# taz.de -- Besuch beim Teltower Tisch: Eintopf für die ganze Woche | |
> Der Teltower Tisch hat seit einiger Zeit genug Essen für alle | |
> Bedürftigen. Hartz-IV-Empfänger, aber auch Rentner. "Denen geht es oft | |
> noch schlechter." Ein Blick ins Abseits der Armut. | |
Bild: Essensausgaben für Arme haben Konjunktur – wie hier die Tafeln. | |
Anfang der 1990er-Jahre wurde in Berlin die erste "Tafel" gegründet, ihre | |
Tätigkeit bestand im Einsammeln und Verteilen übrig gebliebener, nicht mehr | |
verkäuflicher Lebensmittel für Arme nach dem amerikanischen Vorbild der | |
"Food Banks" beziehungsweise des "Second Harvest". Was damals für | |
Obdachlose gedacht war, wurde zu einem stetig wachsenden Versorgungssystem | |
für eine stetig wachsende Anzahl arm gewordener Normalbürger. | |
Auch als Folge von Hartz IV entstanden bis heute deutschlandweit mehr als | |
850 Tafeln, die ein Netz von etwa 2.000 Ausgabestellen beliefern, in denen | |
laut Schätzungen des Bundesverbandes 1 Million Bürger vorstellig werden. | |
Die Beschaffung und Verteilung von jährlich etwa 130.000 Tonnen | |
Lebensmitteln verlangt logistisches Management, vor allem aber das | |
Engagement zehntausender ehrenamtlicher Helfer und 1-Euro-Jobber. | |
Es gibt eine Reihe bekannter und unbekannter Sponsoren aus der | |
Geschäftswelt, ganze Schulklassen spenden jedes Wochenende von ihrem | |
Taschengeld, Betriebe sammeln, eine Supermarktkette hat ihren | |
Pfandflaschenautomaten einen Knopf einbauen lassen, mit dem auf | |
Kundenwunsch der Betrag den Tafeln gutgeschrieben wird. Die Tafel ist ein | |
sogenannter Sympathieträger mit hohem Ansehen, die aus dem Nichts eine Art | |
Schlaraffenland hervorzaubert. | |
Für viele Arme ist sie nicht mehr wegzudenken. Und auch nicht für viele | |
Lebensmittelketten, Discounter und Geschäfte. Ehedem musste bezahlt werden | |
für die Abholung des "Biomülls" - aus dem die Entsorgerfirmen eine | |
Gärsubstanz herstellen, die sie an Biogasunternehmen weiterverkaufen, und | |
die wiederum gewinnen aus 8.000 Tonnen Lebensmitteln ungefähr 3.000 | |
Megawatt sauberen Strom. | |
Nun erspart die Entsorgung über die Tafeln nicht nur die Kosten, es gibt | |
auch noch gratis eine Imagewerbung mit dazu. Und die steuerliche | |
Abschreibung der Spende. | |
Die geschickte Nutzung dieser drei Fliegen pro Klappe hat die Tafel zu | |
einer Art Wohlfahrtskonzern werden lassen, der längst seine Fühler nach | |
einer europäisch vernetzten deutschen Foodbank großen Stils ausgestreckt | |
hat. Und für die Strategen einer "Verschlankung der Sozialpolitik" sind die | |
Tafeln, ist private Wohlfahrt, absolut unverzichtbar. | |
Was ursprünglich Philanthropie war, wird unter der Parole "Essen, wo es | |
hingehört" zur schöngefärbten Abspeisung der Armen und zur Beihilfe bei der | |
stillschweigenden Aushöhlung des im Grundgesetz vorgegebenen | |
Sozialstaatsgebots. | |
## | |
Die Privatisierung des Armutsrisikos macht Fortschritte. Und nicht von | |
ungefähr steht die berüchtigte Berater- und Rationalisierungsfirma McKinsey | |
dem Bundesverband der Tafeln seit vielen Jahren zur Seite (ebenso den | |
Tafeln in Österreich, der Schweiz, Kanada usw.). McKinsey war unter anderen | |
beteiligt am Konzept von Hartz IV, an der Arbeitsweise der ARGEn und an der | |
