# taz.de -- Essay Protest und Gesellschaft: Aber nicht in meinem Vorgarten! | |
> Straßenproteste, Sammelklagen, Volksentscheide: All das könnte die | |
> Energiewende verzögern und behindern. Um sie zu erreichen, muss die | |
> ambivalente Protestenergie zivilisiert werden. | |
Bild: Endgültiges Todesurteil für die ramponierte Natur? Windräder sind nich… | |
Grün Gesinnte stehen derzeit wie selbstverständlich auf der Seite | |
derjenigen, die den Ausbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs ablehnen, als | |
Symbol sympathischen Bürgerprotests gegen unzeitgemäße Prestigeobjekte. Die | |
Grünen empfehlen sich derweil für anstehende Landtags- und Kommunalwahlen | |
und wachsen in den Umfragen zur kleinen Volkspartei, mit freundlicher | |
Unterstützung der Bundesregierung, deren konzernfreundliche Energiepolitik | |
den Protest auf der Straße zusätzlich anfeuert. Aus den eher | |
angstgetriebenen Protesten der Anti-AKW-Bewegung in den 1980er Jahren ist | |
eine mit überlegenem Wissen ausgestattete Auseinandersetzung um unsere | |
(Energie-)Zukunft geworden. Atom-Proteste und alternative Lebensstile sind | |
aus der Öko-Nische herausgetreten, die APO 2.0 ist mehrheitsfähig geworden. | |
Die aktuellen Proteste haben indessen eine Kehrseite. Denn die grüne Partei | |
ist auch für eine radikale Energiewende, die ebenfalls ihre großtechnischen | |
Milliardenprojekte haben wird. Zum Beispiel den "Supergrid", ein | |
flächendeckendes Netz erneuerbarer Energie von der Sahara bis zur Nordsee, | |
das Proteste gegen den massiven Leitungsbau über oder unter der Erde | |
absehbar macht, nicht zuletzt seitens der grünen Basis. Energiewende ja, | |
aber bitte nicht in meinem Vorgarten oder Blickfeld. | |
Grüner Hauskrach | |
Eine Vorahnung von dem grünen Hauskrach vermitteln aktuelle Streitigkeiten | |
um Windparks. Die einen erblicken darin Symbole einer klimaverträglichen | |
Zukunft, die anderen das endgültige Todesurteil für die ramponierte Natur, | |
wenn etwa Rotorblätter geschützte Fledermäuse und seltene Vogelarten | |
dahinraffen. Um visuelle Umweltverschmutzung geht es gerade in | |
Massachusetts. Dort macht unter anderen Robert Kennedy jr., ein | |
ausgewiesener Umweltaktivist, Front gegen das von Präsident Barack Obama | |
befürwortete Offshore-Kraftwerk "Cape Wind" vierzehn Seemeilen vor | |
Nantucket, dem Hauptort der gleichnamigen Ferieninsel. Es soll saubere 469 | |
Megawatt erzeugen, doch 130 Windturbinen wollen viele Küstenbewohner und | |
Sommerfrischler dafür nicht ertragen. Ähnliches spielt sich in | |
Ferienparadiesen der Ägäis ab, während die brandenburgische Gemeinde Luckau | |
den Ärger über die Windmühlen am Ortsrand mit einer zusätzlichen Steuer | |
beruhigen und auf diese Weise für Akzeptanz sorgen will. | |
Den Grünen wird angesichts bester Umfragewerte mulmig, denn sie begreifen | |
die Widersprüchlichkeit der in sie gesetzten Erwartungen. Straßenproteste, | |
Sammelklagen und Volksentscheide könnten die unter mächtigem Zeitdruck | |
stehende Energiewende verzögern und behindern, sodass am Ende selbst eine | |
mehrheitlich begrüßte Nachhaltigkeitsstrategie "politisch nicht | |
durchsetzbar" wäre - so hat der niedersächsische Ministerpräsident Ernst | |
