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# taz.de -- Die 66. Filmfestspiele in Venedig: Im Zirkus des Erzählens
> Jacques Rivettes Wettbewerbsbeitrag "36 vues du Pic Saint Loup" ist ein
> kleiner Film, ein wenig altmodisch wie der Wanderzirkus, aber gerade
> darin rund.
Bild: Sergio Castellitto in Venedig.
In einer kurzen Erzählung des jungen Peter Handke steht ein Vater wegen
fahrlässiger Tötung vor Gericht. Er spielte mit seinem Kind, indem er es in
die Luft warf. Als er es auffangen wollte, glitt es ihm durch die Hände,
fiel zu Boden und war tot. Der Richter versteht nicht, wie dies geschehen
konnte; er fordert den Vater auf, es ihm zu erklären. Der Vater bittet sein
zweites Kind, ihm zu Demonstrationszwecken zur Verfügung zu stehen. Er
wirft das Kind in die Luft, es gleitet ihm durch die Hände, es fällt zu
Boden und ist tot.
Es ist ein Grundmotiv des Erzählens: Eine traumatische Erfahrung muss
wiederholt werden, damit man ihr einen anderen Ausgang bescheren und sich
dadurch von ihr befreien kann. Bei Handke zeitigt das fatale Folgen; in den
meisten Filmen Alfred Hitchcocks geht es gut aus, da das Trauma in der
Wiederholung gebannt wird. Was bei Freud das mühsame, langwierige
Durcharbeiten des inneren Konflikts ist, schnurrt in der Fiktion zu einem
einzigen, sinnfälligen Ereignis zusammen - in "Notorious" etwa fährt Cary
Grant auf Skiern einen steilen Berghang hinab, beim ersten Mal mit
tödlichem, beim zweiten Mal mit heilsamem Ausgang.
Auch in Jacques Rivettes Wettbewerbsbeitrag "36 vues du Pic Saint Loup"
("36 Ansichten des Pic Saint Loup") geht es um eine solche Wiederholung,
nur weiß man lange Zeit nicht genau, worin die traumatische Erfahrung
besteht. Man weiß nur, dass die Hauptfigur Kate (Jane Birkin) schwer an
einer Last aus der Vergangenheit trägt. 15 Jahre war sie fort, jetzt, da
ihr Vater, ein Zirkusimpresario, gestorben ist, ist sie zu den Artisten
zurückgekehrt. Für ein paar Tage geht sie mit ihnen auf Tour durch die
französischen Meeralpen.
Es ist Sommer, die Dörfer liegen idyllisch im Schatten der Platanen, die
Kamera sieht sich an den felsigen Gipfeln und Hochebenen satt. Die
Wohnwagen mögen 40, wenn nicht 50 Jahre alt sein, das Zirkuszelt ist
winzig, die Nummern der Artisten schleppen sich, und die Ränge sind an
jedem Abend fast leer. An Kates Fersen hängt sich ein Fremder, Vittorio
(Sergio Castellito), er besucht jede Vorstellung, über die Auftaktnummer
der Clowns lacht er schon, bevor sie lustig wird. Ungefragt gibt er
Ratschläge, etwa wie die Teller, die im Verlauf der Nummer kaputtgehen,
besser zur Geltung kommen: Man müsse die Wertschätzung fürs Geschirr
offensiver zeigen. Von einem Unfall, der sich vor 15 Jahren zutrug, ist
immer wieder die Rede. In einer Szene steht Kate auf einem Friedhof vor
einem verwitterten Grabstein und sagt dem Toten, sie habe nie wieder einen
Mann so geliebt wie ihn.
Rivette, mittlerweile 81 Jahre alt, setzt all dies ohne große Emphase und
Dramatik, dafür mit mildem Humor und einer Vorliebe für theatralische
Auflösungen in Szene. Für Letzteres ist das Zirkuszelt wie geschaffen,
seine blauen Planen erzeugen künstliche Farbeffekte und perfekte
Gelegenheiten für die Auftritte und Abgänge der Figuren.
"36 vues du Pic Saint Loup" ist ein kleiner Film, ein wenig altmodisch wie
der Wanderzirkus, aber gerade darin rund. Um das traumatische Erlebnis
schleicht er herum, er lässt von ihm ab, rührt es wieder an und wirft es
dann fort wie eine Katze, die mit der Maus spielt, statt sie zu fressen.
Gegen Ende beißt der Film dann doch zu: Der Feuerschlucker lässt eine
Peitsche kurz vor Kate niedergehen; das Leder zerschneidet eine
Zeitungsseite, vor 15 Jahren zerschnitt es eine Kehle. Die Zeitung Le
Canard enchaîné ist sicherlich nicht zufällig ein Satireblatt, trotzdem
glaubt man Kates Erschütterung blind.
7 Sep 2009
## AUTOREN
Cristina Nord
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