# taz.de -- Ein Nachmittag mit einer alten Dame: Geld, was soll das sein? | |
> Windeln, Taschentücher, Klopapier, alles ist aus Papier heutzutage. Nur | |
> das Geld nicht mehr. Wie das ausssah hat Isi, die sieben Währungswechsel | |
> mitgemacht hat, längst vergessen. | |
Bild: Wie Geld aussieht, daran kann sich Isi nur noch verschwommen erinnern. | |
Die Gründerzeitvilla liegt in einer ruhigen Seitenstraße. Eine tätowierte | |
junge Pflegerin öffnet die Haustür und führt uns durch den Aufenthaltsraum, | |
in dem die Bewohner schweigend sitzen, zu Isis Zimmer. Wir haben sie lange | |
nicht gesehen, inzwischen ist sie blind, fast taub und sehr schmal | |
geworden. Sie sitzt bereits am Tisch und begrüßt uns auf ihre | |
liebenswürdige Art. Wir loben das große Zimmer, das, trotz Nachtstuhl und | |
Seniorenbett, durch Bücherregale und helles Mobiliar eine angenehm private | |
Atmosphäre hat. | |
Neben der Tür steht auf hölzernem Sockel eine Bronzebüste der jungen Isi, | |
sie ist von Hans von Breek (einem Bruder von Arno Brecker), an der Wand | |
über ihrem Bett hängen schöne kleine Tierzeichnungen von Schäfer-Ast, | |
schräg gegenüber zwei Nackte im Liebesspiel. Dominierend aber ist ein | |
großes Gemälde von Bert Heller, es zeigt einen lässig lehnenden Henselmann, | |
mit auf die Stirn geschobener Brille. | |
Das rechte Ohr ist mein gutes Ohr, sagt Isi, lächelt und probiert ein Stück | |
vom mitgebrachten Apfelkuchen. Ihr wollt also über Geld mit mir reden? Was | |
soll ich dazu sagen, Geld, was soll das sein?! Geld ist für mich vollkommen | |
uninteressant. Ich brauche gar keins mehr. Irgendwann habe ich vergessen, | |
wie das aussieht. Ich bin 94, hört mal, vergesst das nicht! | |
Gestern Abend habe ich überlegt, wie das Geld aussah. Eingefallen ist mir | |
aber nur, dass unsere DDR-Münzen aus Aluminium waren. Da war ich beleidigt. | |
Alles Blech! Ein blauer Hunderter ist auch vorüber gekommen in meinem Kopf, | |
mit Karl-Marx-Porträt (sie lacht). D-Mark, Euro? Kenn ich nicht, nein. Und | |
Josi nimmt auch kein Geld zum Einkaufen. Sie sagt, brauche ich nicht, ich | |
habe ja meine Karte, was auch immer das heißt. | |
Also es ist mir unverständlich, das Leben jetzt! Sagt mal, ich brauche mal | |
ein Taschentuch, dringend, drüben auf meinem Nachttisch müssen | |
Papiertaschentücher liegen. Wir reichen ihr eines. Sie faltet es geschickt | |
auseinander und sagt: Papier, alles Papier, die Taschentücher, die Windeln, | |
die Servietten, die Tücher. Die Pfleger verwenden es zum Wischen und zum | |
Aufsaugen. Ein Riesenverbrauch von Papier, aber überhaupt kein Papiergeld | |
mehr. Alles wird unheimlich. | |
Wir sind hier acht Leute, einer ist irrer als der andere, und der andere | |
weiß nicht, dass der eine irre ist, weil er selbst irre ist (lacht). Fragt | |
mich jemand: Bleiben Sie lange hier? Ich sage: Könnte sein. Und Sie: Und | |
Ihre Kinder sind auch hier im Hause? Ich sage: Ne, noch nicht. Meistens | |
sagen sie nichts. Man hört gar nicht, ob noch jemand da ist. Einmal habe | |
ich meine Tischnachbarin gefragt, was sie früher beruflich gemacht hat. Sie | |
sagte nur: Swiggel. Ich musste mehrmals fragen, erst dann stellte sich | |
