| # taz.de -- Debatte um Integrationspolitik: Die neuen Scharfmacher | |
| > Zwischen dem Mord an Theo van Gogh und der Wirtschaftskrise hat sich der | |
| > integrationspolitische Frühling verflüchtigt. Die heutige Diskussion | |
| > erinnert an viel ältere Debatten. | |
| Bild: Hysterischen Bezichtigungen ausgesetzt: Muslime in Deutschland. | |
| Weit über die Hälfte der Deutschen möchten die Religionsfreiheit der | |
| Muslime erheblich einschränken, im Osten gar über 75 Prozent. Und 37 | |
| Prozent der Bürger hielten es laut einer Umfrage von Infratest-dimap für | |
| die ARD für besser, wenn es in der Bundesrepublik keinen Islam geben würde. | |
| Die neuen repräsentativen Umfragen belegen einen Rechtsruck. Seit 2004 | |
| nimmt die Islamfeindlichkeit zu. Inzwischen droht gar der Verlust der | |
| humanen Orientierung. | |
| Parallelen zum Berliner Antisemitismusstreit des 19. Jahrhunderts drängen | |
| sich auf. Nach dem Gründerkrach 1873 befand sich das Deutsche Reich in | |
| einer großen wirtschaftlichen Depression. Zugleich rang das gerade erst | |
| geeinte Deutschland um so etwas wie eine gemeinsam Identität von Preußen | |
| und Bayern, von Katholiken und Protestanten. Vor dieser Folie entzündete | |
| sich der Antisemitismusstreit. Er wurde von dem Publizisten Heinrich von | |
| Treitschke 1879 mit einem Aufsatz eröffnet, der mit den Worten endete: "Die | |
| Juden sind unser Unglück!" | |
| Der Historiker Golo Mann hat 1961 in seinem Buch "Über Antisemitismus" | |
| treffend beschrieben, worum es beim Antisemitismusstreit ging: "Zugleich | |
| mit der Judenemanzipation, der neuen bürgerlichen Angleichung im 19. | |
| Jahrhundert, erscheint der neue Antisemitismus. Aber er ist zunächst nicht | |
| das, was wir uns darunter vorstellen; er verlangt nicht Ausschließung, | |
| sondern völlige Angleichung und Bescheidenheit in der Angleichung; er | |
| verlangt Ausschließung nur derer, die sich nicht angleichen wollen." | |
| Vollständige Assimilation einer religiösen Minderheit, das war die | |
| Forderung im Jahre 1879. 130 Jahre später geht es im Islamstreit um | |
| Ähnliches. Die Mehrheit der Bürger wünscht eine vollständige Assimilation | |
| der Muslime und ein Verschwinden des Islam aus öffentlichen Räumen. "Wer | |
| sich nicht bescheidet und anpasst, der soll gehen" - diese verbreitete | |
| Haltung ignoriert, dass spätestens mit der Reform des | |
| Staatsangehörigkeitsrechtes im Jahr 2000 die Würfel gefallen sind. | |
| Millionen Muslime sind Deutsche, der Islam ist organischer Bestandteil der | |
| Republik. Dies zu leugnen, ist töricht. Dies ändern geht nur mit Gewalt. | |
| Alle Vermutungen über die Zivilisierung der Bundesrepublik, über das neue, | |
| das fröhlich unbeschwert-patriotische Lebensgefühl des neuen Deutschland | |
| sind Makulatur. Im Oktober 2010 riecht es nach den achtziger und neunziger | |
| Jahren, als in Deutschland Wohnhäuser von Türken und von Flüchtlingen | |
| brannten. | |
| Zur Erinnerung: In den frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts | |
| verunsicherten Massenarbeitslosigkeit und Automatisierung der Produktion | |
| die Menschen im Westen der Republik. Ähnlich wie heute suchte konservative | |
| Politik angesichts der sozialpolitischen und sozioökonomischen | |
| Herausforderungen ihr Heil im rassistischen Diskurs. Arbeitslosigkeit und | |
| Verarmung hatten schnell einen Namen: "die Türken". | |