"Reform" der Sozialversicherung. | |
Vollkommen gratis hat der teure McKinsey für den Bundesverband einen | |
Leitfaden und ein Handbuch für Aufbau und Betrieb einer Tafel verfasst, | |
bindende Lektüre für jedes seiner Mitglieder. | |
Der "Teltower Tisch" befindet sich an einem etwas heruntergekommenen Teil | |
der Hauptstraße von Teltow/Potsdam Mittelmark. Lebensmittelausgabe ist | |
samstags von 14 bis 17 Uhr. Auf dem schmalen Grundstück, Potsdamer Straße | |
34, befindet sich im hinteren Teil ein Stück Rasen mit einem kleinen | |
Kinderspielplatz, durch eine Hecke abgetrennt vom betonierten Hof vorn. | |
Dort steht ein flaches Gewerbegebäude, eineinhalb Zimmer groß, es dient als | |
Ausgabestelle. Gegenüber hat jemand ein Holzgerüst gezimmert und mit | |
Plastikplanen bezogen, eine Überdachung, darunter Stände und Obstkisten wie | |
auf dem Markt. An den Pfosten hängen gelbe Schilder "Hier dürfen Sie sich | |
selbst bedienen". Alles wirkt geordnet, säuberlich, aber recht ärmlich und | |
beengt. | |
Ab 13 Uhr kommen Lieferfahrzeuge auf den Hof, darunter auch von der | |
Potsdamer Tafel. Männer laden die Obst- und Gemüsekartons aus. Es gibt | |
Mangold, viele Bananen, Melonen, Radieschen, Tomaten, Trauben, Zucchini, | |
Auberginen, Möhren, Blumenkohl, viele Nektarinen, Sellerie, diverse Kräuter | |
und so fort. Ein eingespieltes Team gestandener älterer Frauen sortiert und | |
mustert aus. | |
Die Kartons und Kisten füllen sich mit gut aussehender Ware. Ein Fahrzeug | |
bringt Brot, Brötchen und Backwaren, vorwiegend aus hellem Mehl. Alles wird | |
hineingetragen ins Gebäude, und auch dort stehen ehrenamtliche Helferinnen | |
bereit und füllen die Regale und Tische mit dem Angebot. Es gibt auch | |
Bücher hier und einen Tisch mit Kinderspielzeug. Vier große | |
Gewerbekühlschränke mit Glastüren, gespendet von einer Sparkasse, geben det | |
Szenerie ein bisschen was von einem Geschäft. | |
Die Leiterin der Stelle, Schwester Ulrike Büttner von der Diakonie, | |
schwirrt hin und her und hat ein Auge auf alles. Sie empfiehlt uns Wolfgang | |
Leube als Gesprächspartner. | |
Der zögert nicht lange und bittet ins winzige Dienstzimmer. Wir erfahren, | |
das er 1956 in Thüringen geboren ist, seit 1965 in Berlin lebt und ein | |
richtiger Teltower geworden ist. Im Jahr 1973 machte er im VEB Teltomat | |
seine Ausbildung zum Elektromonteur, daneben arbeitete er auf dem Friedhof | |
Teltow. Im Jahr 1990 wurde er Friedhofsverwalter. Seit 2003 ist er | |
ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Teltower Tisch. | |
Wolfang Leube bietet uns Kaffee an und erzählt: "Neun Jahre, sag ich mal, | |
gibts jetzt diese Institution. Früher waren es mal vier Vereine, eine | |
Arbeitsloseninitiative, die haben sich zusammengetan im ,Kleinen Netzwerk'. | |
Die Räume waren in der Jahnstraße, in unserer alten DDR-Sparkasse. | |
Und die waren viel günstiger, platzmäßig. Und auch viel diskreter als hier, | |
wo wir ja direkt auf dem Präsentierteller sind, ohne Zaun und Tor. Hier | |
müssen die Leute bei Wind und Wetter im Freien anstehen, allen Blicken | |
ausgesetzt. Viele schämen sich, gesehen zu werden. Es gibt auch leider viel | |
Gerede in Teltow. Die Jahnstraße ist dann gescheitert, aus finanziellen | |
