# taz.de -- Die 66. Filmfestspiele in Venedig: Was zählt, ist der Versuch | |
> Die Jury der Filmfestspiele in Venedig hat sich für durch und durch | |
> konsensfähiges Kino entschieden. Der Goldene Löwe ging an Samuel Maoz | |
> Antikriegsfilm "Lebanon". | |
Bild: Blickt er gen Himmel, scheint von dort oben ein Licht herab? Regisseur Sa… | |
Manchmal sind Juryentscheidungen ernüchternd. Am Samstagabend ging der | |
Goldene Löwe, der Hauptpreis der 66. Mostra internazionale darte | |
cinematografica, an den Antikriegsfilm "Lebanon" des israelischen | |
Regisseurs Samuel Maoz. Den Silbernen Löwen erhielt das Spielfilmdebüt der | |
Künstlerin Shirin Neshat, "Zanan bedoone mardan" ("Frauen ohne Männer"). | |
Fatih Akins Feelgood Movie "Soul Kitchen" wurde mit einem Spezialpreis | |
ausgezeichnet. Halsbrecherisch und unhierarchisch war der von Marco Müller | |
kuratierte Wettbewerb; ein wildes Zusammenspiel aus High und Low, Kunst und | |
Genre, Polemik und Subtilität. | |
Doch die Jury unter Vorsitz von Ang Lee traf aus den 25 Filmen eine seltsam | |
mutlose Auswahl. Sie gab ein Votum für ein Kino ab, das eine Botschaft hat, | |
diese unaufdringlich in Szene setzt und politische Konfliktlagen in einem | |
allgemeinen Humanismus auflöst, kurz: ein Votum für ein durch und durch | |
konsensfähiges Kino. Das Traurige daran ist, dass dieses Votum dem | |
Achterbahncharakter der diesjährigen Mostra überhaupt nicht gerecht wird. | |
Denn es ist ja auch ein Votum gegen etwas: gegen die Frivolität eines | |
Werner Herzog, gegen den fröhlichen Krach eines George A. Romero, gegen den | |
frappierend gegenwärtigen Neorealismus eines Brillante Mendoza und gegen | |
die berückende Sensibilität einer Claire Denis. | |
Das heißt nicht, dass "Lebanon", der Gewinnerfilm, keine Qualitäten hätte. | |
Maoz siedelt die Handlung im Juni 1982 an, an dem Tag, an dem israelische | |
Truppen im Libanon einmarschieren. Die Figuren sind - wie der Regisseur | |
selbst vor 27 Jahren - junge Soldaten, allesamt kriegsunerfahren und | |
überfordert. Maoz entscheidet sich dafür, den Film fast ausschließlich in | |
einem Panzer spielen zu lassen. Enge, Schmutz, Krach und Dunkelheit | |
beherrschen die Szenerie, die Außenwelt tritt nur durch das Zielfernrohr in | |
Erscheinung. Diese Einschränkung des Sichtfelds ist ein überzeugendes | |
Stilmittel, weil es viel von der Mühe, der physischen und psychischen | |
Anstrengung, die Krieg bedeutet, zum Vorschein kommen lässt. Aber statt die | |
Alltäglichkeit des Krieges weiter zu erforschen, statt der Ermüdung, der | |
dauerhaften Angst, dem Verstreichen der Zeit in der Ausnahmesituation | |
Ausdruck zu verleihen, erhöht Maoz den Druck und gerät bald ins Fahrwasser | |
herkömmlicher Kriegsfilmdramaturgie. Was den Männern als "Spaziergang" | |
angekündigt wird, entpuppt sich als Himmelfahrtskommando. Dadurch | |
verschiebt sich der Akzent: Der Film will nicht länger wissen, was Krieg | |
ausmacht und wie sich die, die ihn bestreiten, darin zurechtfinden. Er will | |
lieber Suspense aufbauen: Kommen die Helden heil aus der Hölle heraus? | |
Zu Beginn der 50er-Jahre spielt Shirin Neshats "Zanan bedoone mardan". Als | |
Hintergrundfolie dient dem Film der von der CIA eingefädelte Staatsstreich | |
gegen den iranischen Premierminister Mohammed Mossadegh. Vier Frauen | |
versuchen sich aus engen, bedrückenden Verhältnissen zu befreien, doch | |
bleibt ihnen nur der Rückzug. In einer entlegenen, abgeschiedenen Villa mit | |
verwildertem Garten finden sie Asyl. Die suggestiven Bildwelten, die die | |
aus dem Iran stammende, in New York lebende Neshat in zahlreichen | |
großformatigen Videoinstallationen entwickelt hat, verbünden sich mit einem | |
Plot, der ein wenig schlicht ausfällt. Die Frauenfiguren sind Leidende, die | |
meisten Männerfiguren Unterdrücker und Nutznießer der patriarchalen | |
Ordnung. "Zanan bedoone mardan" ist verwunschen und rätselhaft, aber gerade | |
darin leicht zu konsumieren. Man wird den Eindruck nicht los, der Jury | |
liege daran, ihre Solidarität mit den Protestierenden im Iran (denen Neshat | |
den Film widmet) zu bekunden, mithin Politik mit den Mitteln des Kinos zu | |
betreiben, aber eben in einer milden, unverbindlichen Form. Was bleibt, ist | |