| Im Wendewahlkampf 1982/83, aus dem Helmut Kohl siegreich hervorging, | |
| versprach die CDU, die Arbeitslosigkeit und die Zahl der in Deutschland | |
| lebenden Türken um die Hälfte zu reduzieren. Und Innenminister Friedrich | |
| Zimmermann (CSU) verkündete im Mai 1983: Ein konfliktfreies Zusammenleben | |
| wird nur möglich sein, wenn die Zahl der Ausländer bei uns begrenzt und | |
| langfristig vermindert wird, was vor allem die großen Volksgruppen, die | |
| Türken, betrifft." | |
| In Folge des allgegenwärtigen Türkenbashing in Politik und Publizistik | |
| kommt es in den achtziger Jahren zu einer Welle antitürkischer Gewalt in | |
| Westdeutschland. Türken werden von neonazistischen Straßenbanden erschlagen | |
| - in Hamburg, Berlin und anderswo. Und im bayerischen Schwandorf verbrennt | |
| 1988 ein Neonazi erstmals Türken im Schlaf. | |
| Seit den frühen achtziger Jahren wurden in Deutschland über 170 Menschen | |
| Opfer rechtsextremer Gewalt. Viele davon gehen auf das Konto | |
| rechtspopulistischer Politik. Denn immer dann, wenn die politische und | |
| journalistische Klasse rassistische Diskurse legitimiert und entfacht, | |
| fühlt sich der Pöbel zur Gewalt ermutigt. 1984, ein Jahr nach Zimmermanns | |
| Hassrede, textete die Bremer Skinheadband "Endstufe": "Wenn ihr euch nicht | |
| anpasst, dann werdet ihr erleben / dann wird es in Deutschland immer | |
| Naziterror geben / das Deutsche Volk war abgeschlafft / doch im deutschen | |
| Skinhead, da steckt die Kraft - Oi! / die deutsche Kultur muss höher liegen | |
| / und abends könnt ihr mal eure Gräber pflegen." | |
| Die Rolle der Scharfmacher haben heute Internetplattformen wie "Politically | |
| incorrect" übernommen. Blogger kübeln ihre rassistische, vor allem | |
| antimuslimische Jauche in die Köpfe von Zigtausenden, die die Seite täglich | |
| besuchen. | |
| Seit dem Jahr 2004 hat sich die Haltung gegenüber dem Islam und den | |
| Muslimen dramatisch verschlechtert. Dabei lief integrationspolitisch zu | |
| Beginn des Jahrzehnts eigentlich alles rund. Die "Muslime 2000", das waren | |
| Steuerberater, Arbeiter, Unternehmer, Arbeitslose, Spekulanten, Kriminelle, | |
| Sozialhilfeempfänger, Politiker, Künstler, Prostituierte, Eltern, | |
| Alleinerziehende, Schwule, Lesben, Schönheitsköniginnen, Gottlose, | |
| Gläubige, Fanatiker, Handwerker, Putzfrauen, Pragmatiker, Mörder und | |
| Polizisten, Schriftsteller und Analphabeten. Nicht mehr und auch nicht | |
| weniger. | |
| So hätte sich die Sache weiterentwickeln können, wären da nicht der 11. | |
| September und vor allem der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo | |
| van Gogh geschehen. Dieser Mord im November 2004 löste eine moralische | |
| Panik aus und beendete den integrationspolitischen Frühling der frühen | |
| nuller Jahre. Seit 2005 bestimmen neue Schlagworte die mediale Agenda: | |
| Islam, Islamismus, Parallelgesellschaft, Frauenunterdrückung, das Ende von | |
| Multikulti. Dabei wurde die Integrationsdebatte entsäkularisiert und | |
| hemmungslos islamisiert. | |
| Die hysterischen Bezichtigungen, für die Namen wie Henryk M. Broder, Necla | |
| Kelek, Udo Ulfkotte und Thilo Sarrazin stehen, sind keine Diskurse der | |
| Befreiung und Emanzipation. Es sind Rüpeleien, Erzählungen des Verdachts | |
| und der Denunziation. Ihre Thesen stoßen in der Bevölkerung nicht wegen der | |