Albrecht seinerzeit den Rückzug von dem Atom-Endlager Gorleben begründet. | |
Zu verhindern ist das mit der Zivilisierung der frei flottierenden und | |
ambivalenten Protestenergie und vor allem mit mehr demokratischer Teilhabe, | |
die das lokale Wissen einbezieht und den Menschen "vor Ort" eine aktive | |
Rolle gibt. Die Zustimmung zu Windkraftanlagen steigt erfahrungsgemäß, wo | |
diese Kooperativen und Genossenschaften gehören, bei denen Bürger an der | |
Planung wie an den Gewinnen beteiligt sind - und nicht nur Baumaßnahmen zu | |
ertragen haben wie in Braunkohlegebieten, wo immer noch ganze Dörfer dem | |
Erdboden gleichgemacht werden, oder beim Abbau von Ölschiefer, der | |
unbewohnbare Mondlandschaften hinterlässt. | |
Die Zustimmung zu Bio-, Solar- und Windenergie beruht nicht allein auf | |
ihrem sauberen Image, sie impliziert auch weniger zentralistische | |
Sozialstrukturen, Unternehmensformen, Arbeits- und Lebensweisen, die der | |
britische Ökonom E. F. Schumacher 1973 mit dem Slogan "Small is beautiful" | |
umschrieben hat. Wer für eine einschneidende Klimapolitik Zustimmung sucht, | |
sollte also nicht allein Vermeidungs- und Minderungsziele in den Raum | |
stellen (wie "Atomkraft? - Nein danke" und "Null Treibhausgase"). Die | |
Bürgergesellschaft muss im Einklang mit dem milieuübergreifenden | |
Wertewandel weltweit Ziele guten Lebens erörtern, die das erforderliche | |
"Weniger" (an Strom- und Kalorienverbrauch, Flugmeilen, Jahreskilometern, | |
Raumtemperatur etc.) als ein "Mehr" (an Lebensqualität und | |
Lebenszufriedenheit) plausibel machen. | |
Es geht mit anderen Worten nicht allein um die Abwendung gefährlichen | |
Klimawandels und ein "Weiter so!" mit erneuerbaren Energien, sondern um | |
einen tief greifenden Umbau der Gesellschaft. | |
Laufende Experimente | |
Diese Vision muss niemanden schrecken. Sie kann an die laufenden | |
Experimente und Erfahrungswerte kritischer Verbraucher anknüpfen, die | |
alternative Ernährung, intelligentere Mobilität und nachhaltige | |
Lebensweisen tagtäglich ausprobieren und sich dafür jede Menge Witzeleien | |
und Besserwissereien anhören müssen. Alternativer Konsum allein bildet | |
keine kritische Masse und stiftet auch keine politische Identität, aber die | |
Verbraucher und ihre Verbände sind die unterschätzten Riesen der | |
Klimapolitik. Dabei bleiben sie angewiesen auf die Bündelung und Vertretung | |
ihrer Vorschläge auf der parlamentarischen Ebene, um ein Gefühl der | |
Selbstwirksamkeit zu erreichen. Der Gesetzgeber muss die vielfältigen | |
Ansätze "von unten" in ein übergreifendes Innovationsszenario einbauen, in | |
dem kluge Gebote und Verbote, sinnvolle Marktanreize und alternative | |
Technik die Aspirationen der Konsumenten-Bürger stützen. Davon findet man | |
bisher zu wenig im Energiekonzept der Bundesregierung. | |
Wenn die Technologien vorhanden sind und ihre Finanzierung möglich scheint, | |
wenn zugleich ein breiter gesellschaftlicher Konsens besteht, dass sich | |
vieles ändern muss, dann fällt der Blick unweigerlich auf den Mangel an | |
Bereitschaft und Kompetenz der politischen Eliten, mit Protestbereitschaft | |
und Reformbedarf umzugehen. Die herkömmliche Willensbildung und | |
Interessenaggregation von Parteien und Verbänden beruhen auf zahlender | |
