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# taz.de -- Die 66. Filmfestspiele in Venedig: Zweimal politischer Film
> Ressentiment von Michael Moore, Kinoglück mit Claire Denis - Wie gut,
> dass es am Lido nie lange dauert, bis Kinoglück eine Enttäuschung
> vergessen macht.
Bild: Michael Moore in Venedig
Eher geht Michael Moore durch ein Nadelöhr, als dass er einen analytischen,
differenzierten Film dreht. Sein Wettbewerbsbeitrag "Capitalism: A Love
Story" versucht sich an einer Kapitalismuskritik unter dem Eindruck der
Wirtschaftskrise. Über geläufige Ressentiments freilich geht er nicht
hinaus. Die Gier der Banker, Manager und Politiker habe das Land ruiniert,
lautet Moores These, belegt wird sie mit den bekannten Methoden: ein
bisschen Politkabarett hier, die eine oder andere desavouierende
Parallelmontage da, dazwischen viel Witwentröstung und Kamerablicke in
weinende Gesichter.
Moore beschwört ein Amerika, in dem Papa zur Arbeit geht, Mama nicht
dazuverdienen muss, jede Familie ein Eigenheim hat und der Staat für
Gesundheitsversorgung wie für Bildung Sorge trägt. In "Sicko" (2007),
seinem Angriff gegen das marode Gesundheitssystem der USA, wurde diese
naive Vision wenigstens einfallsreich in Szene gesetzt; diesmal ist die
Empörung so groß, dass die paar Pointen - am Ende sperrt der Regisseur die
Wall Street als "crime scene" ab, am Anfang lässt er einen TV-Sprecher aus
den 50er-Jahren sagen, dieser Film sei nichts für herzkranke Zuschauer -
dem selbstgerechten Tremolo unterliegen. Penetrant ist zudem Moores
Hinwendung zum Katholizismus, die Aussage mehrerer Priester, die geltende
Wirtschaftsordnung sei evil, ist ein unhintergehbares Verdikt.
Wie gut, dass es am Lido nie lange dauert, bis Kinoglück eine Enttäuschung
vergessen macht. Der Zufall der Programmgestaltung will es, dass Claire
Denis Wettbewerbsbeitrag "White Material" fast direkt auf Moores Film
folgt. "White Material" spielt im Verlauf von etwa 36 Stunden in einem
afrikanischen Land, das von Unruhen heimgesucht wird. Eine Rebellenarmee
macht die Gegend unsicher, ihr Anführer, "Der Boxer" (Isaach de Bankolé),
ist verwundet und auf dem Rückzug. Ein Radiosender predigt Hass gegen die
Weißen, bewaffnete Kinder bewegen sich zwischen den Fronten, die Menschen
fliehen. Die Kaffeefarmerin Marie Vial (Isabelle Huppert) harrt aus, stur,
die bösen Zeichen verkennend; sie will partout die Ernte einbringen.
Denis arbeitet mit einer fragmentierten Zeitlinie. Rückblenden, Visionen
und die Gegenwartsebene von "White Material" ergeben ein komplexes Gewebe.
Die großen postkolonialen Fragen - wie leben Weiße und Schwarze zusammen,
wenn die koloniale Ordnung überwunden ist? Was geschieht, wenn die
Machtassymetrien sich zu verschieben beginnen? Und wenn diese Verschiebung
nicht in einem geordneten, demokratischen Prozess, sondern gewaltsam,
eruptiv geschieht? - klingen an, ohne dass der Film eine Grundlage schüfe,
von der aus sich Urteile treffen ließen. Vielmehr verhandelt er die
allgemeinen Fragen auf einer sehr konkreten Ebene: etwa wenn Marie Vial in
ihrem LKW vor dem Tor zur Farm hupt, weil sie erwartet, dass der Pförtner
ihr öffnet. Der Pförtner aber ist nicht mehr da, geblieben ist eine Frau,
die daran gewöhnt ist, Befehle zu geben. Oder wenn eine Hausangestellte
beim Verlassen der Farm droht: "Die Patrioten werden euch alle töten."
Zuvor hat Maries pubertierender Sohn Manuel (Nicolas Duvauchelle) sich das
blonde Haar abrasiert und es der Frau in den Mund gestopft. Mit Manuel
tritt ein Wahnsinn in den Film, wie ihn nicht einmal die marodierenden
Kindersoldaten an den Tag legen.
In einer der ersten Szenen des Films fährt Marie lange auf einer staubigen
Piste Motorrad, sie genießt die Fahrt sichtlich. Ihr Haar weht dabei im
Wind. Es hat dieselbe Farbe wie der rote, sandige Boden.
CRISTINA NORD
7 Sep 2009
## AUTOREN
Cristina Nord
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