# taz.de -- Serie "Neue Ökonomie" (IV): Ein Selbstversuch auf dem Lande | |
> Kastration des Geldes: Es gibt vielfältige Versuche, sich dem | |
> kapitalistischen Verwertungsprozess und seinen Folgen zu entziehen. Imma | |
> Harms tauscht und gibt. | |
Bild: Imma Harms. | |
In Zeiten der Krise geraten die abseits gelegenen Lebensformen wieder ins | |
Blickfeld der Sehnsucht nach Subsistenz, nach Gegenmodellen zur | |
Erwerbsarbeit. Es gibt vielfältige Versuche, sich dem kapitalistischen | |
Verwertungsprozess und seinen Folgen so weit als möglich zu entziehen. Es | |
gibt Ansätze und Projekte, die ganz klassisch daran arbeiten, gegenseitige | |
Hilfe zu organisieren, solidarische Ökonomie zu praktizieren, gerechtes | |
Teilen zu realisieren. Und es gibt Überlegungen, sozusagen aus der | |
"digitalen Welt" (seit Ende der 90er-Jahren von "Oekonux" oder aktuell von | |
Ch. Siefkes), ob sich freie und kooperative Produktionsweisen, wie sie bei | |
der Entstehung von Freier Software wie Linux, Firefox, Wikipedia u.s.f. | |
praktiziert wurden und werden, auch auf eine neue Ökonomie, auf | |
gesellschaftliches Handeln übertragen lassen. Mit all diesen Möglichkeiten | |
freier, selbstorganisierter, selbstbestimmter und nicht profitorientierter | |
gesellschaftlicher Kooperation und Produktion beschäftigt sich Imma Harms | |
theoretisch beziehungsweise auch ganz praktisch, seit sie auf dem Lande | |
lebt. | |
Sie hat in ihrem früheren Leben als Stadtbewohnerin bereits eine Menge | |
ausprobiert. 1949 in Bochum geboren (beide Eltern waren Lehrer), studierte | |
sie nach der Schule kurz Theaterwissenschaften, danach Elektrotechnik und | |
Informatik, 1977 machte ihren Dipl. Ing. 1979 war sie Mitbegründerin der | |
technik- und sozialkritischen Zeitschrift Wechselwirkung in Berlin, von | |
1981 bis 1984 und von 1985 bis 1993 war sie Redakteurin bei der taz. Ende | |
der 80er-Jahre war sie aktiv in der autonomen Bewegung (Mobilisierung gegen | |
den IWF), traf ihren Freund und "politischer Ziehvater" wieder, Detlev | |
Hartmann (Vertreter des deutschen Postoperaismus, Autor von "Leben als | |
Sabotage"), 1992 bis 1997 studierte sie Philosophie an der FU Berlin. 1995 | |
war sie Mitinitiatorin des Autonomie-Kongresses in Berlin. Seit 1996 macht | |
sie (teils zusammen mit ihrem Freund Thomas Winkelkotte) sehr genaue und | |
die Widersprüche umspielende Dokumentarfilme über Naheliegendes. (1989 über | |
den türkischen Mauergarten in Kreuzberg und die Frage, wie sich Eigentum | |
definiert; 2002 über ein antirassistisches Grenzcamp der autonomen Szene | |
Hamburg "Im Schatten der Zelte" oder auch "Passagen. 12 Geschichten von | |
Müll und Wert", die bei einem Arte-Themenabend liefen. Als Einzelarbeit | |
drehte sie unter anderem 100 Filmporträts der taz-Gründerinnen und | |
-Gründer). Seit 2006 schreibt sie in ihren taz-blog "Jottwehdeh" | |
Alltagsgeschichten und Essays. Seit 2008 ist sie im Gemeinderat und gab als | |
Vorstandsmitglied des örtlichen Kulturvereins Möhre die Gemeindezeitung | |
Ortszeit (für Möglin, Herzhorn und Reichenow) heraus. Sie und Thomas | |
Winkelkotte veranstalten seit Jahren Filmvorführungen auf dem Dorf, auch | |
auf einer Leinwand im See, nebst Feuerzauber. | |
An einem schönen Herbsttag fahren Elisabeth Kmölniger und ich, ohne zu | |
bemerken, dass wir einen Tag zu früh unterwegs sind, zügig Richtung | |
Oderbruch. Die Pflaumen hängen blausilbern und dicht in den alten Bäumen, | |
Äpfel bedecken wie abgeschüttelt den Straßenrand. Es ist ein seltsam | |
üppiger Herbst. Üppig an Früchten und Insekten. Der Künstlerhof | |