Gründen, wir konnten uns nicht selber tragen, da hat keine Behörde | |
geholfen, nichts. | |
Und wenn unsere Frau Kuke nicht gesagt hätte, wir können hierher - das war | |
der ehemalige Angelladen ihres Mannes -, dann hätte es die Institution | |
nicht mehr gegeben. Dann wäre es aus gewesen. Die Ämter haben sich nicht | |
gerührt. Im Jahr 2004 hat dann das Diakonissenhaus Teltow/Lehnin die | |
Trägerschaft übernommen. | |
Inzwischen geht es uns wieder ganz gut. Wir versorgen hier drei Orte: | |
Teltow, Kleinmachnow und Stahnsdorf. Es kommen momentan 38 Familien mit | |
zwei, vier, fünf oder auch zehn Kindern, und 80 Einzelpersonen. Da hängen | |
also ein paar hundert Leute dran. In den letzten Wochen und Monaten kamen | |
neue Leute dazu. | |
Wir haben auch immer etwa 15 bis 20, ob nun Rentner oder Invaliden, die | |
keine Marken haben, die ,nicht berechtigt' sind. Die kommen aber trotzdem | |
und bekommen auch, was eben noch da ist. Es wird niemand weggeschickt. Wir | |
haben Marken, die werden von den Berechtigten in so einer Art Lossystem | |
gezogen jede Woche, damit es gerecht zugeht und keiner sich benachteiligt | |
fühlt. Die Familien kommen immer zuerst. Aber wir haben jetzt immer genug | |
da, es bekommt also der Erste genug, und auch der Letzte kommt nicht zu | |
kurz. | |
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Wir hatten zwei Jahre lang einen Engpass bezüglich der Ware, da bin ich | |
dann immer rumgefahren zu den Geschäften, um die Reste zu bekommen für die | |
Leute, aber weil wir nicht als ,Tafel' anerkannt waren, haben wir nicht | |
viel bekommen. Es gab dann auch Meinungsverschiedenheiten mit der Potsdamer | |
Tafel. Doch jetzt werden wir von der Tafel beliefert, das ist ein Probelauf | |
für ein halbes Jahr, und die Lage hat sich entschärft, es ist genug da. | |
Also die Nummer ist eigentlich nicht mehr ausschlaggebend, aber wir | |
behalten sie bei. | |
Ganz wichtig ist zu sagen, dass viele Rentner kommen, die ja oft mit nur 10 | |
Euro über dem Limit liegen, also keinen Sozialausweis kriegen. Denen geht | |
es oft schlechter als den Hartz-IV-Empfängern. Teltow und Stahnsdorf als | |
Gemeinden, die stellen Sozialausweise aus, das heißt, die bearbeiten das | |
dort, die urteilen nach den Papieren, was ich persönlich ja schön finde, | |
aber ich möchte nicht beurteilen, wer bedürftig ist und wer nicht. | |
Kleinmachnow stellt keine Karten aus. | |
In Kleinmachnow wohnen die Reichen, die Schauspieler, da gibt es keine | |
Bedürftigen, anscheinend. Die kommen aber trotzdem bei uns rein, haben ihre | |
Hartz-IV-Bescheinigungen und bekommen selbstverständlich was, wie jeder. | |
Jedenfalls, wir geben den ,Abholern' - wir sagen ,Abholer' und nicht | |
,Kunden' wie die anderen, denn wir geben hier die Lebensmittel kostenlos | |
weiter - denen geben wir so viel, wie da ist am liebsten. | |
Am Schluss muss hier alles raus, denn wir haben keine Lagermöglichkeit, | |
außer den Kühlschränken. Und da drin wirds ja auch nicht frischer! Wir | |
haben ein, zwei Leute, die Schweine haben, wo wir dann, bevor wirs | |
wegschmeißen, denen Bananen geben, kistenweise, und Brot und Brötchen. | |
Abfall ist ein Problem, die Biotonnen sind schnell voll, und wir müssen | |