heraus, sie meinte: Zwickel. Sie hat in einem Textilwerk Zwickel in Hosen | |
genäht. Ich sagte, ich verstehe. Seitdem haben wir kein Wort mehr | |
gewechselt. | |
Aber ihr wollt ja hören, wie es in meiner Kindheit und Jugend mit dem Geld | |
war. Also ich bin, wie ihr wisst, 1915 geboren, ein Jahr nach Beginn des | |
Ersten Weltkrieges, in Schulpforta. Übrigens, ihr kennt ja das | |
Eingangsgebäude. Direkt über dem Tor, in dem Erkerzimmer, dort wurde ich | |
geboren. Das war zur Kaiserzeit. Anfangs liebten die Leute den Kaiser. Er | |
war höflich und nett und er hatte einen schlimmen Arm, dadurch konnte er | |
auch Verständnis aufbringen für die Leute, ja (sie lacht). | |
Aber mein Vater war Liberaler, nationalliberal. Er war als Prokurator von | |
Schulpforta viel unterwegs. Die hatten ja umfangreiche Ländereien. Sieben | |
Güter musste er betreuen beziehungsweise inspizieren. Deshalb war er als | |
Staatsbeamter freigestellt vom Kriegsdienst, und er hatte ja auch kleine | |
Kinder, mich und meine Schwester Karin. Ja, die, die später Havemann | |
geheiratet hat, sie wurde ein Jahr nach mir geboren. | |
Meine Mutter war zwar zu Hause, sie hat sich aber nie sonderlich engagiert | |
im Haushalt, sie war ja Malerin und hat es abgelehnt, einen Einweckapparat | |
zu bedienen. Sie wollte auch nie früh aufstehen. Mein Vater hat sich dem | |
gefügt, ja (sie lacht). Wir Kinder haben nichts weiter mitgekriegt vom | |
Hungerwinter 17/18. Mein Vater war ja Jurist, der wäre lieber verhungert, | |
als nebenher ein Stück Butter zu organisieren. Meine Mutter wurde | |
spindeldürr und bekam einen Lungenspitzenkatarrh. Weil er sie hungern ließ, | |
weil er so ehrlich war. Entsetzlich! Wir hatten natürlich | |
Lebensmittelkarten, wie alle, aber daran erinnere ich mich nicht. | |
Erst viel später habe ich erfahren, so um 1919 - der Kaiser war im Exil und | |
wir waren schon Republik - da gab es eine große Schulreform und irgendwie | |
verlor Schulpforta seine Unabhängigkeit und seine Güter, ich weiß nicht, | |
jedenfalls wurde mein Vater versetzt. Zuerst nach Magdeburg und bald darauf | |
nach Kassel. Ich komme jetzt aufs Geld, denn das ist meine früheste | |
Erinnerung. | |
Wir wohnten zur Miete in der sehr eleganten Kaiserstraße, am Kaiserplatz, | |
im vierten Stock. Ich saß mit meinem Vater auf dem Balkon, es war Mai, | |
glaube ich, und unten marschierten Demonstranten. Sie schoben solche | |
Drahtwagen vor sich her, die waren voll mit Geld, hoch aufgetürmt, | |
Inflationsgeld. Und das war dann auch die Zeit, wo wir immer umtauschen | |
mussten. Wir saßen auf der Treppe und plötzlich rief meine Mutter: Kinder, | |
einkaufen! Kaum hatte sie Geld bekommen, musste man es sofort in Waren | |
beziehungsweise Lebensmittel investieren, es verlor stündlich oder noch | |
schneller an Wert. Wir bekamen einen Zettel und das Portemonnaie und gingen | |
mit dem Dienstmädchen zum Kaufmann, Milchladen, Fleischer, Bäcker. Manchmal | |
wurde es, während man in der Schlange anstand, schon teurer, dann musste | |
einer nach Hause rennen und mehr Milliarden holen. | |
Ja, ja, es war so, dass also die Geldwirtschaft absolut durch unsere | |
Wohnung hindurch ging. Das muss so 1923 gewesen sein. Und bald begann ja | |
