# taz.de -- Arbeitslosigkeit im Nahen Osten: Perspektive Islamischer Staat | |
> Die Kriege im Nahen Osten und in Nordafrika haben die | |
> Jugendarbeitslosigkeit in die Höhe getrieben. Extremisten können nun noch | |
> leichter rekrutieren. | |
Bild: Schwierige Bedingungen: Millionen junger Menschen im Nahen Osten sind arb… | |
KITTE ap | Fausijeh Scharif ist Näherin und arbeitet 48 Stunden pro Woche | |
für umgerechnet 243 Euro monatlich. Trotzdem kann sie sich glücklich | |
schätzen: Die meisten in Kitte im Norden Jordaniens haben keinen Job. | |
Männer gehen zur Armee, die Frauen bleiben zu Hause. Scharif bekam ihre | |
erste Stelle überhaupt, als das US-Unternehmen Ivory Garments Factory im | |
vergangenen Jahr in dem Dorf einen Produktionsstandort eröffnete. | |
Doch für Millionen junger Menschen im Nahen Osten und Nordafrika bleibt | |
bezahlte Arbeit unerreichbar – Kriege und Unruhen nach dem Arabischen | |
Frühling haben die Jugendarbeitslosigkeit noch verschärft, nach Angaben der | |
Internationalen Arbeitsorganisation stieg sie in etwas über zehn Jahren um | |
zwei Prozentpunkte. Seit Donnerstag steht das Problem bei einer | |
Regionalkonferenz des Weltwirtschaftsforums mit Hunderten Vertretern aus 58 | |
Ländern auf der Tagesordnung. | |
Die grassierende Arbeitslosigkeit erleichtere Extremistengruppen die | |
Rekrutierung, warnt der ehemalige jordanische Arbeitsminister Samir Murad. | |
Junge Arbeitslose suchten „nach Alternativen, und wenn sie nichts finden, | |
mit dem sie anständig ihren Lebensunterhalt bestreiten können, dann ist die | |
Alternative der so genannte Islamische Staat“. Entscheidungsträger der | |
Region beraten schon seit Jahren mögliche Auswege aus der Krise. Der | |
Vormarsch der IS-Miliz in Syrien und im Irak macht dies umso dringlicher. | |
Von Marokko bis zum Irak umfasst die Region Volkswirtschaften, wie sie | |
unterschiedlicher nicht sein könnten: Von wohlhabenden Ölexporteuren im | |
Golf über wirtschaftlich schwache Energieimporteure wie Jordanien bis hin | |
zu Syrien, Irak, Jemen und Libyen, deren Wirtschaft durch anhaltende Gewalt | |
am Boden liegt. | |
## Wanderarbeiter und Flüchtlinge | |
Ein Grund für die Jugendarbeitslosigkeit liegt im Überhang junger Menschen | |
in der Bevölkerungsstruktur. Weil die Wirtschaft aufgrund niedriger | |
Ölpreise und anhaltender Konflikte fast stagniert, finden sich nicht | |
genügend Arbeitsplätze. Hinzu kommen veraltete Bildungssysteme, die nicht | |
mehr auf die Bedürfnisse der privaten Wirtschaft zugeschnitten sind. | |
Gleichzeitg lösen sich die alten Sozialverträge auf, bei denen | |
autokratische Regierungen der größte Arbeitgeber waren und mit | |
Nahrungsmittel- und Treibstoffsubventionen im großen Stil die Duldung der | |
Bevölkerung erkauften. Auch kulturelle Faktoren spielen eine Rolle, | |
beispielsweise in Jordanien, wo Jobs in der Bau- und Landwirtschaft von | |
Einheimischen gemieden werden: Obwohl mehr als 30 Prozent der jordanischen | |
Jugend arbeitslos sind, werden solche Arbeiten von Hunderttausenden | |
Wanderarbeitern und syrischen Flüchtlingen erledigt. | |
Lediglich rund 30.000 junge Jordanier sind gegenwärtig in Berufsschulen | |
angemeldet, die dringend benötigte Klempner und Zimmermänner ausbilden – | |
mehr als zehn Mal so viele studieren an Universitäten. Nach dem Abschluss | |
hätten viele Höherqualifizierte Schwierigkeiten, einen Job zu finden, so | |
Murad: „Es sollte gerade anders herum sein. Die Pyramide steht auf dem | |
Kopf.“ | |
## Kurze, zielgerichtete Ausbildungen | |
Der 24-jährige Hussam Schgairat hat ein Vordiplom in Buchhaltung und sucht | |
seit zwei Jahren erfolglos eine Stelle. „Ich bin an einem Punkt, wo ich | |