Mitgliedschaft, privater und/oder staatlicher Parteienfinanzierung und | |
massenmedialer Kommunikation, auch Kommunalpolitik ist in der Regel | |
konservativ und klientelorientiert. Für Citizen Empowerment, die Stärkung | |
der Bürgergesellschaft, hat die Berufspolitik wenig Sinn und Gespür. | |
Stuttgart 21, aber auch der Hamburger Volksentscheid zur Schulpolitik | |
demonstrieren, wie wenig die Parteien ihren Integrationsaufgaben noch | |
gewachsen sind - und wie wenig sie erst recht den Keimen und Knoten | |
nachhaltiger Lebenspraxis, wie man sie gerade in Schul- und | |
Verkehrsprojekten antrifft, einen Entfaltungsraum und ein Experimentierfeld | |
bieten. | |
Eine Volkspartei neuen Typs muss also zunächst einmal das "vorpolitische" | |
Terrain sondieren und aktive Feldforschung betreiben. Im politischen Feld | |
findet man reale wie virtuelle Kommunikationsgemeinschaften, in denen | |
Erfordernisse und Modalitäten der Energiewende konkret werden: Arbeitsteams | |
und Berufsvereinigungen, Sportvereine und Ehrenamtliche, Schulklassen und | |
Lehrerkollegien, findige Selbstständige und rührige Ruheständler und nicht | |
zuletzt die Web-Gemeinschaften der Social Media. Vermeintlich unpolitische | |
Akteure des Wandels wirken im Kleinen und bringen Reformen voran. | |
Überwiegend beziehen sich ihre Aktivitäten nicht auf ökologische Themen im | |
engeren Sinne, eher auf die Verbesserung von Arbeitsorganisation, | |
Erziehungspraxis, Altenpflege und dergleichen. Es ist Nachbarschaftshilfe | |
in Alltags- und Notsituationen, in denen mögliche Ziele guten Lebens | |
aufscheinen (oder die deren Abwesenheit drastisch deutlich machen). | |
Agenten des Wandels sind üblicherweise nicht in größeren Verbänden und für | |
längere Zeiträume organisiert. Dennoch sind sie politische Wesen, auch wenn | |
sie sich kaum für die Sorte Politik interessieren, die sie aus | |
elektronischen Medien kennen, die ständig "thematisiert" und Forderungen | |
erhebt, aber zu wenig unternimmt und voranbringt. | |
Bedrohte Freiheit | |
Ein Organisator der Proteste in Stuttgart hat kürzlich in den "Tagesthemen" | |
geschwärmt, man spüre hier, was sonst noch alles möglich ist. Wenn das | |
stimmt und sich zur Aufbruchsstimmung verdichtet, kann im "dritten Sektor", | |
zwischen Staatsgewalt und Marktmacht, eine Bürgerinitiativen-Bewegung | |
heranwachsen, die nicht mehr automatisch auf die sozialökologische Linke | |
zuläuft. Ökologische Politik, die um mehr als mediale Präsenz und | |
demoskopische Zustimmung bemüht ist, muss diese Changemaker ausfindig | |
machen, ihnen auf Augenhöhe begegnen und sie als respektierte | |
Netzwerkpartner gewinnen. | |
Umweltpolitik und Klimaschutz, über deren Rang und Notwendigkeit mehr | |
Konsens denn je besteht, mangelt es nicht an "positiven" Zielen. Das zu | |
schützende kollektive Gut ist aber weniger die Natur oder die Schöpfung, es | |
ist die ebenso bedrohte Freiheit des Einzelnen und der Republik. Die | |
Energiewende bietet der Bürgergesellschaft Chancen zur Entfaltung, wie sie | |
seit den Ursprüngen der Moderne und den Gründerjahren der industriellen | |
Revolution nicht mehr bestanden. | |
12 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
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