die Arbeitslosigkeit. In den Hof kamen Leute und machten Musik, dann rannte | |
man gierig ans Fenster. Manchmal sang auch eine ganze Familie mit | |
verhärmten Gesichtern. Wenn sie fertig waren, hielt der Vater seinen Hut | |
hin und die Leute fingen an, von oben Geldstücke runterzuschmeißen, in | |
Zeitungspapier eingewickelt. Wir versuchten vergeblich zu zielen, und seine | |
Kinder hoben alles vom Boden auf. | |
Und dann hatten wir eine Dienstbotentreppe, da mussten die armen Leute | |
immer raufgehen, wenn sie bettelten. In manchen Häusern war es sogar | |
verboten, betteln und hausieren. Sie klingelten hinten, das war die Tür an | |
der Küche, meistens waren es Männer, sie wollten Fenster putzen, bohnern, | |
Teppiche klopfen, die Nähmaschine ölen. Meine Mutter ließ sie immer rein | |
und gab ihnen irgendeine Arbeit, obwohl die Wohnung vor Sauberkeit glänzte. | |
Mutter hat für sie Kaffee kochen und Brote machen lassen. Es gab dafür ein | |
extra Geschirr und sogar eine "Bettler-Tasse". Sie hat sich lange mit den | |
Leuten unterhalten, ihre Lebensgeschichten angehört. Das war für uns | |
spannend. Dann sagte sie: Geld habe ich nicht, aber ich kann Ihnen Kleidung | |
von meinem Mann geben. Die Männer saßen auf dem Küchenbalkon und rauchten, | |
und Mutti gab ihnen Vatis Sachen. Die konnten sie dann verkaufen, auf dem | |
Kleidermarkt. | |
Wenn mein Vater nach Hause kam oder von der Dienstreise, sagte sie: Ach, | |
das hat dir sowieso nie gestanden. Mein Vater hat alles toleriert, auch | |
dass sie die Wohnung ständig umräumte, sogar sein Bett, und dass sie | |
morgens nie aufstand. | |
Er machte uns das Frühstück und trug immer einen eleganten | |
kamelhaarfarbenen Morgenrock mit einer Kordel drum, dazu sein Monokel an | |
der Seidenschnur, werd ich nie vergessen. Dann schmierte er Karin und mir | |
die Schulbrote, zog sich an und dann gingen wir zusammen los. Ganz leise | |
haben wir vorher Mutti das Frühstück ans Bett gestellt, unterwegs fragte | |
uns Vati noch mal ab, ob wir alles wissen. Und in den zwei Stunden Pause | |
mittags gingen wir dann immer in sein Büro. Das war in der Wilhelmshöher | |
Allee, in einem Eckgebäude (sie zeichnet die Anlage mit dem Finger aufs | |
Tischtuch). | |
Er war ja zuständig für alle Schulen. In einem Regal hatte er sämtliche | |
Schulbücher stehen. Da stürzten wir uns sofort drauf. Schön war auch, wenn | |
wir am Wochenende mit der Straßenbahn rausgefahren sind in den | |
Habichtswald, zum Wandern. Wir hatten immer einen Malblock und | |
Aquarellfarben dabei. Vati war sehr fürsorglich, er hat uns auch oft | |
ermahnt, dass wir aufpassen im Straßenverkehr, da waren ja nicht nur die | |
Pferdedroschken, es kamen auch immer mehr Automobile, sagte man damals, | |
auf. | |
In der Schule war der Arzt und hat alle untersucht, er sagte: Die ist zu | |
dünn und die und die auch. Wir wurden aussortiert und mussten in der großen | |
Pause zu Frau Dr. Soundso, furchtbar! Ein Löffel Lebertran. Dann konnten | |
wir gehen. Wir Dünnen bekamen eine Weile auch "Quäkerspeise", das war eine | |
amerikanische Zufütterung für unterernährte Kinder. Haferflocken, Milchbrei | |
und so was, aber es gab keinen Zucker. Man sollte sich viel im Freien | |