meine Familie nicht mehr länger nach Geld fragen kann“, sagt er in Amman. | |
Der ebenfalls 24-jährige Hischam al-Halawani war für umgerechnet 508 Euro | |
monatlich als Verkäufer beschäftigt. Nun bekam ein Syrer seine Stelle, der | |
für weniger arbeitet, wie er erzählt. | |
Einen Ausweg könnten verstärkte Investitionen in die Bildung weisen: Der | |
US-Unternehmer Ronald Bruder gründete vor zehn Jahren Education for | |
Employment (EFE), das Lehrgänge für Technik, Berufssuche und | |
Existenzgründung im Programm hat. 28.000 junge Leute bildete die | |
Organisation nach eigenen Angaben in Jordanien, Ägypten, Marokko, Tunesien, | |
im Jemen und den Palästinensergebieten aus. | |
Kurze, zielgerichtete Ausbildungen sind nach Ansicht Bruders ein Schlüssel | |
zum Erfolg. Im Moment hat er ein Budget von umgerechnet 10,8 Millionen | |
Euro. Mit dem Vier- bis Fünffachen „könnten wir 30 bis 40 Prozent des | |
Problems lösen“, glaubt er. | |
## Keine ortsansässigen Männer | |
In Jordanien fanden 85 Prozent der rund 5.000 EFE-Absolventen einen Job, | |
wie Leiter Ghadeer al-Kuffasch angibt. Diese Woche übten dort 20 Frauen | |
Vorstellungsgespräche. Einige haben durch Vermittlung von Mentoren Stellen | |
als Kassiererinnen und in der Datenerfassung in Aussicht. | |
Die 20-jährige Sadscheda Sanduka wollte Erzieherin werden, fand jedoch | |
keine Stelle. Nun befürchtet sie, dass ihre Mutter einen Job in einem | |
großen Unternehmen nicht erlaubt, weil sie dort männliche Kollegen haben | |
könnte. | |
Aufgrund solcher gesellschaftlichen Zwänge hat Jordanien eine der | |
niedrigsten Frauenquoten in der Arbeitswelt. Die Textilfabrik in Kitteh | |
beschäftigt deshalb 82 Frauen und keine ortsansässigen Männer. | |
Acht Stunden täglich nähen die Frauen dort an sechs Tagen die Woche Jeans. | |
Scharif trägt nun so viel zum Familieneinkommen bei wie ihr Vater und zwei | |
Brüder, die in der Armee sind. In der Familie genießt sie mehr Respekt – | |
und finanzielle Unabhängigkeit: „Vorher musste ich meinen Vater um Geld | |
fragen“, sagt sie. „Jetzt kann ich für mich selbst sorgen.“ Eines Tages,… | |
hofft sie, könnte sie zur Abteilungsleiterin aufsteigen. | |
24 May 2015 | |
## TAGS | |
Arbeitslosigkeit | |
Jordanien | |
Naher Osten | |
„Islamischer Staat“ (IS) | |
Extremismus | |
Schwerpunkt Syrienkrieg | |
Ägypten | |
Jemen | |
Syrien | |
„Islamischer Staat“ (IS) | |
Arabischer Frühling | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Syrische Flüchtlinge in Jordanien: Hunderte sitzen an der Grenze fest | |
Jordanien hat seit Beginn des Krieges in Syrien über 600.000 Flüchtlinge | |
aufgenommen. Human Rights Watch beklagt, dass jetzt Menschen ausgesperrt | |
werden. | |
Ägyptischer Präsident Al-Sisi in Berlin: Ungeliebter Gast | |
Menschenrechtsorganisationen und Opposition kritisieren den Besuch des | |
ägyptischen Präsidenten. Die Bundesregierung lässt das kalt. | |
Bürgerkrieg im Jemen: 50 Tote bei saudischen Luftangriffen | |
Seit zwei Monaten toben im Jemen heftige Kämpfe. Knapp 2.000 Menschen | |
starben bereits in dem blutigen Bürgerkrieg. | |
Militärische Stärke der Terrormiliz: Was ist das Geheimnis des IS? | |
Der „Islamische Staat“ erscheint heute stärker als vor Beginn der | |
internationalen Militärschläge im Sommer 2014. Was sind die Gründe dafür? | |
Grenzposten zwischen Irak und Syrien: IS-Miliz erobert Al-Walid | |
Der Islamische Staat hat in Palmyra mindestens 400 Menschen getötet – und | |
einen strategisch wichtigen Grenzposten unter seine Kontrolle gebracht. | |
Journalist über Ultras im Nahen Osten: „Durch Straßenkämpfe gestählt“ | |
Fußball ist eine Arena, in der um politische Kontrolle gekämpft wird, sagt | |
James M. Dorsey. Dort werden gesellschaftliche Tabus zuerst gebrochen. |