das wohlige Gefühl, aus der Ferne etwas Richtiges getan zu haben. Ein Film | |
in der Orizzonti-Sektion tritt dazu in recht deutlichen Kontrast: "Ruzhaye | |
sabz" ("Grüne Tage") von Hana Makhmalbaf, der Tochter von Mohsen | |
Makhmalbaf. In einer Mischung aus Fiktion und Dokumentation versucht die | |
junge Regisseurin, die Wahlen vom 12. Juni und die anschließenden Proteste | |
aufzuarbeiten. Das mag im Resultat sehr unausgegoren sein, ist aber in | |
seiner atemlos zur Schau gestellten Dringlichkeit interessanter als Shirin | |
Neshats wie gelackt ausschauendes Weltkino. | |
Dass dieses Weltkino zu ganz anderen Dingen imstande ist, zeigt "Lola" von | |
Brillante Mendoza, der leider keine Auszeichnung erhielt. Der Regisseur aus | |
Manila ist ausgesprochen produktiv; 2008 präsentierte er im Wettbewerb von | |
Cannes "Serbis", in diesem Jahr lief dort "Kinatay", ebenfalls im | |
Wettbewerb, und wurde mit dem Preis für die beste Regie bedacht. "Kinatay" | |
war zu Recht umstritten, weil Mendoza darin Gewalt nicht nur schonungslos, | |
sondern auch ein wenig spekulativ in Szene setzt. Nichts davon im neuen | |
Film. "Lola" beobachtet hartnäckig und detailversessen, wie viel Mühe es | |
macht zu existieren, wenn man kein Geld hat. Hauptfiguren sind zwei alte | |
Frauen aus bescheidenen Verhältnissen. Der Enkel der ersten wurde auf | |
offener Straße wegen eines Mobiltelefons erstochen, der Enkel der zweiten | |
ist der Mörder. Sepa, die Großmutter des Toten, braucht Geld, um die | |
Beerdigung zu bestreiten; Puring, die Großmutter des Mörders, um die | |
Kaution und eine Entschädigung an die Familie des Opfers zu zahlen. Die | |
allererste Einstellung zeigt zwei Hände in Nahaufnahme, eine zerknitterte | |
Banknote wandert von der rechten in die linke Hand. Das bereitet darauf | |
vor, dass man im weiteren Verlauf des Films immer wieder solche | |
Transaktionen sehen wird, Geldscheine, die gezählt, in Rocktaschen | |
eingenäht, im BH versteckt oder von der Straße aufgeklaubt werden. | |
Vor allem konzentriert sich "Lola" darauf, wie viele Wege durch Sturm und | |
Regen die Figuren zu bewältigen haben, wie oft sie ausharren müssen - vor | |
Polizeiämtern, Beratungsstellen, Pfandhäusern und dem Büro der Stadträtin. | |
Es ist frappierend zu sehen, wie wenig Raum bei all der mühevollen | |
Alltagsbewältigung für Trauer oder Wut bleibt. "Lola" erkundet eine Welt, | |
in der die Akteure es sich buchstäblich nicht leisten können, Gefühle zu | |
haben, und reflektiert dabei, wie eisern der Kapitalismus die Gegenwart im | |
Griff hat - viel subtiler übrigens als Michael Moores Polemik "Capitalism - | |
A Love Story", die ebenfalls im Wettbewerb zu sehen war. | |
Eine der schönsten Seiten der Mostra ist, dass sie sich nicht darauf | |
versteift, das wichtigste Filmfestival der Welt zu sein. Cannes nimmt diese | |
Rolle für sich in Anspruch und hat damit ohne Frage recht, nur um welchen | |
Preis? Die Bedeutsamkeit zu behaupten und zu füllen kostet viel Mühe. Von | |
dieser bisweilen lähmenden Anstrengung macht sich die Filmbiennale frei. | |
Reinheitsgebote gelten nicht. Während an der Côte dazur das Autorenkino | |
favorisiert wird, kommen am Lido die unterschiedlichsten Spielarten des | |
Kinos in einer unhierarchischen Anordnung zum Zug. Sogar die einzelnen | |
Filme wechselten in diesem Jahr auffällig oft ihre Form, ihr Genre, ihre | |
Farbe, ihren Tonfall. Werner Herzog etwa lässt in "My Son, My Son, What | |
Have Ye Done" die Orestie auf südkalifornischen Lifestyle treffen. Jessica | |
Hausners "Lourdes" schwankt zwischen einer an Carl Theodor Dreyer | |
orientierten Ernsthaftigkeit und schelmischen Formen der | |
Katholizismusdenunziation. "Valhalla Rising" von Nicolas Winding Refn | |
(außer Konkurrenz) lässt seinen Helden als nordischen Gladiator antreten; | |
blutige Spektakel bestimmen dementsprechend das erste Viertel des Films, | |
darauf folgt eine an Terence Malick geschulte, mystische Reise in die Neue | |
Welt. Was zählt, ist der Versuch, nicht das Gelingen. | |
14 Sep 2009 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
Cristina Nord | |
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Israel | |
Heinrich von Kleist | |
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