aufhalten, frische Luft und Sonne. Als dann die Flussbadeanstalt an der | |
Fulda eröffnet wurde, sind wir da natürlich hin. Dort war alles voll mit | |
Arbeitslosen. Man musste sich sehr beeilen, musste früh da sein, sonst | |
kriegte man keinen Platz mehr am Wasser. | |
Es war ein Gedränge, lauter schöne junge Männer, sehr fröhlich und laut. | |
Die sprangen unentwegt ins Wasser, auch die, die nicht schwimmen konnten. | |
Es war herrlich! Aber meine Wonne in der "Fulde" war immer das Brot. Meine | |
Tante Elsie schmierte uns Stullen und die waren in | |
Architektur-Pergamentpapier eingepackt, mit Grundrissen. Papier war ja auch | |
Mangelware. Ihr Mann war Architekt. Und ich bin überzeugt, das ich wegen | |
dieser schönen Stullenpapiere Architektin werden wollte. Zu Hause hatten | |
sie herrliche Innendekorationshefte, ganze Jahrgänge, und Hefte über | |
Architekten und ihre Häuser, solche Stapel. Da ging ich fleißig hin und | |
studierte alles ganz genau. Als ich mit 16 später dann Henselmann kennen | |
lernte - er war ja zehn Jahre älter und schon fertiger Architekt -, da war | |
der völlig fassungslos, dass ich bis in die Tiefen Tirols hinein die | |
Architekten und ihre Häuser kannte. | |
Ab 1924 normalisierte sich das dann wieder mit dem Geld, aber die | |
Arbeitslosen nahmen immer noch zu, da gabs große Massenentlassungen in den | |
Fabriken und ich erinnere mich an Demonstrationen. Eines Tages hatte Mutti | |
plötzlich Geld, mein Großvater hatte ihr irgendwelche Aktien vermacht, die | |
wurden aufgelöst. Die Eltern gingen einkaufen und dann gabs eine große | |
Überraschung. Wir bekamen zwei Mäntel und zwei Pullover. Kein Mensch hatte | |
neue Pullover an! Wir waren stolz. Bücher hatte sie auch gekauft für uns. | |
Spielzeug nicht, nein. Wir hatten nie Spielzeug, nur Puppen. | |
Abends haben wir oft Domino gespielt oder Quartett mit den Eltern, aber | |
eines Tages hatte Vati einen dieser neuen Radioapparate gekauft, es war | |
grade die erste Rundfunkübertragung gesendet worden in Kassel - das sich | |
übrigens damals noch mit C schrieb. Mein Vater saß vor einem schwarzen | |
Brettchen, auf dem eine mit Kupferdraht umwickelte Walze montiert war und | |
eine Halterung mit Kristall, der musste mit einem Draht abgetastet werden, | |
bis der Sender zu hören war. Wir hörten aber nichts, dieses Detektorradio | |
funktionierte nur mit Kopfhörern. Das hat die abendliche Familienharmonie | |
ein bisschen auseinandergebracht, aber dem "Malerquartett", immerhin, | |
verdanke ich erste große Eindrücke über die Meisterwerke großer Maler. | |
Man kann sagen, wir hatten ein ruhiges, geregeltes Leben. Dazu, das fällt | |
mir grade ein, gehörte auch der tägliche Besuch des Milchmannes. Das war | |
ein stattlicher Mann, er hatte keine Hand mehr durch den Krieg und trug | |
eine gepolsterte Lederhülle auf dem Stumpf. Seine Milchkanne, ein | |
Riesending, wie man sie auch auf der Straße sah, hängte er in diesen Arm | |
und schleppte sie vier Treppen hoch. Dann kippte er sie ein wenig an und | |
schöpfte mit dem Litermaß - das hatte einen langen Stiel und oben einen | |
Henkel - für uns die Milch in ein Gefäß. Er kriegte immer ein Trinkgeld. | |