aufpassen, dass keine Ratten kommen, denn da ist ja gleich der Kindergarten | |
in der Nachbarschaft. Fleisch und Wurst kriegen wir immer relativ wenig, | |
also da bleibt nichts an Abfall. Wir haben ein Ehepaar, die holen sich, | |
wenn alles verteilt ist, die Reste an Obst. | |
Erdbeeren waren gerade viele da. Die machen daraus für die Leute Marmelade, | |
und die Zutaten werden gegen Rechnung von uns hier bezahlt. Ist schön, so | |
was! Und die Holzkisten holt der Siggi sich, der hat Ofenheizung und macht | |
sie klein für den Winter. Wir versuchen, so viel wie möglich zu verwerten, | |
denn das tut einem ja leid, es einfach wegzuwerfen! | |
Wir versuchen, es hier so gemütlich und schön zu machen, wie es mit unseren | |
Mitteln geht. Aber wir sind zu beengt, die Leute können sich nicht mal | |
irgendwohin setzen. Nur wenn der christliche Verein aus der Ruhlsdorfer | |
Straße kommt - die machen alle 14 Tage ein Grillfest hier -, da stehen dann | |
Bänke, aber ansonsten … Und im Winter findet die Ausgabe hier drinnen | |
statt. Die Abholer stehen dann dicht gedrängt, aber irgendwie muss es | |
gehen. Andere Räume bekommen wir einfach nicht. | |
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Hier haben wir wenigstens einen Halbjahresvertrag, der sich jeweils | |
verlängert, auf Widerruf. Die Diakonie würde uns vielleicht sogar Räume | |
geben, aber das wäre für viele Abholer einfach zu weit. Viele gehen mit den | |
Beuteln ja zu Fuß nach Hause, weil mit dem Bus fahren, das kostet ne Menge, | |
das ist bei 359 Euro zum Leben und allem einfach nicht drin. Aber trotz | |
allem, die Leute kommen gern hierher. Die Kinder sind auch gern da, spielen | |
ein bisschen und kriegen was zum naschen. | |
Es ist ja auch die Geselligkeit wichtig für den Menschen, manchmal | |
lebenswichtig. Wir haben einen Behinderten, Rollstuhlfahrer, er hat keine | |
Beine mehr, jetzt hat er auch noch seine Frau verloren, der sagt, ich bin | |
froh, dass ich immer ein paar Leute treffe und quatschen kann. | |
Man sieht es ja auch, dass die Leute hier viel miteinander reden. Sie | |
tauschen sich aus beim Warten, manchmal tauschen sie auch Kochrezepte, da | |
höre ich gern zu. Eine fragt, was machst du eigentlich mit dem und dem? Und | |
der oder die erzählt, was sie kocht, und das macht dann die Runde. | |
Die Leute haben wieder Spaß am Kochen, und sie machen aus dieser | |
,Ergänzung' - denn das soll es laut Definition sein - was Gutes für sich, | |
für ihre Familie. Und das ist wichtig, besonders für Frauen mit Kindern, | |
die es ja in allem härter trifft. Denen reicht das vom Amt zugeteilte Geld | |
noch weniger als den anderen. | |
Es ist einfach zu wenig, um sich gesund und gut zu ernähren, und schmecken | |
soll es ja auch. Und das muss ich nun unbedingt noch sagen: Die Sachen | |
stehen zwar unmittelbar vor dem Ablaufdatum oder müssen raus, weil nächste | |
Woche Frischware kommt, sie sind aber noch tadellos in Ordnung. Also nicht | |
nur ,verzehrfähig', sondern, ich sag mal, appetitlich. Alles andere wird | |
von uns aussortiert, da achten wir Ehrenamtlichen sehr darauf. Denn dass | |
jeder sich freut über die Waren, das liegt uns am Herzen. | |
Sonnabends sind wir schon früh hier, erst mal trinken wir Kaffee, | |
