| # taz.de -- ESC-Kolumne Genderwahn in Wien #8: Aufmarsch der Verzweifelten | |
| > Trachten, Zackigkeit und Verzweiflung: Was eine Kundgebung für die | |
| > Förderung von Marschmusik mit den Klängen des ESC zu tun hat. | |
| Bild: Rumtata und tätärätätä! Kundgebung für die Förderung von Marschmus… | |
| Neulich demonstrierten vor dem ausgesprochen schönen Parlamentsgebäude von | |
| Wien viele Menschen. Es wurde viel angemahnt und angezeigt: Besorgnis | |
| natürlich in erster Linie. Mal gegen die Aushöhlung von | |
| Gewerkschaftsrechten, dann wieder für mehr Wohnungsbau. Diese | |
| Klageversammlung aber muss von Amateuren vorbereitet worden sein. | |
| Denn schon von der anderen Straßenseite sah man die Aufschriften der | |
| Transparente nicht mehr. Man musste also hingehen, um zu sehen, was sie | |
| bewegt. Und das war etwas von starkem Gefallen, gleichzeitig von einiger | |
| Irritation: Die vielleicht 500 Menschen forderten die Förderung von | |
| Marschmusik, also von militärischem Sound, mit dem die Soldateska von einst | |
| in Kriege zog, als Mietsöldner oder Zwangsrekruten oder einfach aus | |
| Abenteuerlust. | |
| Vielleicht wissen Jüngere gar nicht mehr recht, was Marschmusik ist – | |
| selbst die deutschen Radiowellen mit Fokussierung auf ein sehr altes | |
| Publikum haben ihre Marschmusiksendungen zunächst in den späten Abend | |
| verdammt, inzwischen sind sie ganz kassiert worden. Publikum tot, nicht | |
| mehr nötig, sozusagen! | |
| Heutige Kriegsfördermusik ist ohnehin nicht mehr zu unterscheiden von den | |
| gängigen Charteinträgen. Wer am Drohnenjoystick sitzt, hört erstens gar | |
| nichts und in der Freizeit eher Independentzeug oder elektrosmogische | |
| Sounds. | |
| ## Die Klänge ihrer Kindheit | |
| Insofern muss man sagen: Die Leute, teils in Trachten, allermeist mit | |
| Blasmusikinstrumenten bewehrt, können einem Leid tun. Aufgewachsen mit den | |
| auf Zackigkeiten getakteten Klängen müssen sie nun am Lebensabend erleben, | |
| dass man in dieser modernen Welt nichts mehr von ihnen hören will. Und sie | |
| auch nicht zu hören bekommen, was sie gern hätten. Insofern: ein Aufmarsch | |
| der Verzweifelten in Wien. | |
| Und ein Beweis, dass selbst die fettesten Kulturphänomene nie solche von | |
| allen sind. Wer Heavy Metal hört, tut dies als Minderheit; selbst wer nur | |
| Mainstream zuneigt, ist nicht im Haupstrom des Geschmacklichen zur Zeit, | |
| vielmehr gerade im Visier der Warenanbieter, also der Plattenindustrie, die | |
| aus Marktforschungen weiß, wer was aus welcher gesellschaftlichen Position | |
| heraus hört. | |
| Man könnte sagen: Die heutige Marschmusik ist eine eher friedliebende, vom | |
| Klang her eher nicht antreibend. Kriegsstimulierende Musik an sich gibt es | |
| insofern nicht mehr: Drohnenbedienung funktioniert mit Starbuck's-Musik | |
| oder mit solcher, die in angesagten Clubs aufgelegt wird. Man verhält sich | |
| zur Welt kritisch, um sie ästhetisch zu erobern. Oder: Man will seinen | |
| Platz in der Welt und verhält sich zu ihr kritisch, weil nicht jeder gleich | |
| in der Welt das innehat, was er oder sie gern hätte. Marschmusik war einmal | |
| Mainstream.Sie wurde gehört von Menschen, die auch Operette gern haben. | |
| Nur der ESC entzieht sich in gewisser Weise dieser Logik, deren feinste | |
| Verästelungen man bei Pierre Bourdieu akkurat nachlesen kann: Auch hier in | |
| Wien werden in europäischem Kontext Stile verhandelt. Für zu leicht oder | |
| als schwer genug befunden. Nach Marschmusik klingt nichts beim 60. | |
| Eurovision Song Contest, zumal auch keine technolastige Nummer dabei ist. | |
| Der ESC atmete stets strikt antimilitärischen Geist – nicht, weil es in den | |
| Regelwerken stünde, Kriegsmusik sei verboten. Sondern weil Europa noch vor | |