| Qualität der Texte und der Analyse auf Begeisterung, sondern weil sie ein | |
| tiefer sitzendes Bedürfnis vieler Deutscher befriedigen. Der Islamstreit | |
| erlaubt, all die rassistischen Emotionen ungehindert auszuleben, denen beim | |
| Antisemitismus und Rechtsextremismus inzwischen recht enge Grenzen gesetzt | |
| werden. | |
| Soziales und ökonomisches Krisenmanagement auf Kosten von Minderheiten ist | |
| ein altes und bis heute bewährtes Mittel des Erwerbs und des Erhalts | |
| politischer Macht. Diesmal, so legen es die Umfragen und die Entwicklungen | |
| bei den jüngsten Wahlen in den westeuropäischen Nachbarländern nahe, | |
| übernehmen die Muslime die Rolle des Sündenbocks. Wenn die Annahme stimmt, | |
| dass dem offenen Ausbruch eines Konflikts eine Zeit der Entfremdung | |
| vorausgeht, in der das Misstrauen wächst, dann stehen den Muslimen | |
| turbulente und gefährliche Zeiten bevor. | |
| 14 Oct 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Eberhard Seidel | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt AfD | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| AfD-Veranstaltung gestört: Udo Ulfkotte rächt sich an Teenager | |
| Der Islamkritiker soll einen 15-Jährigen und gegen eine Wand gedrückt | |
| haben. Der Jugendliche erstattet Strafanzeige wegen Körperverletzung. | |
| Asylpolitik in Bayern: Kampf gegen Essenspakete | |
| Sie wollen selber entscheiden, was sie essen: Asylbewerber kämpfen in | |
| Bayern gegen Essenspakete und Sammelunterkünftige. Der Freistaat beharrt | |
| auf den Sachleistungen. | |
| Berichterstattung über Integration: RTL und "Bild" erklären "Schnitzelkrieg" | |
| Wie "Bild" und RTL einmal gemeinsam eine Lappalie zum Skandal hochkochten - | |
| weils doch gerade so gut zur allgemeinen Stimmung gegen Muslime passt. Ein | |
| Lehrstück. | |
| Merkel und die Integrationsdebatte: Das Multikulti-Eiapopeia | |
| Kanzlerin Angela Merkel bedient auf zwei Veranstaltungen die aufgebrachte | |
| Stimmung an der CDU-Basis. Unter starkem Beifall erklärt sie das Ende von | |
| "Multikulti". | |
| Förderung von Zuwanderern: Integrationsfaule Kultusminister | |
| Die Länder kommen ihrer Selbstverpflichtung, Kinder aus Zuwandererfamilien | |
| besser zu fördern, kaum nach, bilanzieren Migrantenvertreter. | |
| Debatte um Integration: Deutschstunde auf dem Schulhof | |
| Koalitionspolitiker fordern eine Deutschpflicht auf Pausenhöfen. Das gehe | |
| an wahren Integrationsproblemen vorbei, finden die Grünen, auch aus den | |
| Reihen der CDU kommt Kritik. | |
| Studie über Fremdenfeindlichkeit: Deutschland, stillgestanden! | |
| Ausländerfeindlichkeit ist tief verankert in der Gesellschaft. Eine neue | |
| Studie zeigt, dass sich 58,4 Prozent der Deutschen die Religionsausübung | |
| für Muslime einschränken möchte. | |
| Kolumne Das Tuch: Mesut Özil ist deutsch, ich bin es nicht | |
| Egal, was ich tue - die Biodeutschen haben mir klar gemacht: Ich werde nie | |
| in dieses Land gehören. | |
| Integrations-Debatte: Seehofer macht den Sarrazin | |
| Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hält Zuwanderer aus der | |
| Türkei und arabischen Ländern für Integrationsverweigerer. Das ist selbst | |
| in der Union umstritten. | |
| Kommentar Wulffs Islamäußerungen: Wer ist das Volk? | |
| Im Kern geht es in der Integrationsdebatte um die Frage, ob man Muslimen | |
| und ihrer Religion in diesem Land auf Augenhöhe begegnet. |