besprechen uns, machen den Hof sauber und bereiten alles vor. Unter der | |
Woche bin ich ab und zu da, schau nach dem rechten und gieße die Blümchen. | |
Momentan sind wir 26 Leute etwa, anwesend sind heute 10. Die beiden Herren | |
sind Strafarbeiter. | |
Sie sind sehr fleißig und wollen, auch wenn sie die Strafe abgearbeitet | |
haben, hier bleiben. Und wir haben, was mich besonders freut, auch Jugend | |
hier, fünfzehnjährige Mädels, die noch Schülerinnen sind und helfen wollen. | |
Aber letzten Endes sind wir zu wenig Leute. | |
Was wir bräuchten, das ist eigentlich ein fester Stamm, der jeden Sonnabend | |
zuverlässig hierherkommt, denn manchmal wird es eng. Das ist das Problem. | |
Die Damen hier sind sehr engagiert, teilweise schon sehr lange. Einige | |
kannten sich, glaube ich, noch von den Betrieben her, haben da lebenslang | |
zusammengearbeitet, im Kombinat elektronische Bauelemente Carl von | |
Ossietzky oder im VEB Geräte- und Reglerwerke. Das waren Großbetriebe hier | |
in Teltow, die hatten über 5.000 Beschäftigte! | |
Man hat ja früher ewig in so einem Betrieb gearbeitet, das war wie Familie. | |
"Das gabs nicht wie heute, diesen dauernden Wechsel. Oder gar | |
Arbeitslosigkeit, das gabs gar nicht. Ich selbst habe bis zur Wende im VEB | |
Teltomat gearbeitet, da wurden die großen Asphaltmischmaschinen | |
zusammengebaut, Endmontage, und wir haben die Elektrik montiert, die Kabel | |
verlegt. Die Maschinen gingen sogar in den Export ins nichtsozialistische | |
Ausland! | |
Es sind jedenfalls Bekanntschaften entstanden, Ehen sogar. Und | |
Freundschaften, die teils bis heute gehalten haben. Ich bin damals durch | |
einen Kumpel zu diesem Verein hier gestoßen, zum ,Kleinen Netzwerk', damals | |
noch, und ich habe es nie bereut. | |
Durch meine Friedhofstätigkeit kannte und kenne ich ja eine Menge Leute. | |
Ich habe das damals schon als Schüler gemacht, mit 15 Jahren habe ich auf | |
dem Friedhof Teltow angefangen, habe geholfen, Leute zu beerdigen, für 7,50 | |
Mark Taschengeld. | |
Während der Lehre habe ich mal eine ,Kent' gekauft, die sooo lang ist, das | |
war natürlich in der Disko der Hammer, als ich die geraucht habe! Ich bin | |
dieser Arbeit treu geblieben, über die Lehre hinaus war ich immer auf dem | |
Friedhof, jeden Tag, 37 Jahre lang, Montag und Donnerstag von 1 bis 18 Uhr, | |
Sonnabend von 9 bis 14 Uhr. Ich habe die Urnen getragen und Gruften gemacht | |
für die Erdbestattung. 25 Mark gabs dafür später, ein Schweinegeld! | |
Der Friedhof ist sehr schön, den müssen Sie unbedingt besuchen, fünf Hektar | |
groß, mit vielen alten Bäumen. Und dort habe ich schon als junger Mensch | |
kennengelernt, was seelischer Schmerz ist, was Probleme sind. Was das | |
bedeutet, wenn ein Kind stirbt, ein Vater, ein Partner. Ich habe auch sehr | |
viele Trauerreden gehalten, lange und kurze, schon bevor ich | |
Friedhofsverwalter war. Da kamen oft Leute, die sagten, Sie sind der erste | |
Mensch, mit dem ich seit Tagen rede. | |
Die schwerste Zeit, habe ich festgestellt, kommt immer erst nach dem | |
Bestattungstag, dann ist der Tote unwiderruflich und für immer weg. Aber | |
das Allerschlimmste ist, wenn Kinder gestorben sind, wie damals das | |
achtjährige Mädchen beim Sturm 1972 am 17. November. Es war mein erstes | |