"Colaborative Gut Reichenow" liegt 50 Kilometer nordöstlich von Berlin, am | |
Rande des Oderbruchs im kleinen Dorf Reichenow-Möglin. Möglin hat etwa 300 | |
Einwohner. Als Erstes zu sehen ist der weiße Turm des Schlosses. Ein | |
leichter Geruch nach Herbstfeuer und Schweinegülle liegt in der Luft. Das | |
Schloss ist weiß, im Tudorstil, mit Zinnen und Balustraden. Es ist heute | |
vor allem ein Hochzeitshotel, mit eigenem Standesamt, dient Hochzeitspaaren | |
und Hochzeitsnächten als unvergessliche Kulisse. | |
Vis-à-vis vom Schloss liegt ein einstöckiges schmuckloses Häuschen mit | |
rosafarbenem Rauputz, den Schlossbetreiberinnen ein Dorn im Auge. Zu | |
DDR-Zeiten war es Gemeindeverwaltung, Büro des Bürgermeisters und | |
Eier-Abgabestelle. Hier hat sich Imma ihr Refugium ausgebaut. Sie bewohnt | |
ein großes und stilles Arbeitszimmer mit Kamin, eine umfangreiche Küche und | |
zwei Räume mit Schlossblick. Der andere Teil des Hauses beherbergt den | |
Video-Club mit Club-Kino im holzgetäfelten ehemaligen Bürgermeisterzimmer, | |
ihr großes Film- und Videoarchiv zur Filmgeschichte (mit cineastischen | |
Spezialitäten) sowie ein Gästezimmer, eine gut ausgerüstete Werkstatt und | |
das Holzlager. Das Haus ist Bestandteil des Gutshofes mit Brennerei, der um | |
1900 errichtet wurde. Er war in der DDR LPG, wurde nach der Wende von | |
Berlinern erworben, in einen Trägerverein überführt und sehr gut ausgebaut. | |
Es gibt einen großen Proben- und Veranstaltungssaal, ein Gästehaus, ein | |
Vereinslokal mit Wochenendbetrieb, ein Amphitheater und viel Platz für | |
Gärten und Ausbau. Im ehemaligen, 120 Meter langen Rinderstall aus | |
Backstein befinden sich Studios, Ateliers und Werkstätten, bewohnt von etwa | |
40 Freischaffenden aus Westberlin, die teils in freundschaftlichen, teils | |
in Arbeitsbeziehungen miteinander verbunden sind. Hier lebt auch Immas | |
Freund, der Filmemacher Thomas Winkelkotte. Alle haben den Status von | |
Mietern, nur Imma ist Pächterin ihres Hauses. | |
Imma, die uns erst am nächsten Tag um 11 erwartet, bittet erstaunt, aber | |
mit umstandsloser Freundlichkeit ins Haus, improvisiert gastlich ein | |
Frühstück, erklärt, wie man mit dem Auftragen von einfacher Buttermilch | |
Fensterscheiben in blickdichte Milchglasscheiben verwandeln kann und | |
erzählt uns nach und nach die Geschichte ihrer jetzigen Existenzform: | |
"Ich hatte einfach Sehnsucht nach Neuland. Nach politischem Neuland. Und | |
ich habe das schon ein Stück weit hier gefunden. So verrückt das klingt. | |
Ich lebe jetzt seit circa zehn Jahren hier auf dem Land - also das ist | |
nicht mehr ,Speckgürtel', das ist wirklich schon Land. Und das hat | |
Konsequenzen für die Art, wie wir hier leben - wie ich hier lebe. Ich führe | |
auf dem Land eine ökonomisch vollkommen andere Existenz als in der Stadt. | |
Mit sehr wenig Geld. Ich habe im Grunde, ja also … als regelmäßiges | |
Einkommen nur einen minimalen Geldbetrag, den ich von einer Berliner | |
Wohnung kriege, die meine ist. Mit dem Betrag kann ich meine festen Kosten | |
hier bezahlen. Alles Weitere muss ich mir organisieren. Das geht meist. | |
Geldmäßig ist nämlich ein Tag in der Stadt so teuer wie eine Woche auf dem | |
Land. Wir können uns hier besser dem aggressiven Zweck entziehen, den Geld | |
verkörpert. | |
Ich hatte das Glück, einige Dinge realisieren zu können in meinem Leben. | |
Ich habe Anfang der 90er-Jahre eine Erbschaft gemacht und mir überlegt, was | |
mache ich mit dem Geld? Ich habe einige Projekte gesponsert, mir ein | |
