# taz.de -- taz-Serie Schillerkiez: Die Roma: Damit Ruhe einkehrt | |
> Zwischen 100 und 200 Roma leben in dem Neuköllner Viertel, viele in | |
> verwahrlosten Wohnungen. Sozialarbeiter versuchen, über die Kinder deren | |
> Eltern zu erreichen - mit unterschiedlichem Erfolg. | |
Bild: Romajunge: Spielt nicht zu Hause, sondern Unter den Linden | |
"Jetzt hat der mir schon wieder mein Auto zerkratzt." Murat Acar läuft um | |
sein in der Okerstraße geparktes Auto und begutachtet die Schramme an | |
seinem alten roten Saab. Allzu sehr scheint er nicht an dem Wagen zu | |
hängen: Die Verärgerung, die der Sozialarbeiter dem fünfjährigen | |
Autokratzer gegenüber äußert, ist nur gespielt. Und der kleine Semi hüpft | |
grinsend auf dem Gehsteig, eine Zahnlücke entblößend. "Semi gehört hier zum | |
Inventar", sagt Acar versöhnlich und wuschelt ihm durch die dunklen Haare. | |
Der Junge ist nicht nur das Sorgenkind des Sozialarbeiters. Semi gehört zu | |
den schätzungsweise 100 bis 200 Roma des Schillerkiezes. Sie leben meist in | |
der Okerstraße. In den letzten Jahren häuften sich negative | |
Zeitungsberichte über sie: Von überfüllten Wohnungen voller Ratten und | |
Schimmel, von vermüllten Gehwegen, von Mädchen, die sich prostituieren, und | |
Kindern, die nicht zur Schule gehen, war zu lesen. Die Roma des Kiezes | |
gehören zu denen, die seit dem EU-Beitritt der osteuropäischen Länder | |
verstärkt nach Berlin kommen. Manche nur für einen Sommer - sie arbeiten | |
schwarz auf Baustellen, betteln oder putzen an Ampeln Autoscheiben - und | |
kehren dann nach Hause zurück. Andere wollen hier sesshaft werden: wie | |
Semis Mutter, die vor Jahren mit ihren Kindern aus Polen kam. | |
Genau für diese Familien wurde im November 2009 das | |
Familienberatungszentrum Integra in der Okerstraße eröffnet. Neben | |
Jugendarbeit und Informationen für Erwachsene bieten Murat Acar und seine | |
Kolleginnen ab 15 Uhr Kindernachmittage an. Semi war einer der Ersten, der | |
dort neugierig vorbeischaute. Einige Tage später brachte er seine ältere | |
Schwester Sindi mit und die wiederum ihre Freundin. | |
Meistens klopfen die Kinder schon mittags, direkt nach der Schule, an die | |
Tür der Dreizimmerwohnung im Erdgeschoss. An diesem Tag ist Kochen | |
angesagt: In der Küche schneiden und waschen acht Mädchen und Jungen | |
Gemüse. Alle wohnen in der Straße und gehen um die Ecke zur Schule; Semi | |
ist der Einzige, der dafür noch zu jung ist. Ihn hält es nicht in der | |
Küche, ständig rennt er auf die Straße, wirft mit Steinen, einmal bespuckt | |
er Passanten. "Sindi, du musst besser auf deinen Bruder aufpassen und mit | |
deiner Mutter reden, dass sie euch nicht immer allein lässt. Semi muss in | |
die Kita", schimpft Sozialarbeiterin Slobodan Banovic. Sindi, eine | |
zierliche Elfjährige mit Zopf, rosa Kleid und Glitzersandalen, erklärt: | |
"Aber die muss arbeiten und einkaufen." Dann ermahnt sie auf Polnisch ihren | |
Bruder, der gerade wieder hereinstürmt. | |
Wiederholt haben Acar und Banovic mit der Mutter über deren Sohn | |
gesprochen. "Sie sagt, sie sieht das alles ein, aber es ändert sich | |
nichts", berichtet Murat Acar. Dass die Eltern sich oft kaum um ihre Kinder | |
kümmern, liege vor allem an den existenziellen Problemen der Eltern: Sie | |
kämpfen darum, hier bleiben zu können und Geld zu verdienen. Der 49-jährige | |
Sozialarbeiter war anfangs erschüttert, wenn auch ältere Kinder weder | |
wussten, wie man eine Toilettenspülung bedient noch, wie man mit Besteck | |