Brötchen wurden auch gebracht, aber eine Weile holten wir sie selbst. Ich | |
sehe uns noch, wie wir immer die Querallee hochrannten. Oft haben wir dabei | |
auch den Arbeitslosen zugeschaut, es gab ja andauernd Demonstrationen. Man | |
hörte sie singen und wusste, aha! | |
Aber nicht dass es jetzt so aussieht, als wären wir reich gewesen. Sagen | |
wir mal, uns gings recht gut. Aber wir haben in Kassel beispielsweise immer | |
nur Margarine gegessen. Butter war zu teuer. Und zweimal die Woche gabs | |
Fleisch, einmal Fisch vielleicht, ansonsten Suppen, Gemüse, Kartoffeln. | |
Obst aßen wir auch nur wenig, wir hatten ja keinen Garten. Fleisch war | |
damals teuer, man züchtete noch nicht so viele Tiere. Das gabs nicht, dass | |
man dauernd Hühner aß, Hühnerbeine, Hühnergeflügel. Man kaufte ein Huhn in | |
einem Stück, mit Kopf und Füßen, das wurde ausgenommen und zubereitet. | |
Hinterher gabs aus den Knochen und Resten Suppe. | |
Ne, Taschengeld bekamen wir nicht, das kriegte ich erst später in Berlin, | |
acht Mark für vier Wochen. Es war eigentlich so, dass wir keine Bedürfnisse | |
hatten. Wir spielten und wenn der Ball kaputt war, dann bekamen wir einen | |
anderen. Ich habe viel gelesen, es gab eine Leihbücherei. Ich habe "Onkel | |
Toms Hütte" gelesen und so was, die Befreiung der Armen und Kranken | |
(lacht), für 20 Pfennig Leihgebühr. Zu meinem zwölften Geburtstag bekam ich | |
von meinen Eltern ein wunderbares Geschenk: eine vollständige | |
Dickens-Ausgabe. Ich habe mich draufgestürzt und nur noch gelesen. Meine | |
humanitären Empfindungen wurden dadurch geweckt (sie lacht amüsiert auf). | |
Das war 1927, und das war auch das Jahr, in dem unser Bruder Raimund | |
geboren wurde. Meine Mutter war bereits 39, hat sich aber bald erholt. Ne, | |
ich muss sagen, wir waren eigentlich sehr bescheiden erzogen worden, | |
Süßigkeiten zum Beispiel, so was kannten wir gar nicht. Die | |
Wirtschaftskrisen der 20er- und 30er-Jahre waren ein Grund, aber es war | |
einfach nicht üblich. Wir hatten weder Bonbons noch Schokolade oder Kekse, | |
gar nichts. Und wir vermissten Süßigkeiten überhaupt nicht. Pudding oder | |
Flammeri, das gabs, süße Suppen, Grießbrei mit Himbeersirup, Kuchen und | |
Weihnachtsgebäck. Aber das war nicht aus christlicher Bescheidenheit. Wir | |
sind überhaupt nicht religiös erzogen worden. Meine Mutter war | |
antireligiös. Aber auch sehr naiv, denn sie fiel auch auf Nazis rein. Sie | |
fiel auf alles Mögliche rein nach Vatis Tod, und dann wars wieder nichts. | |
Dann begeisterte sie sich für einen anderen oder für den Dalai Lama. Mein | |
Vater war evangelisch, er wurde freundlich erzogen, sein Vater war | |
Schulleiter des Gothaer Gymnasiums und hat eine griechische Grammatik | |
verfasst, es wurde zwar bei Tisch gebetet, aber sie sind nur an Weihnachten | |
in die Kirche gegangen zur Mitternachtsmesse. | |
Was ich euch noch erzählen wollte, ist das mit der Haustochter. Die | |
Haustochter war eine Erfindung der Nachkriegszeit, also nach dem Ersten | |
Weltkrieg und der Zeit der Arbeitslosigkeit. Die Haustochter war ein | |
junges, schulentlassenes Mädchen ohne Beruf. Die wurde also erst mal gegen | |
