# taz.de -- Aufklärung des RAF-Terrorismus: Zeitreise nach Stammheim | |
> Die Rote Armee Fraktion (RAF) ist längst Teil der politischen Folklore. | |
> Doch ihre Geschichte ist häufig noch ungeklärt. Auch dagegen soll der | |
> Verena Becker-Prozess helfen. | |
Bild: Auf Spurensuche: Ermittler nach dem Attentat im April 1977. | |
Schon wieder RAF? Noch immer? Ist nicht alles gefilmt, geschrieben, gesagt? | |
Gab es nicht genügend Prozesse und Urteile? Reicht es nicht langsam? | |
Die RAF hat sich vor zwölf Jahren aufgelöst. Seitdem hat sie ein vitales | |
mediales Nachleben, das widerspiegelt, was sie war. Grau melierte | |
Ex-RAF-Kämpfer treten in Talkshows auf und erinnern daran, dass es zwischen | |
RAF und Medien von Anbeginn eine stille Allianz gab. Die RAF war nichts | |
ohne Medien, und für manche Medien war die Melange von Politik, Gewalt und | |
Geheimnis jahrzehntelang eine Art Elixier. RAF sells. | |
Seit der Auflösung der Gruppe 1998 schien alle zwei, drei Jahre ein | |
öffentlicher Hysterieanfall nötig zu sein, mit dem das RAF-Gespenst noch | |
einmal ausgetrieben werden konnte. 2004 wurde eine Kunstausstellung in | |
Berlin zu einer Art Staatsaffäre. Konservative Politiker forderten wie in | |
den 70er Jahren Distanzierung von der Gewalt, als würde hier mit | |
Sprengstoff und nicht mit Bildern hantiert. Die Freilassung von Christian | |
Klar 2007 nach 26 Jahren Haft wurde in einigen Boulevardblättern | |
inszeniert, als hätte der Leibhaftige persönlich in Berlin-Mitte Quartier | |
bezogen. | |
Seitdem ist es an der RAF-Front einigermaßen ruhig. Der von Bernd Eichinger | |
produzierte Film "Baader Meinhof Komplex" wurde 2008 als nationales | |
Großereignis vermarktet. Der kommerzielle Erfolg des auf Authentizität und | |
Action getrimmten Films zeigte den neuen Ort der RAF in der Popkultur an. | |
"Wir erleben", hatte Klaus Theweleit 2004 analysiert, "die Überführung der | |
RAF aus einem historischen in einen mythologischen oder folkloristischen | |
Raum. Die RAF hat eine Funktion wie Billy The Kid, Calamity Jane oder | |
Schinderhannes, losgelöst von der konkreten Geschichte - und das wird wohl | |
auch so bleiben. RAF ist zum Zeichen geworden für Anti-Staat, sein Leben | |
aufs Spiel setzen, Gewalt und sexuelle Libertinage." | |
Der "Baader Meinhof Komplex" hat unfreiwillig gezeigt, dass die RAF als Pop | |
funktioniert, aber nicht mehr als Lackmustest für politische Identitäten. | |
Die große Debatte fiel aus, es fehlten auch brauchbare Feindbilder. Die | |
Konservativen hatten stets mit viel Hingabe die "Sympathisanten" unter | |
Generalverdacht gestellt. Und die undogmatische Linke hatte anfangs, | |
gleichermaßen fasziniert und angewidert, auf die RAF geschaut. Denn die RAF | |
diente in den frühen 70er Jahren als Projektionsfläche für die | |
Gewaltfantasien vieler Linksradikaler. Aber auch diese Verbandlung der | |
Post-68er mit dem Terrorismus ist längst Geschichte. Jenseits von | |
hermetisch abgedichteten Kleinstgruppen gibt es in der Linken niemanden, | |
der der RAF im Rückblick irgendeine moralische oder politische Legitimation | |
zubilligen würde. | |
So gibt es im öffentlichen Bild der RAF eine doppelte Bewegung. Sie ist zu | |
