# taz.de -- taz-Serie Schillerkiez: Die Ökonomie: Das Quartier der Ein-Mensch-… | |
> Spätis, Eckkneipen, Internetbuden: Dafür stand viele Jahre das Neuköllner | |
> Viertel. Doch langsam erholt sich das Gewerbe, junge Existenzgründer | |
> eröffnen Geschäfte. Sie sind optimistisch, dass im Kiez "bald was | |
> abgeht". | |
Bild: Ein Klassiker unter den Geschäften im Kiez: Der "Vierländer Gold-Ei"-La… | |
"Eier", sagt "Lörchen", "sind ein Selbstläufer." Seit 17 Jahren sitze sie | |
hier hinterm Schreibtisch, so die gestandene Frau mit dem satten Teint, den | |
rot gefärbten Locken und dem tief ausgeschnittenen Träger-Top. Nicht ein | |
einziges Mal habe ihr Freiland-Eier-Laden eine ernsthafte Krise erlebt. | |
"Eier werden halt immer gegessen, vor allem unsere." | |
Es ist nur ein karges weißes Zimmer, dieser "Vierländer Gold-Ei"-Laden in | |
der Selchower Straße im nördlichen Schillerkiez. In Grau, Grün und Gelb | |
türmen sich die Eierpackungen auf den Regalen, rechts daneben | |
selbstgemachter Eierlikör mit Kirschwasser und Mettwurst in Dosen. "Eine | |
Packung bitte", sagen die Kunden, die durch die gelbe Tür des Lädchens | |
treten. Und Lörchen weiß: Die XL-Eier sind gemeint, für 16 Cent das Stück, | |
zweimal die Woche von einem Bauernhof nahe Hamburg geliefert. "Die kleinen | |
kauft hier fast keiner", erzählt Lörchen. "Von den großen nimmt mancher | |
aber gleich packungsweise für seine Gartenkolonie mit." Es sei das Futter, | |
das sie so schmackhaft mache. Mancher kommt auch nur für ein Schwätzchen - | |
früher betrieb Lörchen, die eigentlich Hannelore heißt, eine Kneipe gleich | |
um die Ecke, den heutigen Biker-Treff "Bierbaum 3". | |
Er passt hierher in den Schillerkiez, der Vierländer Gold-Ei-Laden. | |
Eigenbrötlerisch, etwas überholt und ein kleines Lädchen nur, wie so viele | |
hier, die sich ins Parterre der Wohnhäuser zwängen. Und doch fällt der | |
Eierladen aus dem Rahmen. Weil er keine Eckkneipe, kein Späti, keine | |
Internetbude oder einer der hier zahlreichen Sozial- und | |
Arbeitslosenvereine ist. Weil er, als einer der wenigen, noch für den | |
"alten" Schillerkiez steht. | |
Man muss etwas suchen, um noch dieses alte Gewerbe im Kiez zu finden: | |
Glasermeister Metzdorf, Herrenschneider Akbulut, Orthopädie-Werkstatt | |
Richter, Malerbedarf Heymann. Früher war das noch anders. Damals, so | |
erinnern sich die Alten in einem Buch über die Warthestraße am Südende des | |
Kiezes, habe es in ihrer Straße noch einen Fleischer gegeben, zig Pinten, | |
einen Fischladen, zwei Bäcker mit doppelt gebackenem Krustenbrot. Davon ist | |
niemand mehr da. | |
Der Hermares-Gewerbehof in der Mahlower Straße ist Zeuge dieses Wandels. | |
Ein kleiner Innenhof zwischen hell gefliesten vierstöckigen Fassaden, fast | |
hundert Jahre alt - wie der Schillerkiez selbst. Eine Genossenschaft von | |
Militärkantinenpächtern zog hier 1916 ein, nach Kriegsende waren es | |
Bahnhofswirte, später ein Elektro-Fabrikant. Vor zwei Jahren, erinnert sich | |
Hauswart Uli Kämmerer, ein 70-Jähriger mit weißem Schnauzer und Glatze, sei | |
das letzte produktive Gewerbe aus dem Hof ausgezogen. | |
Heute rennen Kinder über den Innenhof. Die private | |
Johann-Georg-Elser-Grundschule hat sich im ersten Stock einquartiert. Mit | |
