# taz.de -- Merkel und die Integrationsdebatte: Das Multikulti-Eiapopeia | |
> Kanzlerin Angela Merkel bedient auf zwei Veranstaltungen die aufgebrachte | |
> Stimmung an der CDU-Basis. Unter starkem Beifall erklärt sie das Ende von | |
> "Multikulti". | |
Bild: "Wir brauchen keinen Zuzug von außen", erklärte Angela Merkel. | |
Rund 400 Christdemokraten sind am Freitagabend gekommen, um bei der | |
CDU-Regionalkonferenz in Berlin Angela Merkel zu erleben. Der Ort, das | |
Palais am Funkturm, ist ein kühl-moderner Bau aus den 50er Jahren. Auch die | |
Atmosphäre bei dieser Generalaussprache zwischen Basis und Führung ist eher | |
kühl. Die CDU steuert im März auf eine Niederlage in Baden-Württemberg zu, | |
wo sie seit 57 Jahren regiert. Die Wirtschaft boomt, aber die CDU hat | |
nichts davon. Das macht nervös. | |
Der Berliner CDU-Chef Frank Henkel sagt zu Beginn: "Integration trifft den | |
Nerv der Bevölkerung." Vor allem trifft diese Debatte den Nerv der Partei. | |
Angela Merkel spult ihr Standardprogramm ab: Sie lobt die Erfolge der | |
Wirtschaftspolitik, erinnert an die Heldenrolle der Union bei der | |
Wiedervereinigung und verteidigt Stuttgart 21. Doch der Applaus schwillt | |
nur bei bestimmten Signalworten an. In Berlin schimpft sie auf das | |
"Multikulti-Eiapopeia". Am Samstag beim Deutschland-Tag der Jungen Union in | |
Potsdam klingt das noch etwas schärfer: "Multikulti ist absolut | |
gescheitert." | |
In Berlin ruft Merkel der Basis zu, man brauche angesichts von 2,2 | |
Millionen arbeitsfähigen Hartz IV-Empfängern "keinen Zuzug von außen". Dann | |
beschwört sie das christliche Menschenbild und ruft in den Saal: "Wer das | |
nicht akzeptiert, ist bei uns fehl am Platze." Applaus braust auf, obwohl | |
der Sinn dieser Verknüpfung dunkel bleibt. | |
Migranten sollen, bei Strafe der Ausweisung, das christliche Menschenbild | |
akzeptieren? Die Formulierung zeigt, wie unsicher die CDU beim Thema | |
Migration ist. Will sie die populistische Karte spielen? Andeuten, dass sie | |
es könnte? Oder ist es folgenloses Dampfablassen? Merkels Reden spiegeln | |
den Zwiespalt. Bei der Jungen Union schmäht sie Multikulti, um dann | |
Christian Wulffs Formel, dass "der Islam auch Teil Deutschlands ist", zu | |
wiederholen. Dafür bekommt sie bei den Jungkonservativen kaum Beifall. | |
Die Migrationsdebatte in der Union hat bislang die für Identitätsdiskurse | |
typische Unschärfe. Es geht um Stimmungen, Symbole, nicht um konkrete | |
Entscheidungen. | |
Das ändert sich jetzt, vielleicht. CSU-Chef Horst Seehofer fordert in einem | |
"Sieben-Punkte-Plan" mehr Härte gegen "Integrationsverweigerer" und, trotz | |
Fachkräftmangels, keinen erleichterten Zuzug für Hochqualifizierte. Die | |
Merkel-Vertrauten, Arbeitsministerin Ursula von der Leyen und | |
Bildungsministerin Annette Schavan (beide CDU), wollen, unterstützt von FDP | |
und deutscher Industrie, genau dies. Die Bundeskanzlerin scheint allerdings | |
- noch? - auf Seehofers Seite zu stehen. | |
Nach Merkels Rede am Freitagabend kommt die CDU-Basis zu Wort. Ein streng | |
gescheitelter Mann mit zackiger Aussprache meint, dass "Sarrazin im Kern | |
Recht" habe und Schluss damit sein müsse, dass "die Mittelschicht für | |
Integrationsverweigerer" zahlt. Es gibt einzelne Bravo-Rufe. | |
Ein anderer hält eine Philippika gegen die neuen Flugrouten in | |
Berlin-Schönefeld und erwartet, dass sich die Kanzlerin darum schleunigst | |
kümmert. Eine ältere Dame meint, die CDU müsse endlich was gegen die | |
Loveparade unternehmen, bei der "die Leute halb nackig über die Straße | |
laufen". Das Bild, das die Berliner CDU bietet, ist konfus. Angela Merkel | |
hört mal gelangweilt, mal amüsiert zu. | |
17 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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