Mal, so was vergisst man nicht. Oder die Kinder, die nach der Wende | |
verstärkt durch Verkehrsunfälle ums Leben gekommen sind, durch neue Autos | |
und Motorräder. Ganz schlimm. Ich habe das deutlich registriert auf dem | |
Friedhof. | |
Im Jahr 1990 bin ich dann übernommen worden als Friedhofsverwalter. Es hat | |
mich selbst gewundert. Heute ist das sehr eingeschränkt, ich habe zwar noch | |
eine Stelle, aber nicht mehr in der Verwaltung. Damals bin ich ins kalte | |
Wasser gesprungen. Ich dachte, den Friedhof kenne ich wie kein anderer, ich | |
weiß, was gemacht werden muss. Aber ich habe alles falsch gemacht, | |
anscheinend. | |
Heute kann ich es ja sagen, ich bin entmachtet worden, habe den | |
Erneuerungsmaßnahmen im Wege gestanden. Man har mir vorgeworfen, dass ich | |
nicht marktwirtschaftlich denke und handle. Gut, vielleicht hätte ich den | |
Leuten grundsätzlich eine Doppelstelle für viel Geld verkaufen müssen, aber | |
ich habe gesagt, Sie können auch eine Einzelstelle nehmen und dann später | |
noch eine Urne draufbetten, das kommt billiger. Denn es ist ja alles sehr | |
viel teurer geworden nach der Wende. | |
Manch einer war ein armes Schwein. Man versetzt sich ja auch rein in die | |
Leute, und die waren mir dankbar. Oder wir haben auch alte Einfassungen | |
gescheuert, ganz primitiv mit Sand und Bürste, und die dann für wenig Geld | |
weiterverkauft. | |
Ich erzähle jetzt die ganze Zeit von mir, aber Sie wollen es ja wissen. | |
Also in mir sträubt sich einfach alles … ja schon, ich bin Christ, aber das | |
ist ganz schwierig. Eigentlich bin ich radikal, im Grunde. Ich verrate | |
Ihnen, ich habe Karl Marx gelesen, freiwillig! Und ich bin ein Fan von Rosa | |
Luxemburg. Daher werde ich auch als Roter beschimpft. | |
Mir haben immer die Ideale imponiert. Die hat unsere DDR-Führung ja leider | |
schändlichst missbraucht und verraten, für meine Begriffe. Leider. Und ich | |
bin auch von den 68ern ein Fan in manchem. Ich war eigentlich schon immer | |
,anti'. Ein ganz dummes Beispiel: Ich war im Ferienlager, und es sollte ein | |
Stück aufgeführt werden. | |
## | |
Die Leiterin hat zu mir gesagt, und du, du machst den Prinzen! Und ich | |
sagte, nein, auf keinen Fall, ich will den spielen, der gegen den Prinzen | |
ist! Das ist bis heute so geblieben. Ich lege mich mit jeder Obrigkeit an. | |
Gründe gibts ja genug. Und ich muss sagen, um das abzuschließen, ich bin | |
auch maßlos enttäuscht worden von der sogenannten Demokratie, als ich | |
gemerkt habe, es gibt sie gar nicht! Ich hasse das, wie man für dumm | |
verkauft wird, und noch mehr hasse ich die Erhabenheit derjenigen, die | |
Macht haben über die, die sie nicht haben. | |
So, jetzt wissen Sie, weshalb ich hier bin. Und ich weiß, dass sich dadurch | |
nichts ändert an den Ursachen. Ist klar. Aber trotzdem, es ist wichtig für | |
die Leute, dass wir das hier zusammenmachen jeden Samstag. Und ich sage | |
Ihnen, ich sehe mich bei der ganzen Geschichte nicht als den, der hinter | |
diesem Ausgabetisch steht, ich sehe mich auch als denjenigen, der davor | |
steht. | |
Finde ich wichtig, dass man das weiß. Es kann mir passieren, dass ich | |
morgen davorstehe, oder auch Ihnen sogar. Dass man dankbar sein muss, wenn | |