klassenübergreifendem Individualunterricht für gut 50 Schüler und einem | |
Hort zur Ganztagsbetreuung. Drum herum befinden sich Dienstleistungen: ein | |
"Fair"-Sicherungsbüro, eine Physiotherapeutin, ein | |
Sozialforschungsinstitut, ein Veranstaltungsmanager. Es ist Hauswart | |
Kämmerer zu verdanken, dass unten rechts im Erdgeschoss doch noch gehobelt | |
wird. Zum Renteneintritt hatte der frühere Tischler hier sein | |
Werkstattinterieur deponiert. ABM-Männer reparieren in der "Kiezwerkstatt" | |
Kindergartenstühle und Fahrräder, draußen paffen ihre Kollegen Zigarette. | |
"Alles Arbeiten für gemeinnützige Einrichtungen", erklärt Kämmerer. | |
Das Handwerk, das sich noch gehalten hat, versteckt sich in den | |
Seitenstraßen abseits des Hermares-Hofs. Glaser Peter Kubitza etwa, seit | |
zehn Jahren in der Weisestraße. Oder Ferya Taktak, die Schneiderin, seit | |
elf Jahren in der Kienitzer. Eher schwierig liefen ihre Geschäfte, bekunden | |
beide. Es seien vor allem "die Deutschen" aus dem Kiez, so Taktak, die noch | |
zu ihr in die Änderungsschneiderei kämen. Die würden sich die Lieblingshose | |
noch flicken lassen, anstatt gleich neue Billigware zu kaufen. Dabei | |
verlangt die 52-Jährige, vor 40 Jahren aus der Türkei eingewandert, nur | |
drei Euro "für ein kleines Loch", zehn für ein großes. Ferya Taktak macht | |
trotzdem weiter. Weil die Miete günstig und Sticken ihr Hobby sei. Und | |
auch, weil jetzt mit der Öffnung des Tempelhofer Parks wieder mehr Leute | |
vorbeikämen. | |
Viele halten es so im Schillerkiez wie Taktak: lieber morgens den Laden | |
aufmachen, klein vor sich hin werkeln als gar nicht arbeiten. In Zahlen | |
fassen lässt sich das nicht: Gewerbedaten auf Quartiersebene erhebe man | |
nicht, erklären Bezirk und Industrie- und Handelskammer (IHK) unisono. | |
Klaus Griesbach von Pro-KMU, einer Agentur für kleine und mittlere | |
Unternehmen in Neukölln, sieht den Schillerkiez aber als Quartier der | |
"Ein-Mann-Betriebe und ABM-Maßnahmen". Die Fluktuation der | |
Geschäftstreibenden sei hoch, gewirtschaftet werde auf kleinem Niveau. "Wo | |
Kaufkraft nicht da ist", sagt Griesbach, "kann sich Kaufkraft auch nicht | |
entfalten." Laut Quartiersmanagement sind mehr als 40 Prozent der 21.000 | |
Schillerkiezler arbeitslos, jeder dritte verschuldet. Die Laufkundschaft, | |
heißt es aus den Geschäften, sei "fast null". | |
Es sind Läden wie "Günthers Nachlassverwertung", die deshalb seit Jahren im | |
Schillerkiez funktionieren. Es gibt keinen vollgestopfteren Laden im | |
Viertel: Gebrauchte Kommoden, Lampen, Koffer, Puzzles und Fernseher stapeln | |
sich bis unter die Decke - das Restgut aufgelöster Haushalte. Irgendwo ganz | |
hinten am Schreibtisch sitzt Christa Stübing. Die 77-Jährige mit der weißen | |
Dauerwelle und dem roten, weißgepunkteten Kleid legt die Kippe in den | |
Ascher und berichtet Trauriges. Über die vielen Leute, die zu ihr kämen, um | |
noch Kleinstteiliges aus ihrem Haushalt anzubieten. Selbst im tiefsten | |
Winter wolle noch mancher seine Jacke versetzen, erzählt Stübing mit | |
rauchiger Stimme. "Dabei machen wir gar keinen Ankauf, nur | |
Wohnungsauflösungen." Die Zeiten, in denen dabei Meißner Porzellan oder | |
