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# taz.de -- Innovativer Umgang mit Corona-Verboten: Türkische Parallelwirtscha…
> Verbote animieren uns Türken zu Höchstleistungen. Weitgehend unbeachtet
> haben wir eine perfekt funktionierende, bargeldlose Wirtschaftsform
> erfunden.
Bild: Zugenommen wegen Corona? Fatmas Änderungsschneiderei hat eine Lösung
Mitten in der Coronapandemie ist in der türkischen Community eine
bargeldlose, perfekt funktionierende Wirtschaftsform entstanden. Aus der
„Parallelgesellschaft“ wurde die „Parallelwirtschaft“. Wenn ich es mir
recht überlege, sogar die „Hauptwirtschaft“, weil ein kleines, winziges
Viruslein, das nicht mal ich mit bloßem Auge sehen kann, die berühmte
deutsche Weltwirtschaft in die Knie gezwungen hat. Nichts geht mehr! Seit
Monaten gilt: „Arbeiten verboten!“
Die Türken scheren sich bekanntlich nicht so sehr um Verbote, Verordnungen
und Erlasse. Die Verbote reizen uns, animieren uns zu Höchstleistungen.
Wenn irgendwo „Parken verboten!“ steht, stapeln wir unsere Wagen dort
kunstvoll übereinander. Wenn wir an einer Wand „Bitte Ruhe!“ lesen, nehmen
wir ein Megafon mit.
So ist die türkische „Parallelwirtschaft“ die logische Konsequenz der
gegenwärtigen Coronapandemie mit all ihren Verboten, Drohungen und
Schließungen.
Mein Kumpel Ismail, der einen Friseurladen hat, aber nicht rein gehen darf,
schneidet mir die Haare im Keller. Wir küssen uns nicht und ich gebe ihm
auch nicht die Hand. Ich gebe ihm nicht mal Geld. Falls er mir zu nah
kommt, dreht er sich sofort um. Meine neue Frisur sieht dementsprechend
nicht gerade nobelpreisverdächtig aus, aber besser geht es nun mal nicht,
wenn der Friseur mir die Haare mit dem Rücken zu mir schneidet. Hauptsache,
die sind ab!
Dafür darf sich Ismails Frau bei „Fatmas Änderungsschneiderei“ ihre Hosen
ändern lassen, weil sie während der Corona-Zwangspause sechs Kilo
zugenommen hat. Und die Schneiderin Fatma, die vom jahrelangen Sitzen an
der Nähmaschine Rücken hat, darf sich auf der Bank von Masseur Ahmet
ausstrecken.
Der Masseur Ahmet wiederum, der seine Massagepraxis seit fünf Wochen nicht
mehr offiziell betreten darf, bricht sich vor lauter Zähneknirschen wegen
der entfallenen Einnahmen seinen Schneidezahn und geht zu Serpil, die als
einzige von uns noch arbeiten darf, aber nicht kann, weil sich niemand in
diesen Coronazeiten in ihre Zahnarztpraxis traut.
Und während Serpil in Ahmets Zähnen rumbohrt, schneide ich in ihrem Garten
die Hecke, weil Serpils Knie vom jahrelangen Stehen an der
Mini-Bohrmaschine ruiniert sind.
Meine Frau Eminanim hat vom Bauern frische Eier für Oma Ayşe geholt, die
sich wegen des Virus nicht raus traut, und bekommt für ihre Kurierdienste
zehn braune Eier. Zum Abendessen bereitet sie uns ein herrliches Omelett
mit Tomaten, Knoblauch und Zwiebeln zu.
Mein Sohn Mehmet, der bei der Geburtstagsparty von Nedims Tochter auf der
Parzelle als DJ für den Lärm zuständig war und auch der einzige Gast, hat
als Honorar Tomaten, Knoblauch und Zwiebeln mitgebracht. Er meint mit einem
zufriedenem Grinsen im Gesicht: „Die Geschichte wiederholt sich doch! Nach
60 Jahren helfen wieder einmal die Migranten der deutschen Wirtschaft aus
der Patsche.“
Und ich frage mich: Haben wir etwa eine ganz neue Form der bargeldlosen
Gesellschaft erfunden?
29 Apr 2020
## AUTOREN
Osman Engin
## TAGS
Kolumne Alles getürkt
Wirtschaft
Satire
Community
Türken
Airbnb
Geld
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