man einen Beutel bekommt. Und was mich immer fertigmacht, wenn ich sehe, | |
gleichaltrige Kumpel, mit denen ich in der Schule war, mit denen ich | |
gelernt habe, wie die hierherkommen heute. Also, das ist für mich ein | |
Problem. | |
Das sind Kumpel, die einen ordentlichen Beruf hatten ihr Leben lang, die | |
Familie haben und dann wie viele plötzlich ihre Arbeit und alles verloren | |
haben. Ein direkter Spielkamerad von mir kommt auch. Der hat studiert, ist | |
hochintelligent, hat ein großes Wissen und alles, und dieser Mann findet | |
keine Arbeit mehr und schlägt sich mit Hartz IV und 1-Euro-Jobs rum. | |
Da komme ich dann schnell ins Nachdenken: Wie kann das denn sein, dass | |
diese Gesellschaft das angeblich nicht brauchen kann, dieses Wissen und | |
diese Kenntnisse, dass der Mann einfach nichts mehr wert ist?! Die Logik | |
verstehe ich nicht. Es geht nur noch um Geld, Geld, Geld! Den ganzen Tag in | |
allen Nachrichten. | |
Geld hat schon auch eine Rolle gespielt früher in der DDR, aber nicht die | |
Rolle, die es heute spielt: die Überlebensrolle! Und ich sehe das hier | |
besonders deutlich, auch bei den Kumpels. Ich schäme mich zwar nicht, wenn | |
ich die treffe, ich bin ja nicht dafür zuständig, was passiert, aber ich | |
habe ein flaues Gefühl im Magen, ehrlich gesagt. | |
So, jetzt muss ich mal ein bisschen was arbeiten. Heute ist nicht so viel | |
los, gestern war ,Geldtag', unserer Erfahrung nach kommen dann einige | |
nicht. Die wollen wahrscheinlich lieber mal richtig einkaufen gehen, im | |
Supermarkt." | |
Wir bedanken uns für das Gespräch. Während Elisabeth den leicht verlegenen | |
Herrn Leube fotografiert, gehe ich hinaus und mische mich unter die | |
Wartenden. Der Hof ist voll mit plaudernden Menschen, die in Grüppchen | |
wartend beieinanderstehen. Dann werden Nummern aufgerufen, die Betreffenden | |
treten mit ihren Taschen und Beuteln zu den Ständen. | |
Ich spreche eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern an, stelle mich vor | |
und frage, ob ich sie begleiten darf bei ihrem Rundgang. Sie nickt | |
unbefangen und erzählt, dass sie Hartz IV bekommt, ihr Mann arbeitet | |
halbtags und macht eine Ausbildung zum Altenpfleger. Sie öffnet ihren | |
Einkaufstrolly, nimmt, was sie braucht von den freundlichen Ehrenamtlichen. | |
"Ja, Nektarinen sind sehr gut", sagt sie, "die kann man nämlich liegen | |
lassen, bis sie reif sind. Einige von den Honigmelonen auch, bitte." | |
Sie verstaut diverse Gemüse und Salat, trifft ihre Wahl wohlüberlegt. Auch | |
die Kinder dürfen mit entscheiden. Sie sagt. "Ich bin jetzt seit vier | |
Wochen dabei, meine Mutter auch, und ich muss sagen, ich bin | |
superzufrieden. Wir leben seitdem sehr gesund. Gesünder als vorher und auch | |
sehr abwechslungsreich. Das ist ja alles sehr wichtig, wenn man Kinder hat, | |
die möchten ja auch zugucken, wie die Mutter kocht. | |
Denn es ist doch so, dass man vom Geld, das man kriegt, nicht das richtige | |
Essen kaufen kann. Ich sag mal so: Es reicht zwar hin, um eine Familie mit | |
drei Kindern zu ernähren, was wir an Geld bekommen, aber eben mit viel Dose | |
und Nudeln wenig Frisches. Für frische Sachen reicht es einfach nicht." | |
Inzwischen wurde auch die Markennummer der Oma aufgerufen, sie verstaut | |