Unterkunft und ein kleines Taschengeld in eine Familie gesteckt und musste | |
dort die Hausarbeit machen. Als Tochter behandelt wurde sie eigentlich nur | |
dadurch, dass man auf ihren Lebenswandel achtete und sie gleichberechtigt | |
am Esstisch der Familie sitzen ließ. Es konnte anderswo aber auch | |
passieren, dass sie in der Küche essen mussten, oder sie wurden oft auch | |
"entehrt", also der Hausherr oder einer der Söhne hat sich an sie | |
herangemacht. Daher musste man schon sehr aufpassen, wohin man seine | |
Tochter gab. | |
Unsere Haustochter hieß Everilde, sie kam aus der Verwandtschaft meiner | |
Mutter und interessierte sich nicht besonders für unseren Haushalt. Sie | |
wollte das Stadtleben kennen lernen, ließ sich einen Bubikopf schneiden und | |
kaufte sich eine lange Zigarettenspitze. Beim Bohnern legte sie Platten | |
aufs Grammophon und übte Charleston. Später, als ich längst verheiratet | |
war, im Krieg in der Nazizeit, da hatte ich auch oft eine Haustochter. | |
Meistens ein bis zwei Hausangestellte - ich hatte ja schon eine Menge | |
Kinder zu versorgen - und eine Haustochter. Die Nazis hatten das | |
übernommen, zuerst war es freiwillig, dann wurde es zum | |
"Hauswirtschaftlichen Pflichtjahr" gemacht, für Frauen und Mädchen bis 25, | |
glaube ich, die mussten sich das zum Nachweis eintragen lassen ins | |
Arbeitsbuch. | |
Ich hatte ein letztes Erlebnis mit einer Haustochter, sie sollte vor allem | |
mit den Kindern im Wald spazieren gehen. Sie meldete sich auf meine Annonce | |
hin. Sie kam in Begleitung der Mutter und die Mutter fing an, mir | |
Vorschriften zu machen, behauptete, ich hätte sie bereits angestellt, auf | |
Grund der Annonce. Es kam zum Streit, es war ganz furchtbar. Ich musste sie | |
rauswerfen, beide. Und ich hatte natürlich Angst, dass sich die Frau über | |
mich beschwert im Nazi-Büro. Aber es kam nichts. Ich habe dann eine | |
Hausangestellte gefunden, irgendwo vom Dorf, die war furchtbar nett und | |
lange bei uns. Im Laufe meines Lebens habe ich 46 Dienstboten, oder | |
Hilfskräfte, sag ich mal, beschäftigt. Goethe hatte 65, und der hatte keine | |
acht Kinder! Und an jede einzelne Person erinnere ich mich namentlich und | |
habe sie in meinem Buch beschrieben. | |
Das alles ahnte ich natürlich nicht, als ich damals als Kind in Kassel | |
unserer Everilde beim Bohnern und beim Charleston zusah. Wir sind dann in | |
Kassel noch mal umgezogen. Und 1929, im September, zogen wir nach Berlin. | |
Das war aufregend. Mein Vater hatte die Wahl gehabt, Verwaltungsdirektor | |
der Charité oder der Berliner Schlösser zu werden. Er hat sich für die | |
Charité entschieden. Und wir bezogen auf dem Gelände der Charité ein | |
Riesenhaus mit 14 Zimmern. Ich war 14 und bestaunte diese neue Welt. Nein, | |
vom Schwarzen Freitag im Oktober haben wir Kinder überhaupt nichts | |
mitgekriegt. Weder von der Inflation kriegten wir diesmal was mit noch von | |
der Weltwirtschaftskrise. Seltsam eigentlich … Es ging uns sogar viel | |
besser als damals in Kassel. Vati hatte bei einer Fleischwarenfabrik in | |
Apolda die vierteljährliche Lieferung eines großen Pakets mit Wurst und | |
Schinken geordert. Ich durfte sie immer auspacken und in der Speisekammer | |
