# taz.de -- Aktionsform Massenblockade: Der neue Ungehorsam | |
> Heiligendamm, Dresden, Stuttgart – immer mehr Bürger wagen es, sich an | |
> Blockaden zu beteiligen. Auch die Anti-Akw-Bewegung wird profitieren. Wie | |
> kommt das? | |
Bild: Massenblockade bei Heiligendamm. Es gelang damals, alle Zufahrtswege zum … | |
Es ist der Sommer 2007, als Tausende beschließen, im mecklenburgischen | |
Heiligendamm die mächtigsten Regierungschefs der Welt zu umzingeln. | |
Busseweise reisen sie an: Gewerkschafter, Autonome, Muttis, Alte. "Block G | |
8" lautet ihr Motto. Blockaden gegen neoliberale Globalisierung. Die | |
Bilder: bunte Demonstranten-Schlangen, die durch Kornfelder ziehen. Vorbei | |
an Polizei und Straßensperren, direkt vor den Zaun, hinter dem sich die | |
Oberhäupter verschanzen. Es ist ein Sieg, mindestens ein symbolischer. | |
Und es ist der Startpunkt, an dem ein neuer ziviler Ungehorsam Einzug ins | |
Bürgerliche hält. Nur wenige Wochen nach Heiligendamm blockieren Jenaer | |
Einwohner mit ihrem SPD-Oberbürgermeister Albrecht Schröter ein | |
Neonazi-Festival in der Stadt. In den folgenden Jahren vermiesen | |
Massenblockaden in Köln, Dresden und Berlin rechte Aufmärsche. Studenten | |
stürmen symbolisch Banken. Imker rupfen bei Feldbefreiungen Genmais aus der | |
Erde. Und in Stuttgart versperren selbst Ärzte und Architekten die | |
Baustellenzugänge zum neuen Großbahnhof. | |
Diesen Esprit will sich jetzt auch die Anti-Atom-Bewegung zunutze machen. | |
Bei der Großdemonstration in der kommenden Woche in Berlin soll eine | |
fünfminütige Sitzblockade symbolisch auf den neuen Ungehorsam verweisen. | |
Wenn dann im November der nächste Castor von der französischen | |
Wiederaufbereitungsanlage La Hague ins niedersächsische Zwischenlager | |
Gorleben rollt, wird es ernst. Die "größte Anti-Atom-Manifestation in der | |
Geschichte des Wendlands" kündigt die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg | |
an. Große Sitzblockaden soll es geben. Außerdem wollen die Veranstalter | |
eine neue Grenze testen: Ist der Bürger auch bereit, massenhaft Steine aus | |
Gleisabschnitten zu entfernen? Die Kampagne Castor Schottern ruft dazu auf. | |
Hunderte oder tausende Menschen sollen so den Atommüll-Transport stoppen. | |
"Es gibt einen Trend zur Blockade", konstatiert Protestforscher Dieter | |
Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin. "Viele bürgerlich Orientierte trauen | |
sich heute Dinge, die sie vor zehn Jahren noch nicht gewagt hätten." | |
Schleichend habe sich ein Wandel vollzogen hin zur Aufmüpfigkeit. Der | |
Deutsche führe nicht mehr nur aus, was der Berufspolitiker beschließt, sagt | |
Rucht. "Er hinterfragt mehr, geht öfter auf die Straße." Zivilen | |
Ungehorsam, auch mit bürgerlicher Beteiligung, hat es in Deutschland schon | |
früher gegeben: Mutlangen, Brokdorf, Startbahn West. Der neue Widerstand | |
der Mitte aber ist anders. Weil er sich nicht aus seiner Radikalität | |
speist, sondern aus der Kraft der Masse. Weil er nicht mehr gegen das | |
Gesetz arbeitet, sondern mit dem Gesetz. Ziviler Ungehorsam, so heißt es in | |
einem Strategiepapier des Jenaer Aktionsnetzwerks, habe "den Charakter | |
einer nachdrücklichen Aufforderung" zur Beseitigung schwerwiegender | |
politischer Mängel. Er sei damit "eine Form des aktiven | |
Verfassungsschutzes". Der Bürger ermächtigt sich zum Korrektiv der | |
regierenden Politik. Vielleicht nicht legal, aber legitim, heißt seine | |
Divise. Noch nicht legal. | |
Es sei im Grunde der Aktionskonsens von Heiligendamm, der bis heute | |
Gültigkeit besitze, sagt Henning Obens. Der 31-Jährige war 2007 "Block G | |
8"-Aktivist, engagiert sich heute bei "Avanti", dem undogmatischen | |