ihre Waren und gesellt sich zu uns. "Na, heute ist ne Menge da!" Die | |
Tochter sagt: "Ja, es ist richtig gute Ware dabei, echt super, ich muss | |
sagen, es war jedes Mal so." - "Die Kinder können frisches Obst und Gemüse | |
essen", sagt die Oma, "ganz anders als früher." | |
Die Mutter nickt und sagt: "Ich bin über meinen Schatten gesprungen. Hatte | |
gehört von dieser Stelle, aber ich dachte immer, ne, so nötig haben wirs | |
nicht! Aber ich war richtig blöd. Wäre ich doch nur schon früher gekommen." | |
- "Ja", fügt die Oma hinzu, "es wird ja sonst alles nur weggeschmissen in | |
den Läden." Wir gehen ins Gebäude. Dort bekommen die beiden Frauen Brot, | |
Brötchen, Hefeklöße und Milchprodukte. Die Palette des Angebots ist groß: | |
Bioquark, Biomilch, Frischkäse, mehrere Sorten französischer Ziegenkäse | |
liegen bereit, Joghurt in Mengen, Butter, Eier, Aufschnitt. | |
Sogar echte Crevetten und künstliches Krebsfleisch sind im Angebot für den, | |
der es mag. Die Kinder stehen vor dem Kindertisch und singen im Duett: Wir | |
möchten ein Mal…buch, ein Mal…buch…" Und sie bekommen ein Malbuch von Fr… | |
Kuke. "Für ein Lächeln", sagt sie, "es kostet nur ein Lächeln." Der kleine | |
Junge bekommt auch noch einen Plastiklöwen mit beweglichen Beinen | |
geschenkt, und als ich ihn nach zehn Minuten draußen wiedertreffe, lächelt | |
er noch immer. | |
Ich treffe auf die kleine Gruppe ohne Marken. Sie warten geduldig. Eine | |
ältere Frau sagt: Wenn man keine Nummer hat, dann muss man halt ausharren | |
bis zum Schluss, aber sogar dann, wenn man drankommt, ist noch genug da. | |
Genug für alle, da hat keiner das Nachsehen." - "Ne", sagt eine Rentnerin, | |
"vor ner Weile wars noch ganz anders, da brauchte man ja gar nicht mehr | |
herkommen. Jetzt haben sie in Hülle und Fülle. Man kann nicht meckern. Nur | |
Fleisch ist immer wenig. Aber es geht auch ohne. Ne, ich muss schon sagen, | |
ist gut hier, und die Mitarbeiter sind richtig freundlich und hilfsbereit." | |
"Gleich geht es los, ich sehe ihn schon", sagt ein Mann mit Brille. Aber | |
die Rentnerin schaut auf ihre Uhr und sagt: "Ne … noch fünf Minuten. Na, | |
ich freu mich schon auf die Paprikaschoten und alles. Das ist ja immer sehr | |
gut noch, das Obst und Gemüse. Ein dünner Mann, der bisher geschwiegen hat, | |
ist anderer Meinung: "Ich sehe das nicht so! | |
Das sind alles alte, abgelaufene, überlagerte Sachen, die sie im Geschäft | |
gar nicht mehr bis Montag aufheben können. Das wird ziemlich schnell | |
schimmlig oder schlecht, gerade das Gemüse. Und wenns mal angegangen ist, | |
dann ist es angegangen. Sicher, man kanns wegschneiden, aber der Schimmel | |
ist überall. Es ist gefährlich, den Schimmel mitzuessen!" | |
Die Runde schweigt und macht abweisende Gesichter. Nur die Rentnerin | |
erklärt unbeeindruckt: "Also, ich habe noch keinen Schimmel gefunden. Man | |
muss es ja nicht aufheben tagelang. Ich wasche die Sachen gut ab und koch | |
mir einen schönen Eintopf für die ganze Woche. Dann habe ich auch gleich | |
was, wenn die Enkel kommen." | |
Wolfgang Leube nähert sich, begrüßt die Markenlosen und gibt die Reste | |
frei. | |
31 Aug 2009 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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