aufhängen. Wir hatten wahnsinnig viel Platz. Jeden Tag brachte uns der | |
Gärtner der Charité frische Blumen auf die Veranda. | |
Meine Mutter hatte im ersten Stock ihr Atelier und malte, sie hatte sich | |
als Sibylle Aschberg von Bamberg schon einen gewissen Namen gemacht. Sie | |
hat ja zuerst in Düsseldorf bei Peter Behrens studiert, der war | |
ursprünglich Maler, das weiß kaum jemand. Jedenfalls, meine Mutter malte | |
und mied den Haushalt, den bewältigten Fräulein Ortmann und ein Mädchen. | |
Aber sie konnte natürlich sehr elegant auftreten. Zu den Pflichten meines | |
Vaters gehörte es auch, offiziell Essen zu geben in unserem Haus. Da waren | |
vor allem die Kapazitäten der Charité eingeladen, auch Professor | |
Sauerbruch. Und wir Mädchen haben eifrig den Speisenaufzug bedient, der die | |
Bratenplatten aus der Küche nach oben beförderte. Im Keller hatten wir | |
Kellerasseln, die kamen durch die Hühner, die der vorige Direktor im Keller | |
gehalten hatte. | |
Trotz seiner Verpflichtungen nahm sich unser Vater immer die Zeit, sich um | |
uns zu kümmern. Oft verbrachten wir die Abende im Herrenzimmer. Mutti lag | |
auf dem grünen Sofa und las - das Sofa, auf dem alles passierte: Hermann | |
küsste mich hier später zum ersten Mal - und … also Vati holte ein | |
Notizbuch hervor und wir rechneten gemeinsam den Verbleib unseres | |
Taschengeldes durch, er nahm es ganz genau, 20 Pfennig Straßenbahn, 10 | |
Pfennig dies oder das. So, sagte er, jetzt muss das und das übrig sein. | |
Fehlten auch nur ein paar Pfennige, mussten wir noch mal zählen. Wir | |
sollten lernen, mit Geld umzugehen und dass man die Verantwortung hat für | |
sein Portemonnaie. Das war Lebenserziehung. Erziehung zu Sparsamkeit, | |
Ordnung und Verantwortung. Und Respekt vor dem Geldausgeben! Wir trauten | |
uns kaum, ihn mal um Geld zu bitten, wenn es mal nötig gewesen wäre. So hat | |
er uns dressiert. Gott sei Dank nur zwei Jahre. | |
1931 lernte ich Henselmann kennen. Ich hatte die Schule hinter mich | |
gebracht, meine Mutter wollte mich in die Gesellschaft einführen und wir | |
hatten im "Haus Vaterland" im Palmensaal einen Tisch reserviert, zusammen | |
mit Bekannten, und an diesem Tisch saß dann auch Henselmann, mit roter | |
Krawatte. Ich wollte ja Architektin werden und deshalb holte ihn meine | |
Mutter sozusagen als Tischherrn an meine Seite. Und so kam das dann alles. | |
Er gefiel mir sehr gut, irgendwie war ich ihm auf der Stelle verfallen. Und | |
ich gefiel ihm auch sehr. 1931 ist mein Vater dann plötzlich gestorben. | |
Zuerst war er im Krankenhaus. Hermann besuchte ihn noch, war einmal an | |
seinem Bett und kurz darauf ist er gestorben. Wir mussten dann ausziehen | |
aus dem Haus, da in der Charité. Meine Mutter fand eine herrliche | |
Fünfzimmerwohnung. Wirtschaftlich ging es ihr gut, sie hatte ja die | |
Witwenpension von meinem Vater. Wir sind an die Ostsee gefahren. Ne, von | |
der Weltwirtschaftskrise haben wir immer noch nichts mitgekriegt, muss ich | |
zu meiner Schande gestehn. Das ist so wie heute ungefähr. Du würdest jetzt | |
ja auch gar nichts weiter bemerken, wenn man es dir nicht andauernd sagen | |