Autonomen-Flügel. Der aktuelle Widerstand ziele nicht mehr auf Schlachten | |
ab, sondern auf Verlässlichkeit und ein berechenbares Aktionsniveau, so | |
Obens. Oberster Konsens: keine Eskalation, keine Gewalt - auch das | |
unterscheidet Jena von Brokdorf. Keine Aufspaltung in "gute" und "böse" | |
Demonstranten. Der massenhafte Gesetzesübertritt wird im Vorfeld öffentlich | |
angekündigt und geprobt. Bisher hält der Konsens: Auch Autonome setzen sich | |
mit in die Massenblockaden - friedlich. Es gebe ein "neues Vertrauen" | |
zwischen Bürgerlichen und Radikalen, bemerkt Obens. "Viele Bürgerliche | |
haben gemerkt, dass traditionelle Proteste verpuffen. Mit den Blockaden | |
gibt es Exempel, dass Widerstand effektiv etwas ändert." | |
Dem neuen Protest genügt es nicht mehr, nur zu mahnen - er will die | |
Missstände gleich selbst beseitigen. Dafür geht er weit: Blockaden können | |
vor Gericht als Nötigung geahndet werden. Trotzdem, bemerkt Protestforscher | |
Rucht, habe die "scharfe Kriminalisierung" des zivilen Ungehorsams | |
abgenommen. "Damit verbreitet sich das Gefühl, dass man nicht mehr so viel | |
riskiert." Auch weil sich längst Prominente an die Spitze der Blockaden | |
setzen: Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse in Berlin, Schauspieler | |
Walter Sittler in Stuttgart, Liedermacher Konstantin Wecker in Dresden. | |
Aber setzt der massenhafte zivile Ungehorsam - per definitionem das letzte | |
Mittel, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sind - nicht auf Inflation | |
und damit auf den Verlust seiner Warnfunktion? Steht da nunmehr Symbolik | |
vor strukturellem Wandel? Avanti-Aktivist Henning Obens verneint. Man | |
artikuliere ja weiterhin klare Forderungen. "Und Bewegungen können von | |
ihren Erfolgen nur profitieren. Der kollektive Ungehorsam hat unsere | |
Handlungsspielräume deutlich erweitert." | |
Dass die bürgerliche Bereitschaft zum gewaltfreien Aufstand auch zum | |
massenhaften Anti-Atom-Schottern reicht, daran hat zumindest | |
Bewegungsforscher Dieter Rucht seine Zweifel. "Es hat eine andere Qualität, | |
sich auf eine Straße zu setzen oder aktiv Steine aus einem Gleisbett zu | |
entfernen." Anti-Atom-Aktivist Jochen Stay verweist dagegen auf die lange | |
Tradition zivilen Ungehorsams im Wendland: Treckerblockaden, | |
Gleisbesetzungen, angekündigte Schienendemontagen. "Die Anti-Atom-Bewegung | |
war noch nie so stark wie heute", bemerkt Stay. Inzwischen sei die | |
Protesterfahrung groß. Damit steige auch der Anteil derer, die bereit | |
seien, den Schritt zum Widerstand zu gehen. | |
Die Zahlen geben Stay Recht. 120.000 Protestierer kamen im April zu einer | |
Menschenkette gegen die schwarz-gelben Atompläne. Zehntausende wollen am | |
kommenden Samstag mit einer Großdemonstration in Berlin das | |
Regierungsviertel umzingeln. Dass Schwarz-Gelb letzte Woche | |
Laufzeitverlängerungen um acht bis vierzehn Jahre verkündet, wird der | |
Mobilisierung Auftrieb geben. Viele, die in den siebziger und achtziger | |
Jahren zuletzt gegen Atompolitik auf die Straße gingen, seien jetzt wieder | |
dabei, sagt Jochen Stay. Und Junge dazu. | |
Auch der G-8-Blockierer Henning Obens fährt diesmal wieder ins Wendland, | |
erstmals seit 1997. "Es geht wieder um was, die Klimafrage ist einer der | |
zentralen gesellschaftlichen Konflikte." Und ja, er könne sich auch | |
vorstellen, "mitzuschottern". Es spricht viel dafür, dass er dabei nicht | |
allein bleiben wird. Dass die Masse auch im Wendland von ihrem neu | |
entdeckten Ungehorsam Gebrauch machen wird. | |
10 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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