# taz.de -- Die 66. Filmfestspiele in Venedig: Drogen, ja - aber nur sonntags | |
> Kannibalen, Neurosen und fundamentale Reflexionen – die 66. | |
> Filmfestspiele in Venedig warten mit hartem Tobak auf. Aber nicht ohne | |
> tiefgehenden Hintergrund. | |
Bild: Im Film kämpft Viggo Mortensen gegen Kannibalen, hier steht er nur rum. | |
Kaum habe ich die Zombies aus "[Rec 2]" halbwegs verwunden, zerren | |
Kannibalen an meinen Nerven. Der australische Regisseur John Hillcoat hat | |
einen Roman von Cormac McCarthy verfilmt, "The Road". Viggo Mortensen gibt | |
darin einen Vater, der mit seinem etwa zehn Jahre alten Sohn durch ein | |
verwüstetes, erkaltetes Land zieht. | |
Eine ökologische Katastrophe hat es heimgesucht, nichts wächst mehr, die | |
Tiere sind fast ausnahmslos ausgestorben, die Farben aus der Landschaft | |
verschwunden. | |
Manchmal bebt die Erde, manchmal rollt eine Feuersbrunst heran. Vater und | |
Sohn streifen umher, es zieht sie gen Süden, aber sie wissen nicht, ob es | |
dort besser ist. Verzweifelt suchen sie nach Konserven oder nach den | |
wenigen Insekten. Wenn sie anderen Überlebenden begegnen, wird es | |
gefährlich. Wer sich Waffen organisieren konnte, stillt seinen Hunger, | |
indem er zum Kannibalen wird. | |
Das beschert dem Film einige schwer auszuhaltende Szenen - beiläufig ins | |
Bild gerückte Fleischerhaken, plötzlich am Rand des Sichtfelds auftauchende | |
Eingeweide, eine aus der Distanz gefilmte Menschenjagd. Einmal steigen die | |
beiden Hauptfiguren in einen Keller hinab, sie finden dort verdreckte, | |
verängstigte Menschen, die von anderen wie Schlachtvieh gehalten werden. | |
Ich kann kaum hingucken und frage mich, ob das am Suspense liegt oder | |
daran, dass Kannibalismus ein fundamentales Tabu ist, das einzige | |
vielleicht, das diese Bezeichnung heute zu Recht trägt? Die in den | |
70er-Jahren beliebten Kannibalenfilme arbeiteten mit so viel tomatenrotem | |
Kunstblut, dass man sich - hey, wir sind im C-Picture! - solche Fragen | |
nicht stellen musste; die realistischere Anmutung von "The Road" macht es | |
schwer, sich das Sujet vom Leib zu halten. | |
Zugleich geht der Film insgesamt recht sparsam vor, Gore-Effekte werden | |
verhalten eingesetzt. So viel Spannung sich in einzelnen Verfolgungsszenen | |
auch aufbauen mag, so ist die Grundhaltung von "The Road" doch eher ruhig, | |
gedämpft wie die Farbpalette. Dieser Mangel an Zuspitzung und Dramatik | |
lässt Raum für fundamentale Reflexionen: Was macht das Leben, was macht | |
einen Menschen aus? Wie viel Widrigkeiten lassen sich aushalten? Und wie | |
ist es, in einer so feindlichen Welt aufzuwachsen? | |
In einer Szene stehen Vater und Sohn am Fuß eines Wasserfalls. Dort, wo das | |
Licht auf das Wasser trifft, bildet sich ein Regenbogen. Das Kind ist so | |
erstaunt, als sähe es zum ersten Mal in seinem Leben Primär- und | |
Komplementärfarben. | |
Auch der US-amerikanische Regisseur Todd Solondz strapaziert die Nerven, | |
freilich auf ganz andere Weise als John Hillcoat. In seinem | |
Wettbewerbsbeitrag "Life During Wartime", einer Fortführung des Spielfilms | |
"Happiness" (1999), verstaut er so viele Neurosen und andere, schwerer | |
wiegende psychische Defekte, dass ich den eigenen, von Kannibalen und | |
Zombies bedrängten Psychohaushalt hart arbeiten lassen muss, damit ihn die | |
Störungen der Figuren nicht angreifen. | |
Im Mittelpunkt des Film stehen drei Schwestern, Trish (Allison Janney), | |
Helen (Ally Sheedy) und Joy (Shirley Henderson). Die erste war in | |
"Happiness" mit einem pädophilen Mann verheiratet, der nun aus dem | |
Gefängnis entlassen wird; ihren Kindern hat sie gesagt, der Vater sei tot. | |
Die zweite hat zwar Erfolg in Hollywood, ist dabei aber zu einem solchen | |
Panzer geworden, dass man keine Minute mit ihr verbringen möchte. | |
Die dritte wird von Visionen heimgesucht, in denen ihr Exfreund erscheint | |
und sie dafür verantwortlich macht, dass er sich umgebracht hat. Stets | |
wiederkehrende Frage ist, wie man mit Schuld und Verantwortung umgeht: | |
Vergessen? Vergeben? Vergessen, ohne zu vergeben? Vergeben, ohne zu | |
vergessen? Schade, dass Solondz seine Figuren in ihren Neurosen einsperrt. | |
So hat man den Eindruck, er führe sie vor, statt sie ernst zu nehmen. | |
Ein schönes Déjà-vu gibt es trotzdem: Michael K. Williams, der | |
Schauspieler, der in der Fernsehserie "The Wire" Omar gibt, den | |
Freischärler im Drogenkrieg von Baltimore, hat in "The Road" einen kurzen | |
Auftritt. Und in der ersten Szene von "Life During Wartime" ist er gleich | |
wieder da. Mit Tränen in den Augen beichtet er seiner Frau Trish, dass er | |
wieder Drogen nehme - "aber nur sonntags". | |
4 Sep 2009 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
## TAGS | |
Film noir | |
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