Silber heraussprang, seien längst vorbei, so Stübing. "Ist halt immer noch | |
eine der ärmsten Ecken Berlins hier." | |
Andreas Heymann dagegen will nicht mosern. "Man muss sich seine Nische | |
suchen, dann kann man sich auch hier behaupten." Heymann ist | |
Farbengroßhändler, bekannt für seinen "Express-Service". Seit 101 Jahren | |
sitzt der Familienbetrieb in der Okerstraße, gehörte schon Heymanns Opa und | |
Vater, und heute Andreas Heymann selbst. Der Enkel - blaues Polo-Hemd, | |
Turnschuhe - ist einer, der am Telefon poltert und keiner, der viel Zeit | |
hat. Der Schillerkiez sei jahrelang klein gespielt worden, sagt Heymann. | |
Auch von den Eigentümern, von denen sich viele nicht um ihre Häuser kümmern | |
würden. Es sei nicht einfach, Kunden zu finden, wenn man dreimal täglich | |
Müll und Hundekot vor der Tür wegfegen müsse. | |
"Das Haus der guten Qualitäten", war der Leitspruch von Heymanns Opa | |
Alfred. Der Junior nimmt die Losung bis heute als Ansporn. Entscheidend für | |
den Erfolg sei auch das Äußere, sagt Heymann, als er über den penibel | |
gefegten Hinterhof zu seinem Farblager führt. Bisher fehle es an | |
"ordentlichen Strukturen" im Schillerkiez, einem Vollkornbäcker zum | |
Beispiel. "Einen Spätkauf in der Straße finde ich ja super. Aber doch nicht | |
fünf." | |
Aber, bemerkt Heymann, es beginne sich etwas zu ändern im Schillerkiez, | |
seit einem Jahr etwa. Inzwischen habe er in den Wohnungen, die er über | |
seinem Büro vermiete, sogar einen Züricher. Es ist nicht das einzige Indiz, | |
dass sich im Quartier etwas tut. Im Eiscafé "Einklang" sitzen sie bereits | |
mit Laptops an den Tischen. In der Selchower Straße wird schon wieder eine | |
neue Galerie weiß getüncht. Der 1990 eingestellte Wochenmarkt auf der | |
Schillerpromenade ist wieder da. Rund zehn Stände nur, aber bio. Und auch | |
Hauswart Uli Kämmerer kann feststellen, dass der Hermares-Gewerbehof | |
vollvermietet, kein Quadratmeter frei sei. "Einige unserer Mieter könnten | |
durchaus in bessere Regionen ziehen", so Kämmerer. "Aber die wollen gar | |
nicht weg." | |
Nur wenige Wochen ist das "Meltin Pot" alt, versteckt inmitten der | |
Allerstraße. In schwarzen Holzregalen liegen Che-Guevara-Shirts im | |
Graffiti-Style und Spraydosen. Neben der Sitzecke gibts Latte macchiato. | |
"Wir sind Neuköllns erster Skate-Shop", sagt Khalid Waanders. Eine | |
Druckerei gehöre auch zum Laden. Unterm Schreibtisch schläft Waanders | |
Bullterrier. Seit zweieinhalb Jahren wohne er im Kiez, erzählt der | |
37-jährige gebürtige Kieler, hergezogen "aus dem nervig verschwäbelten | |
P-Berg". Noch sei das Z-Lage hier. "Aber da wird noch was abgehen." | |
Das Geschäft laufe gut an, der Kiez sei unheimlich entspannt. Der | |
Tempelhofer Park, die kleinen, neuen Läden, die jungen Leute, die hier | |
herziehen. "In drei, vier Jahren wird das hier deutlich jünger aussehen", | |
ist Waanders überzeugt. Es wäre seine Klientel. Einen ersten Skate-Contest | |
hat er an der Hasenheide bereits organisiert. "Es ist ein Wagnis, was wir | |
hier machen", sagt der Jung-Unternehmer. "Aber es könnte klappen." | |
26 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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