würde. Wenn die Milch ein bisschen billiger wird, und dann ein bisschen | |
teurer, das interessiert erst mal nur den Milchmann. Warum sollte uns das | |
kümmern? Wir haben jetzt nicht unbedingt üppige Garderobe getragen, und | |
dann reichte schon auch mal das Geld nicht für einen Mantel, aber wir haben | |
nicht gelitten. 1932 habe ich mich dann verlobt mit Hermann und bin in die | |
Lehre gegangen bei einem Tischler namens Tyrolph, in der Boxhagener Straße. | |
Ein Möbeltischler, ich musste die Schubladen der Schränke innen mit | |
Holzfurnier bekleben, ich habe sogar unter seiner Anleitung einen schönen | |
Nähkasten aus Nussbaumholz gebaut. Morgens um sieben musste ich schon den | |
Ofen heizen, ich lernte hobeln und sägen und baute ohne Hilfe einen | |
selbstentworfenen Teetisch aus schwarz gebeiztem Holz. Vorher hatte ich | |
schon einen halben Sommer lang auf einer Baustelle von Hermann in | |
Kleinmachnow ein bisschen gemauert. 1934 haben wir geheiratet. | |
Ich wollte ja unbedingt Architektin werden, aber 1948 waren wir plötzlich | |
eine zehnköpfige Familie geworden (sie lacht), das bestimmte mein Leben. | |
Ich war ein Kriegskind und ich war eine Kriegsmutter, die manchmal bis zu | |
24 Personen umzusiedeln und zu versorgen hatte. Viel Essen musste | |
herangeschafft werden - egal, ob wenig oder genug Geld da war. Viel Brei | |
wurde gekocht, Obst und Gemüse musste verarbeitet werden, alles ohne | |
Küchenmaschine. Morgens brauchten wir drei Kilogramm Brot für Schulbrote | |
und mehrere Liter Milch, abends noch mal einen Laib Brot. 160 Fuß- und | |
Fingernägel mussten geschnitten werden. Das war mein Leben (sie lacht) und | |
plötzlich wurde man alt … und ich werde immer noch älter, schrecklich! Dass | |
man allerdings in so einem Heim mal enden wird, habe ich nicht angenommen. | |
Das war zu weit weg, nicht? | |
Ich schlage Isi vor, dass wir mal durchzählen, wie viele Währungswechsel in | |
ihrem Leben stattgefunden haben. Gern, sagt sie, versuchen wir es | |
gemeinsam, Elisabeth, du und ich: Also in der Kaiserzeit, da gabs die Mark, | |
dann kam die Weimarer Republik, da gabs vor allem Inflations- und Notgeld | |
bis 1923, da war die Währungsreform. Danach gabs erst mal die Rentenmark | |
und ab 1924 dann die Reichsmark. Die war dann auch die gesamte Nazizeit | |
über gültig (Hitler war übrigens nie auf einer Münze abgebildet, das | |
Hakenkreuz schon). Nach der BEFREIUNG, sagt Isi, bekamen wir dann die Mark | |
der DDR (wir sagen Ostmark, während unsere D-Mark im Osten Westmark genannt | |
wurde). Isi lacht und sagt: Nach dem ZUSAMMENBRUCH bekam ich dann meine | |
Rente ab 1990 in D-Mark und seit 2002, glaube ich, in Euro. Siebenmal | |
Wechsel des Geldes und meist auch der Verhältnisse. Na ja, seufzt Isi, man | |
schlängelte sich so durch, 94 Jahre lang. Also der Blick zurück auf mein | |
Leben, das ist ein bisschen so, als würde ich als Tourist über eine | |
schwankende Hängebrücke gehen und unten das Wasser ist voller Krokodile … | |
Was jetzt kommt, das kenne ich schon! Es ist alles Schreckliche möglich - | |
und es wird getan werden. | |
25 May 2009 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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