einem Label in der Popkultur geworden, das je nach Konjunktur immer mal | |
wieder Mode ist, manchmal sogar als schriller Radical Chic wie in der | |
Prada-Meinhof-Fotostrecke. Andererseits ist die RAF, wie auch die Roten | |
Brigaden, zum Studienobjekt der Zeitgeschichte geworden. Es werden | |
Biografien über Täter und Gesamtdarstellungen verfasst, manche mit Empathie | |
geschrieben, andere rüde abrechnend. | |
Die Autoren sind oft Zeitgenossen oder Ex-Linksalternative (wie Gerd Koenen | |
und Jan Philipp Reemtsma), die auch immer ihre eigene Geschichte mit- und | |
umschreiben. Daneben wächst die Zahl von Studien, die den Linksterrorismus | |
streng wissenschaftlich unter die Lupe nehmen und dessen | |
Geschlechterbeziehungen oder internationale Verflechtungen untersuchen, so | |
wie man eben auch die Rentenreformen in der Bundesrepublik erforscht. | |
Die RAF wird historisiert. Sie verschwindet, trotz Fieberschüben wie bei | |
der RAF-Ausstellung, langsam als affektiv aufgeladenes Streitobjekt, bei | |
dem sich diskursive Gewinne machen lassen. Die RAF spaltet sich auf: in ein | |
flüchtiges Popzeichen und einen Forschungsgegenstand, über den | |
Habilitationen geschrieben und Professuren angepeilt werden. | |
Daneben klafft in der RAF-Geschichtsschreibung allerdings ein schwarzes | |
Loch. Die bundesdeutsche Justiz ist in Sachen RAF gescheitert. Die meisten | |
Taten aus den 80er und 90er Jahren sind bis heute nicht aufgeklärt. Viele | |
Verurteilungen von RAF-Mitgliedern fußten auf dem eigens für die RAF | |
geschaffenen Paragrafen 129 a, der die Mitgliedschaft in einer | |
terroristischen Vereinigung zur Schwerstkriminalität stempelte. | |
Wegen der RAF wurden seit den 70er Jahren eilig neue Gesetze erlassen, | |
Verteidigerrechte eingeschränkt, dubiose V-Männer in die Gruppe | |
eingeschleust, Bürgerrechte verletzt. RAF-Mitglieder wie Brigitte Mohnhaupt | |
und Christian Klar wurden ohne Gnade ein Vierteljahrhundert in den Knast | |
gesteckt. Doch die Härte, mit der Staat und Justiz gegen die RAF vorgingen, | |
hat nicht viel genutzt. Die RAF gab 1998 nicht auf, weil ihre Kombattanten | |
im Knast saßen oder sie vom BKA besiegt worden war, sondern weil auch die | |
verbohrtesten Ideologen nach dem Untergang des Realsozialismus begreifen | |
mussten, dass es vorbei war. | |
Wer Ernst Zimmermann, Karl Heinz Beckurts, Gerold von Braunmühl, Detlev | |
Karsten Rohwedder oder Alfred Herrhausen getötet hat, ist bis heute unklar. | |
Das liegt auch am ungebrochenen Korpsgeist vieler Ex-RAFler. In einem | |
anonymen Brief vom Mai 2010, den die junge Welt veröffentlicht hat, | |
beschreiben anonyme Ex-RAF-Kämpfer, was sie noch zusammenhält: gemeinsames | |
Schweigen. "Keine Aussagen zu machen, ist keine Erfindung der RAF", heißt | |
es dort. Wie im "Widerstand gegen den Faschismus" sei es lebenswichtig | |
gewesen, "in der Gefangenschaft nichts zu sagen, um die, die weiterkämpfen, | |
zu schützen". Das war, so die Darstellung, "selbstverständlich" und eine | |
Frage der Identität. | |
Die Rhetorik des Textes ist zugänglicher als die erratischen | |
Kommandoerklärungen früherer Jahre, doch der Geist ist der gleiche. Hier | |
Staat und Kapital, dort das gusseiserne antifaschistische RAF-Wir, dem man | |