isst. Doch Acar ist Realist genug, um zu wissen, dass das Projekt mit | |
zweieinhalb Stellen, die sich insgesamt sieben Sozialarbeiter teilen, den | |
Kindern kein Zuhause ersetzen kann. Immerhin: "Wir haben eine Anlaufstelle | |
geschaffen, die gut angenommen wird und Kinder und Jugendliche von der | |
Straße holt." | |
Das war eines der Ziele der 2009 gegründeten "Task Force Okerstraße". Die | |
aus Behörden, Polizei und Quartiersmanagement zusammengesetzte | |
Eingreiftruppe soll sich um die deutsche Trinkerszene kümmern und sich der | |
Probleme rund um die beiden als "Romahäuser" bekannten Altbauten in der | |
Straße annehmen. "Anwohner hatten sich beschwert über Lärm, | |
Kinderprostitution und Kot, der in Plastiktüten aus den Fenstern flog", | |
erzählt der Neuköllner Migrationsbeauftragte Arnold Mengelkoch, der die | |
Task Force leitet. Sie trifft sich alle zwei Monate und hat auch die | |
Eröffnung des Integra-Treffs initiiert. Integra ist nicht die einzige | |
Anlaufstelle für Roma in Bezirk Neukölln: Auf der anderen Seite der | |
Hermannstraße gibt es den Roma-Jugendverein Amaro Drom; um die Ecke | |
betreiben zwei Brüder das "Rroma Café" mit Theaterbühne. Und in der | |
Karl-Weise-Grundschule im Schillerkiez kümmert sich das Projekt | |
"Elternschule" um Familien, deren Kinder Probleme in der Schule haben oder | |
den Unterricht schwänzen - dazu gehören immer wieder Romakinder. | |
Nicht nur Behörden und Polizei sahen Handlungsbedarf. "Hier war alles | |
zugemüllt, das ist jetzt besser geworden, obwohl die Kinder bis heute | |
Autoscheiben einschmeißen", schimpft ein Anwohner vor einem Kiosk. Der | |
Laden mit Hundefutter und Schnapsflaschen im Schaufenster gehört zu der | |
Riege von Spätkaufläden, Internetcafés und Grillimbissen in der Straße. In | |
einem anderen Kiosk arbeitet Medine Tapan. "Mit den rumpöbelnden | |
Jugendlichen war es schlimm", berichtet sie. Und freut sich, dass die | |
Straße nun abends ruhiger und sauberer sei. Dafür sorgen auch Putzaktionen | |
in der Straße, wie sie Integra zusammen mit der BSR Anfang September | |
veranstaltet hat. Da griffen Anwohner und Integra-Kids gemeinsam zum Besen. | |
Doch die Task Force wird nicht nur gelobt - vor allem die linke Szene | |
kritisiert sie: "Was vom Quartiersmanagement als gut gemeintes soziales | |
Projekt vermarktet wird, entpuppt sich als stigmatisierendes und | |
diskriminierendes Vorgehen, das konsequenterweise zur Aufwertung des Kiezes | |
und dem Austausch der MieterInnenstruktur führen soll", hieß es in der | |
Stadtteilzeitung Randnotizen. "Es gab viel Kritik an der Task Force, vor | |
allem wegen des Namens", entgegnet Integra-Leiter Acar. "Aber wir wollen | |
niemanden vertreiben, sondern machen hier dringend nötige Sozialarbeit." | |
Einige Jugendliche konnten er und sein Team bewegen, zum Jugendabend und | |
zum freitäglichen Mitternachtsboxen zu kommen. Finanziert wird die | |
Beratungsstelle aus Mitteln des Programms "Soziale Stadt", für maximal fünf | |
Jahre. Dann sollen die Kinder und Jugendlichen ins alteingesessene | |
Jugendzentrum Yo22 integriert sein. Dessen Sozialarbeiter Julius Legde ist | |
jedoch skeptisch: "Bei uns treffen sich eher arabisch- und türkischstämmige | |
Jugendliche. Zuletzt gab es immer wieder Auseinandersetzungen mit den | |
Roma." Selbst der Migrationsbeauftragte Mengelkoch ist unsicher, ob das | |
klappt. "Die Roma-Jugendlichen erobern sich keine eigenen Räume, die ziehen | |
