Ziemocka, als | |
Kinder liefen sie dorthin, wenn sie Lust auf Äpfel hatten, auf Birnen, | |
Pflaumen oder saftige Mirabellen, die dort an Bäumen hingen. Eine halbe | |
Stunde brauchten sie, über Felder hinweg, am Waldrand entlang, bis dort die | |
Männer am Zaun standen. Sie, die Sowjets, haben den polnischen Kindern | |
zugewinkt. | |
Stehen die Obstbäume noch? „Weiß ich nicht“, antwortet Irene Ziemocka, �… | |
habe doch jetzt meine eigenen.“ | |
3 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Christina Schmidt | |
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