| 70 bis 100 Jahren miteinander so verfeindet war, dass es zu keinem | |
| Popmusikfestival zusammengefunden hätte. Und was den einen als Marsch | |
| gefällt, widert andere an. Wobei die Wiener Protestierer gegen die | |
| kulturelle Austrocknung ihrer Vorlieben gar nicht kriegslüstern sind. Sie | |
| wollen nur die Klänge ihrer Kindheit, ihrer seligen jüngeren Lebenszeit | |
| zurück. | |
| ## Der „Radetzkymarsch“ beim ESC | |
| Man sah vor dem Parlament sehr viele Männer, einige Paare | |
| (Mann-Frau-Kombinationen durchweg), aber das bedeutet nicht, lesbische | |
| Frauen oder schwule Männer könnten qua Natur ein gebrochenes Verhältnis zur | |
| Marschmusik haben. Ich kenne einen queeren Kulturwissenschaftler in | |
| Helsinki, der die Plattensammlung seines Großvaters in Ehren hält – viel | |
| Schellack, auch noch Vinylpressungen sind darunter. Aber alles Marschhafte | |
| direkt militärischer Art, auch Marschstücke von Bach, Tschaikowsky, | |
| Schubert, Beethoven bis zu Mozart. | |
| Der „Radetzkymarsch“ beim ESC – er erhielte, so simpel er auch sein könn… | |
| keinen Punkt: Er klänge wie Musik aus einer fremden Galaxie. Oder nur dann, | |
| wenn er in feineres Arrangement verpackt ist. So wie Bosnien & Herzegowina | |
| 2009. Das war ein Marsch aufgeblähter Art und konnte auch nicht besonders | |
| viele Punkte ernten. | |
| Was die Marschmusikeinkläger in Wien wollen, ist ohnehin ja keine | |
| musikalische Zwangsbeglückung, sondern nur etwas Aufmerksamkeit. Auf | |
| Augenhöhe sein. Mitgenommen und abgeholt werden. Also diese ganzen | |
| Sozialtechniken in Anspruch nehmen dürfen. Vergebens. Sie sind | |
| Lifestyleverlierer, und sie wollen es nicht einsehen. | |
| 21 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
| Wien | |
| Papst Franziskus | |
| Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
| Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
| Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
| Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
| ESC 2015 | |
| Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
| Wien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Der Papst in Bosnien und Herzegowina: Franziskus will eine Kultur des Dialogs | |
| Bei seinem eintägigen Besuch in dem dreigeteilten Land tritt Papst | |
| Franziskus für Frieden und ein religiöses Miteinander ein. | |
| Eurovision Song Contest 2015: Deutschland null Punkte | |
| Schweden hat mit diesem Sieg der ESC-Community den Dienst erwiesen, im | |
| kommenden Jahr nicht nach Sankt Petersburg oder Sotschi zu müssen. | |
| Eurovision Song Contest: Grand Final | |
| 27 Länder nehmen in Wien am 60. Eurovision Song Contest teil. Unser Autor | |
| weiß, wer die besten Chancen hat – geordnet nach Startplätzen. | |
| ESC-Kolumne Genderwahl in Wien #10: Politische Fakten zum Finale | |
| Dem ESC wird nachgesagt, er sei unpoltisch. Stimmt nicht. Da reicht schon | |
| ein Blick auf Geschichte, Mitgliedschaften und Realitäten der einzelnen | |
| Länder. | |
| ESC-Kolumne Genderwahn in Wien #9: Im Kamerafuttersilo | |
| Ein „Anti-Buh-Programm“ soll beim ESC in Wien Unmutsbekundungen | |
| herausfiltern. Leider wird das wohl auch funktionieren. | |
| ESC-Kolumne Genderwahn in Wien #7: Blockwertung reloaded | |
| Abstoßende Weltverbesserungsschnulzen. Belohnt wurde in der ersten | |
| ESC-Qualifikationsrunde hauptsächlich die Nachbarschaft zu Russland. | |
| ESC-Kolumne Genderwahn in Wien #6: Ein Lied kann eine Lüge sein | |
| War da nicht was mit der Krim? Die russische Interpretin Polina tritt beim | |
| ESC mit „Million Voices“ an – einem süßlichen Friedenslied. | |
| ESC-Kolumne Genderwahn in Wien #5: Die Antifigur zum Hippietum | |
| Beim ESC wird für die Qualifikation generalgeprobt. Bereits im Finale: | |
| Australien. Der Debütant präsentiert sich routiniert und wie aus dem Ei | |
| gepellt. |