Philosophiestudium bewilligt und vor allem Filme gemacht. Heute haben wir | |
das Filmemachen ein bisschen eingeschränkt, denn erstens muss man diese | |
katzbuckelnden Anträge schreiben, um an Geld - oder Gelder - zu kommen, | |
wird dann auch noch demütigend behandelt von Leuten, die einen Zipfel Macht | |
in der Hand halten. Zweitens kann man von hier aus dieses ,Networking' - | |
wie es jetzt heißt - nicht mehr so betreiben. Viele Jahre haben wir | |
versucht, hier vom Land aus die Verbindungen zu halten, noch Teil von | |
politischen Strukturen in Berlin zu sein. Thomas und ich waren zehn Jahre | |
Mitglieder in einem Videokollektiv, das ein Videoarchiv der linken Bewegung | |
unterhält und auch bestimmte Projekte gemacht hat. Aber das ist eben sehr | |
schwer, soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten, die nicht ständig | |
gepflegt werden. Man fällt einfach aus vielen Sachen raus, die noch eine | |
persönliche Präsenz erfordern, und das wirkt sich natürlich auch auf die | |
Einkommensquellen aus. Aber es war ja nicht so, dass ich mich hier | |
asketisch mit reduzierten Bedürfnissen in ein Häuschen zurückziehen wollte, | |
ich wollte mich in meinen Bedürfnissen und Möglichkeiten neu organisieren, | |
zusammen mit anderen. Deshalb habe ich schon bald eine Sache intensiviert, | |
die mir sowieso immer stark entsprochen hat, nämlich zu gucken, wie man | |
sozusagen Subsistenz praktizieren kann. Also jetzt nicht als Einzelperson, | |
sondern im sozialen Austausch. | |
Auf dem Land gibt's da ja ganz andere Möglichkeiten zum Leben, auch wenn | |
auf dem Konto mal totale Ebbe ist. Beispielsweise haben Thomas und ich hier | |
befreundete Leute, ein altes Tierarztehepaar, mit einer Highländer-Herde. | |
Es sind 60 bis 70 Rinder mit wuscheligem, langem Fell und langen spitzen | |
Hörnern, die das ganze Jahr über fast wild im Naturschutzgebiet leben. | |
Zweimal im Jahr ist Viehtrieb, da helfen wir auch immer mit. Ich habe den | |
beiden den Vorschlag gemacht, einen Film über das Treiben zu drehen. | |
,Fleisch gegen Film' beziehungsweise ,Film gegen Fleisch'. Damit waren sie | |
einverstanden. Thomas und ich essen gerne Fleisch, aber nicht das aus dem | |
Supermarkt. An dem Tag, als der Viehtrieb war, bin ich dann auf dem Roller | |
und mit der Kamera losgefahren und habe gefilmt. Es hat Spaß gemacht. | |
Nachbarschaftliche Tauschgeschäfte sind ja nicht ungewöhnlich auf dem Dorf. | |
Was bei einem solchen Akt aber offen bleibt, ist das Problem der Bewertung. | |
Da sind wir gleich an einem Punkt, der von großer Bedeutung ist, denn bei | |
so einem Tausch auf dem Dorf musst du den Tauschwert nicht unbedingt | |
festlegen. Im Grunde muss man sich nur auf den Gebrauchswert stützen. Aber | |
schon auch darauf, dass demgegenüber der Wert deines Tauschgegenstands in | |
etwa bekannt ist, er ihn nicht zu hoch oder zu niedrig ansetzt. Nur, was | |
ist der Wert eines Filmes? Tausend, zweitausend Euro oder mehr? Das ist ja | |
ganz davon abhängig, wie und wo man ihn vermarktet. Also wie rechnen? Gut, | |
ich kann sagen, Minimum ist das Material oder die Arbeit, die ich | |
reinstecke. Aber auch das ist fragwürdig, denn wie viel ist meine Arbeit | |
wert?" Sie lacht. | |
"Es hat mir ja auch Spaß gemacht. | |
Hier auf dem Land, da sieht man das noch genauer, dass es einfach nicht | |
geht, wenn alle nur ihrem eigenen Vorteil nachjagen. Es balanciert sich | |
nichts aus, wie Adam Smith meinte. Das ginge nur, wenn man eine | |
unerschöpfliche Ressource im Hintergrund hätte - als solche wird | |