sich lieber zurück und wollen nicht auffallen." | |
Zurückgezogen leben auch die Romafamilien in den Wohnungen der Okerstraße. | |
Eine der Haustüren steht offen, es riecht nach Müll, auf dem Boden liegen | |
zertretene Plastikbecher. In dem dunklen Flur erinnert nur die rosa | |
Holzvertäfelung an die besseren Zeiten des Gründerzeithauses. Eine ältere | |
Mieterin gewährt einen Blick in die Wohnung, in der sie mit ihrer | |
sechsköpfigen Familie seit sechs Jahren lebt. Unter dem Teppich sei | |
Schimmel, Gift für sie als Asthmatikerin. Ihr Mann zeigt schimpfend auf den | |
kaputten Spülkasten im Bad; aus der Badezimmerwand ragt ein offenes Rohr, | |
aus dem es tropft. Im Wohnzimmer fehlen die äußeren Scheiben der alten | |
Doppelfenster. Die Romafrau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen | |
will, hat Angst vor dem Winter, da die Heizung ständig ausfalle. "Wir | |
wollen hier weg. Aber es ist schwer, eine bezahlbare Wohnung zu finden", | |
sagt sie. | |
Das Gesundheitsamt und die Bauaufsichtsbehörde waren wiederholt da und | |
haben dem Eigentümer Auflagen erteilt. Doch außer dass der Hof entmüllt | |
wurde, ist nichts passiert. "Der Eigentümer hat in die Häuser wenig | |
investiert und viel damit verdient", erzählt der Migrationsbeauftragte | |
Mengelkoch. Über Mittelsmänner habe jener Schlafplätze überteuert | |
vermietet. | |
"Wie in der Sardinenbüchse schlafen die Leute", sagt die alte Mieterin und | |
zeigt auf die Wohnungstür nebenan. Obwohl der Integra-Treff nur ein paar | |
Häuser entfernt liegt, haben sie und ihre Familie noch nie davon gehört. | |
Vielleicht, weil die Kinder und Enkel schon fast erwachsen sind. "Die | |
Eltern erreichen wir über die Kinder", erklärt Sozialarbeiter Acar. Anderen | |
Mietern des Hauses haben die Sozialarbeiter beim Schreiben von Briefen an | |
den Eigentümer geholfen, Beratungen bieten sie auch auf Rumänisch und | |
Serbokroatisch an. | |
"Sie müssen zum Standesamt", erklärt Sozialarbeiterin Slobodan Banovic | |
einem jüngeren Mann in zu großem Anzug und mit einer Alditüte in der Hand. | |
In gebrochenem Deutsch will der Mann aus Bulgarien wissen, wo er seine | |
Vaterschaft anerkennen lassen kann. Wie alle EU-Bürger darf er höchstens | |
drei Monate in Deutschland bleiben. Da die Mutter des Kindes Deutsche ist, | |
hofft er, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. "Wenn Sie die | |
Anerkennung haben, kommen Sie wieder, dann helfen wir Ihnen", erklärt | |
Banovic. | |
Beim Kochnachmittag im Zentrum Integra herrscht ein Kommen und Gehen. Die | |
Jungs laufen raus auf die Straße, kurz darauf kommen sie zurück. "Man darf | |
hier keine hohen Erwartungen haben, wir gestalten die Nachmittage spontan. | |
Die Kinder kommen, wie sie wollen. Dann bleiben sie auch mal wieder | |
wochenlang weg, weil ihre Familie in die Heimat zu einer Hochzeit fährt", | |
erklärt Banovic. | |
Beim Essen sitzen aber dann doch alle kurz zusammen. "Wollt ihr malen | |
lernen? Eine Künstlerin würde kommen und mit euch malen lernen", sagt | |
Slobodan Banovic. "Ja!", rufen die Mädchen laut. Sindi erzählt, dass sie | |
auch Künstlerin werden möchte, und wird unterbrochen von Semi, der sich mit | |
Sambal Oelek den Mund verbrannt hat und weint. Geduldig entfernt sie die | |
Soße von seinen Nudeln, während der Junge schon wieder aufspringt und nach | |
draußen rennt. | |
15 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Kathleen Fietz | |
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