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# taz.de -- ESC-Kolumne Genderwahn in Wien #6: Ein Lied kann eine Lüge sein
> War da nicht was mit der Krim? Die russische Interpretin Polina tritt
> beim ESC mit „Million Voices“ an – einem süßlichen Friedenslied.
Bild: Polina singt ihr Friedenslied. Im Hintergrund Artilleriefeuer.
Zwei russische TV-Stationen sind Mitglied der Eurovision. Und die oberste
Eurovisionsbehörde in Genf legt Wert auf die Aussage, man arbeite mit einem
Sender, nicht mit einem Land zusammen. Diese kleine Finesse im Sprachlichen
bedeutet: Weder billige man russische Politik noch mische man überhaupt im
Politischen mit.
Russland nimmt – Krim hin, Ostukraine her – am ESC teil. Mit gewisser
Gewogenheit könnte man sagen: Voriges Jahr in Kopenhagen war es unfein, die
Tolmatschewa-Zwillinge als Russlands Kandidaten auszubuhen, 2009 war
andererseits in Moskau beim ESC abzusehen, welche politische Entwicklung
das Land nehmen würde, inklusive Homohatz und unfreundlichen Leuten rund um
den roten Platz.
Und nett war es neulich in London nicht, als beim ESC-Jubiläumskonzert Dima
Bilan schwerstens ausgepfiffen wurde. Andererseits war es typisch, dass
diese Missfallensbekundungen aus der Sendefassung herausgeschnitten wurden:
Soll doch nichts den kleinen Eurovisionsfrieden stören.
Russische ESC-Beiträge zeichnen sich stets durch extraexzellente
Produktionen aus – meist mischen US-amerikanische Masterminds an den
Mischpulten mit. So gewann 2008 Russland mit Dima Bilan und „Believe“ in
Belgrad: Timbalake hatte für den letzten Pfiff am Lied mitgeholfen. Geld
spielt ja bekanntlich, wenn es um Staatsrepräsentationen geht, in Russland
gar keine Rolle.
## Der Frieden der Russen
Nun tritt Polina an, eine 27jährige Chanteuse aus Moskau, mit blondem
Zupfelschnitt, absolut makellosen Zähnen und perfekter Lächelfähigkeit. Sie
bietet doch tatsächlich – unter strahlenden weißen Lichtkegeln inszeniert �…
ein Lied auf, das „Million Voices“ heißt, ein Lob auf den Frieden erbringt
und beklagt, dass die Welt nicht voller Frieden sei. Aber dagegen helfen
Millionen an Stimmen, die ein Lied singen ... und so weiter und so fort.
Man darf sagen: Ein Lied kann eine Lüge sein.
Es gab schon immer Friedensbotschaften beim ESC, eine von diesen gewann
1982, das war die deutsche Nicole mit „Ein bisschen Frieden“. Das klang
alles reinlich und schön, und das war gewiss auch der Grund für die vielen
Punkte für die Saarländerin, denn in der Popmusik ist Kompliziertes schwer
zu vermitteln. Chiffren sind gefragt, komplexe Messages ungeeignet.
Aber bei aller [1][Liebe zur Toleranz im eurovisionären Sinne]: Polina, die
Sympathische, die Musterrussin, die lächelt und nichts Besonderes sagt auf
Pressekonferenzen, die man als Anna Netrebko des russischen Pop verstehen
kann, diese Sängerin singt das zynischste Lied dieses 60. ESC. „Million
Voices“ verkörpert ungefähr alles, was zur Selbstkritik in eigener,
russischer Sache dienen könnte, aber gemeint ist das Lied in etwa so: Hier,
als Russen, stehen wir und wollen doch nur Frieden, und wenn es damit
hapert, mögen Millionen liebliche Stimme Kraft gewinnen, um die Welt vor
Kriegen zu bewahren.
## Süßliche Kritik
Man kann im eurovisionären Diskurs – [2][wie etwa hier in Wien] – nicht
ernsthaft über Politisches sprechen. Ist das nicht alles nett?, sagen die
meisten Fans. Manche himmeln Polina, die Moskauerin, an. Aber der Gedanke
liegt nahe zu sagen: Auch im Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 sind
ästhetische Erzeugnisse hervorgebracht worden, die im professionellen Sinne
taugten. Etwa auch Zarah Leanders „Ich weiß, es wird nochmal ein Wunder
geschehen“.
Das russische ESC-Lied ist nicht von Michael Jary, sondern von einem
skandinavischen Popproduktionsteam, darauf spezialisiert, den
internationalen Markt mit Songs zu versorgen.
Man ist verblüfft, alles in allem, wie süßlich Russland westliche Kritik zu
kontern weiß: Polinas ESC-Performance – am Dienstagabend im ersten
Semifinale muss sie sich ab 21 Uhr [3][für das Finale qualifizieren] – ist
eine ästhetische Unwahrheit der Sonderklasse. Sentimentaler Quatsch
totalitärster Sorte. Wird sie sich durchsetzen?
19 May 2015
## LINKS
[1] /Kolumne-Genderwahn-in-Wien-4/!160038/
[2] /Kolumne-Genderwahn-in-Wien-5/!160078/
[3] http://www.eurovision.de/
## AUTOREN
Jan Feddersen
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Russland
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