normalerweise ja die Natur genommen -, aber dass es so nicht ist, das weiß | |
inzwischen jeder. Eine Ökonomie, die auf dem totalen Ausbeuten und | |
Rausschinden der Ressourcen aufbaut, die kann auf Dauer einfach nicht | |
funktionieren. Das ist logisch und ein einfaches Rechenexempel. Und das hat | |
mich dazu gebracht, sowohl auf theoretischer Ebene als auch auf der Ebene | |
von Experimenten, von Kontakten zu anderen Leuten und Ansätzen mal zu | |
gucken, nach Formen solidarischer Ökonomie. Einer Ökonomie, die eben anders | |
funktioniert. Auch zu sehen, wie man sich in seinen Bedürfnissen, | |
Fähigkeiten und Möglichkeiten mit anderen organisiert, konzentrisch | |
sozusagen. | |
Ich bin in verschiedenen Bereichen mit unterschiedlichen Ansätzen aktiv. Es | |
gibt zum einen diesen Bereich der Tauschökonomie, zwei Tauschmärkte oder | |
Tauschringe, hier im Oderbruch und in der Märkischen Schweiz, die ich mit | |
organisiere oder organisierte. Die gingen hervor aus einem Seminar über | |
Geld, Alternativwährung, Schrumpfgeldtheorie usw., veranstaltet hier von | |
der Kommune Klosterdorf, einer ökologischen Lebens- und | |
Arbeitsgemeinschaft. Diese Tauschmärkte haben dann aus verschiedenen | |
Gründen gekränkelt. Es ist ja so: Das Tauschäquivalent in der Stadt sind | |
meist Zeiteinheiten, denn das Prinzip ist Arbeitszeit gleich Lebenszeit. | |
Und eine Stunde ist eine Stunde! Auf dem Land ist das komplizierter, denn | |
man tauscht vorzugsweise Produkte oder Leistungen, deren Wert eingeschätzt | |
werden muss. Ich habe versucht, das zu reformieren, weil ich die Sache | |
wichtig finde. Ich habe zum Beispiel für alle, die zum Markt | |
zusammenkommen, eine ,Währung' gemacht", sie zeigt uns ein Kästchen, voll | |
mit bunten kleinen Plastikquadraten, "ich habe sie ,Rübel' genannt. Sie | |
werden nach Gebrauch, also am Schluss des Marktes, wieder eingesammelt. Die | |
sind nur als Interimsgeschichte wichtig. Es gibt auch eine Mitgliedskarte | |
für die ,Rübel-Union', namentlich ausgestellt. Wer Mitglied ist, der hat | |
Kredit in der Zeit zwischen den Märkten, hat Gutscheine, also eine Art | |
Wechsel, die er auch an Nichtmitglieder, von denen er etwas erhält, | |
weitergeben kann. Das ist noch in der Versuchsphase. Also diese beiden | |
Märkte haben längst nicht die explosionsartige Entwicklung genommen, wie | |
der Verschenkemarkt. Und jetzt versuche ich gerade mühsam, die Märkte und | |
Angebote über das Internet vorzubereiten. | |
Als Zweites mache ich hier auf dörflicher Ebene diesen sogenannten | |
Verschenkemarkt. Der wird organisiert von unserem Möhre-Kulturverein - bzw. | |
eigentlich von mir -, und zwar zweimal im Jahr. Die Handzettelchen für die | |
Ankündigung druckt mein lieber Freund Anton. Er lässt mir bei seinen | |
Druckerzeugnissen einen kleinen Streifen frei, wo ich die dann mitdrucken | |
lassen kann. Sie werden von den Kindern in die Briefkästen verteilt. Und | |
dann kommen wirklich die Leute aus dem Dorf, aus der ganzen Umgebung - also | |
vollkommen normale Bevölkerung - mit Wäschekörben voller Sachen. Es ist wie | |
ein Flohmarkt, aber eben ohne Geld. Das findet im Saal der Kneipe hier | |
nebenan statt. Es gibt einen hohen Umsatz von Sachen. Keiner geht weg, ohne | |
wieder etwas mitgenommen zu haben. Niemand! Hinterher rief mich letztens | |
eine Frau aus dem Dorf an und sagte, ich habe viel Dill usw. im Garten, | |
kann vielleicht jemand was davon brauchen? Es entstehen Kontakte und Ideen. | |
Also das ist ein soziales Highlight inzwischen. | |
Dann gibt es die ,Projektwerkstatt auf Gegenseitigkeit', mit der wir in | |