nur als Verräter oder Toter entkommt. Die ideologischen Rechtfertigungen | |
des Terrors sind längst in Trümmer gefallen, doch etwas bleibt: das | |
Kollektiv, das schweigt und jede individuelle Auseinandersetzung mit Schuld | |
zum Verrat erklärt. "Das ändert sich nicht dadurch", heißt es trotzig am | |
Schluss der Erklärung, "dass die RAF Geschichte ist." | |
Die fortwährende RAF-Omertà und der hochgerüstete Justizapparat waren wie | |
zwei Zahnräder, die ineinandergreifen. Die RAF-Kämpfer schwiegen und | |
schweigen eisern, um die Auseinandersetzung mit individueller Schuld zu | |
vermeiden. Diese Verdrängung hat einen scheinbar plausiblen Grund: Wenn die | |
RAF die Wahrheit offenlegen würde, könnten auch bislang Unbekannte vor | |
Gericht und im Knast landen. So werden die Täter, vermutet der Historiker | |
Wolfgang Kraushaar, ihr Wissen wahrscheinlich mit ins Grab nehmen. | |
Daran wird wohl auch der neuerliche Prozess gegen Verena Becker nichts | |
ändern. Gespenstisch wirkt nicht nur, dass dieser Prozess wie in einer | |
Zeitreise in Stuttgart-Stammheim stattfindet. Merkwürdig vertraut ist auch, | |
dass Spiegel und Spiegel TV passend zur Prozesseröffnung "Geheimdokumente" | |
und sensationsheischend Aussagen von Ex-RAF-Mitgliedern wie Peter-Jürgen | |
Boock, (den Ex-BKA-Chef Herold mal den "Karl May der RAF" nannte) | |
hervorzaubern. Die Angeklagte Verena Becker wird schweigen. Viel spricht | |
dafür, dass nebulös bleibt, ob der Verfassungsschutz seine Informantin | |
Becker damals vor einer Mordanklage bewahrte. | |
Die Alternative hat Carolin Emcke, Journalistin und ein Patenkind des | |
RAF-Opfers Alfred Herrhausen, vor zwei Jahren beschrieben: ein Forum der | |
Aufklärung, in dem ein Tausch stattfinden kann. Die Justiz verzichtet auf | |
Strafverfolgung, die Ex-RAF-Kämpfer brechen dafür ihr Schweigen. | |
Es gibt beachtenswerte Einwände gegen diese Idee. Ein Rechtsstaat braucht | |
sehr gute Gründe, um auf Strafverfolgung zu verzichten. Die Gefahr, dass | |
die RAF zu etwas Besonderem geadelt und ihre Hybris retrospektiv bekräftigt | |
wird, liegt auf der Hand. Auch ob die RAF-Kämpfer souverän genug wären, auf | |
ihren letzten Halt, ihr kollektives Schweigen, zu verzichten, bleibt offen. | |
Doch ziemlich sicher ist, was ohne ein solches Forum passiert. Die Morde | |
bleiben unaufgeklärt. | |
Eine abschließende Bewältigung der RAF-Geschichte aber wird es nicht ohne | |
die konkrete Wahrheit geben, wer geschossen, wer die Morde geplant hat. | |
"Betrauern, endgültig betrauern", so Emcke in ihrem Essay "Stumme Gewalt", | |
"lässt sich nur, was wir wissen." | |
Michael Buback, Corinna Ponto und Jörg Schleyer, Kinder von RAF-Opfern, | |
fordern, dass die Bundesregierung alle Akten für die Forschung öffnen soll | |
und Beamte uneingeschränkt aussagen dürfen. Das ist einleuchtend. | |
Staatsräson ist nach 30 Jahren kein ausreichender Grund für | |
Geheimniskrämerei. | |
Zu wissen, wer was warum tat, auch warum die RAF sich schließlich auflöste, | |
wäre auch ein Mittel, um das mediale Gespenst RAF zu erlösen. Nichts | |
imprägniert besser gegen Legendenbildung und die Verwandlung der RAF in | |
Pop. | |
28 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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