gutem Kontakt stehen. Das ist ein Zusammenschluss von - sagen wir mal - | |
alten Kreuzberger Linken, die viel in Projekten aktiv waren." (PAG. | |
Stiftung, Verein und Netzwerk "Zur Entschärfung von Privateigentum. Die | |
Idee ist, Liegenschaften zu erwerben, mit dem Zweck, sie unentgeltlich an | |
Projekte zu verleihen, die solidarische Ökonomie praktizieren. Anm. G. G.) | |
"Die Gelder kommen von Spendern und von Erben. Eines dieser Projekte, das | |
nicht über das Tauschprinzip, sondern über das Prinzip gegenseitiger Hilfe | |
funktioniert, ist der Karlshof. Dort arbeiten wir auch zwischendurch mit. | |
Demnächst wieder als Helfer bei der Kartoffelernte. Sie praktizieren eine | |
nicht kommerzielle Landwirtschaft in Form kollektiver Subsistenz - schon im | |
dritten Jahr - und haben so eine Mischung aus Beitragsökonomie und | |
Schenkökonomie. Sie produzieren nicht für den Markt, sondern für den | |
Bedarf, für Leute, die Kartoffeln brauchen. Ihre Kartoffeln werden gratis | |
weitergegeben. Sie verschenken ihre Kartoffeln! Die demonstrieren ganz | |
radikal, dass man das Geldäquivalent gar nicht braucht. Alle arbeiten mit | |
gleichem und nicht profitorientiertem Interesse an einer gemeinsamen Sache. | |
Das Produkt geben sie kostenlos weiter. Das ist übrigens ähnlich wie bei | |
der Peer-Production, bei Open-Source-Entwicklungen oder der internationalen | |
freien Datenbank "Commons". Das sind eben solche ,utopischen' Ansätze, die | |
immer weitere Ideen stiften wollen. | |
Man muss aber diese vielen kleinen Blasen solidarischer Ökonomie schon auch | |
immer schützen, weil sie von Seiten der nichtsolidarischen Ökonomie | |
natürlich begehrt werden. Es gibt immer Interessenten, die das als | |
Ressource betrachten, die sich ausplündern lässt. Also das Gemeingut muss | |
vor Privatisierung und Inbesitznahme geschützt werden. Es ist also wichtig, | |
dass die Leute auch aktiver Bestandteil eines sozialen Netzwerkes sind. | |
Wenn ich hier zum Beispiel den Verschenkemarkt organisiere, wenn ich meine | |
Hilfe zur Verfügung stelle oder ein Seminar mache zu diesen Themen, dann | |
gehöre ich dazu. Bin Bestandteil des Netzwerks von Leuten, die sich um | |
solidarische Ökonomie kümmern. Und wenn ich von Leuten Mangold kriege, dann | |
koche ich für die einen Topf voll. | |
Gegenseitiges Schenken -notfalls auch Tauschen - und gegenseitige Hilfe, | |
gegenseitiges Zusammenarbeiten an einem Projekt, das ist es, um was es | |
geht. Die Leute übrigens, mit denen Thomas und ich hier zu tun haben, auch | |
politisch zu tun haben, also die sich im Rahmen dieser PAG befinden, die | |
sind mehr als eine Generation jünger als wir, sind Mitte bis Ende 20. Die | |
haben viel von der Frische der frühen Autonomen-Zeit in Berlin. Sie sind | |
furchtlos, aber mit einer viel größeren Zuverlässigkeit. Viele leben | |
natürlich auch von bescheidensten Mitteln. Letztlich ist jedes Projekt von | |
innerer Erosion bedroht. Denn wenn das Vertrauen darauf, dass auch der | |
andere auf seinen persönlichen Vorteil verzichtet, nicht mehr da ist, dann | |
schwindet die Großzügigkeit, mit der man sich gegenseitig Produkte und | |
Arbeitszeit schenkt. Das gegenseitige Vertrauen darauf, dass mir der | |
Vorteil des anderen genau so wichtig ist wie der eigene, dass ich das | |
Wohlergehen des anderen mitdenke, muss immer wieder neu gestiftet werden. | |
Denn das ist das Fundament für eine zuverlässige Tragfähigkeit. | |
Die Beschäftigung mit dem Essay von Marcel Maus über die Gabe hatte mich | |
dann zu der Überlegung gebracht, dass es gut wäre, Leute der | |
unterschiedlichen Projekte - die sich teilweise gar nicht persönlich | |
kannten - mal zusammenzubringen, um miteinander zu diskutieren über die | |
jeweiligen Ansätze. Ich habe dann eingeladen zu einem Seminar - genauer | |
gesagt, es waren zwei - über solidarische Ökonomie. Ich habe es an zwei | |
Samstagen gemacht. Am ersten waren sozusagen die gestandenen Leute da, die | |
alle eine lange Geschichte in Projekten haben, ganz viel wissen, auch, | |
woran solidarische Ökonomie scheitern kann. Und am zweiten Samstag waren | |
fast nur junge Leute da, die noch nicht so viel Erfahrung haben. Die | |
Straußberger zum Beispiel, die gar nicht mehr alle zusammenleben und | |
trotzdem ihre gemeinsame Ökonomie aufrechterhalten. Sie haben ein | |
gemeinsames Konto und treffen sich einmal im Monat. Ich habe mich erinnert | |
gefühlt an einen Orden. Auch die Leute vom Karlshof waren da und eine | |
Gruppe, die versucht, in Leipzig ein Projekt zu machen, ein Zentrum für | |
politische Aktionen gegen rechts und Rassismus usw. | |
Wir haben miteinander diskutiert. Es ging um die drei Spielarten von | |
Balanceökonomie, also Tauschökonomie, Beitragsökonomie und Schenkökonomie. | |
Es ging darum, das Theoretische auch noch mal im Zusammenhang mit der | |
jeweiligen eigenen Praxis zu betrachten. Und um die Notwenigkeit, dass | |
diese drei Formen ineinander geschachtelt und immer wieder vernetzt werden | |
müssen. Ich habe aber auch erklärt, dass ich persönlich die Schenkökonomie | |
bevorzuge. Denn problematisch bei der Beitragsökonomie ist zum Beispiel: | |
Wie ist zu gewährleisten, dass das gemeinsam erarbeitete Produkt später | |
dann auch allen zugute kommt? Und das Problem bei der Tauschökonomie ist, | |
dass sie quasi auf einem Vertrag basiert, dem, den Tauschwert richtig, das | |
heißt gerecht einzuschätzen. Weil die Festlegung des Tauschwerts aber in | |
der Regel am Marktwert orientiert ist, werden damit die Ungerechtigkeiten | |
der normalen Aneignungsökonomie in die Tauschbeziehung eingeführt. Die | |
Schenkökonomie hingegen orientiert sich ausschließlich an Bedürfnis und | |
Gebrauchswert. Sie geht von einem relativen Gleichgewicht des Gebens und | |
Nehmens aus. Das Tauschobjekt muss quantifiziert werden, die Gabe nicht. | |
Aus dem Tausch leitet sich ein Anspruch ab, aus dem Akt des Schenkens eher | |
eine Erwartung auf Erwiderung. Man schenkt, man hilft, man teilt. Ohne zu | |
fragen, wann und wie das zurückkommt. Das alles aber im Vertrauen darauf, | |
dass etwas zurückkommt. Vertrauen ist die zentrale Größe bei der | |
Schenkökonomie und Gerechtigkeit ist die zentrale Größe bei der | |
Tauschökonomie. | |
Schenken ist ein Weggeben, bedeutet Aufgeben des Eigentumsanspruchs. Das | |
scheint riskant und ist es auch. Aber das ist die Form, in der ich gern | |
leben möchte, in einer solchen Vernetzung mit anderen - auch, wenn nötig, | |
in einer konflikthaften Vernetzung. Jeder muss selbst seinen Weg aus dem | |
Sicherheits- bedürfnis finden, das Geld und Eigentum vermitteln, muss | |
sehen, ob er der Unsicherheit einer bescheideneren Lebensweise und dem | |
Verlust gesellschaftlicher Anerkennung Erfahrungen abgewinnen kann." Sie | |
lacht. Dann machen wir einen Spaziergang um den friedlich in seinem | |
Schilfgürtel glitzernden See herum und pflücken süße Pflaumen von den | |
Bäumen der ehemaligen LPG-Streuobstwiese. | |
25 Oct 2009 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
## TAGS | |
Kolumne Alles getürkt | |
Bremen | |
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