# taz.de -- taz-Serie Berlin 2020 (Teil 8): Migration: Die Möglichkeiten liege… | |
> Seit Jahren stecken wir in einem integrationspolitischen Teufelskreis aus | |
> Stigmatisierung und Reglementierung. Dabei könnten wir in Zeiten der | |
> Globalisierung viel von Migranten lernen. Wenn wir wollten. | |
Bild: Gehört dazu wie die Eckkneipe und das deutsche Speisenrestaurant: Döner… | |
Migrationspolitische Zukunftsprognosen bieten wenig Anlass zu Optimismus - | |
wie ein Blick in die vielen Integrationskonzepte verrät, die mittlerweile | |
auf dem Markt zu finden sind. Der mit der Anwerbung von ausländischen | |
Gastarbeitern in Gang gesetzte Prozess sei eine "unumkehrbare Entwicklung", | |
stellt da beispielsweise einer fest, der es wissen muss. Insbesondere den | |
"bleibewilligen Zuwanderern, namentlich der zweiten und dritten | |
Generation", müsse deshalb "das Angebot zur vorbehaltlosen und dauerhaften | |
Integration" gemacht werden. Die entsprechenden Forderungen des Autors | |
lauten: "Anerkennung der faktischen Einwanderung", "Intensivierung der | |
integrativen Maßnahmen" vor allem für Kinder und Jugendliche, "Ablösung | |
aller segregierenden Maßnahmen" insbesondere in Schulen, Optionsrecht in | |
Deutschland geborener Einwanderer auf Einbürgerung und Verstärkung der | |
politischen Rechte der Einwanderer durch Erteilung des kommunalen | |
Wahlrechts "nach längerem Aufenthalt". | |
Das klingt in den meisten Punkten aktuell - bis auf die Forderung nach dem | |
kommunalen Wahlrecht, die heute ziemlich in Vergessenheit geraten ist. Doch | |
schon das rührende Schreibmaschinenschriftbild des im Internet | |
nachzulesenden Integrationskonzepts verrät sein Alter: Es handelt sich um | |
das sogenannte Kühn-Memorandum, das der SPD-Politiker Heinz Kühn im | |
September 1979 veröffentlichte. Kühn, erster Ausländerbeauftragter der | |
deutschen Bundesregierung von November 1978 bis Herbst 1980, zuvor zwölf | |
Jahre lang Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, verstarb im März 1992 | |
als Achtzigjähriger. | |
Der von der aktuellen Bundesregierung 15 Jahre nach seinem Tod und fast | |
drei Jahrzehnte nach dem Kühn-Memorandum verfasste Nationale | |
Integrationsplan ist zwar dreimal so dick wie das alte, | |
maschinengeschriebene Konzept. Doch inhaltlich ist man nicht viel weiter: | |
Immer noch ist Bildung und die in ihren Institutionen stattfindende | |
Segregation ein integrationspolitisches Schlüsselthema. Und statt des | |
Mitbestimmungsangebots "kommunales Wahlrecht", das der Sozi Kühn | |
Einwanderern machen wollte, fordert der Integrationsplan der schwarz-roten | |
Bundesregierung 2007 von ihnen mehr "bürgerschaftliches Engagement" - ohne | |
Gegenleistung. | |
Ein Jahr vor Kühns Tod, im September 1991, war es in Hoyerswerda zu | |
rassistischen Ausschreitungen gegen Asylbewerber gekommen, bei denen 32 | |
Menschen verletzt wurden. Ein Jahr später, im Sommer 1992, kam es in | |
Rostock zu den schlimmsten rassistischen Überfällen, die Deutschland seit | |
der Nazizeit erlebt hat: Ein Asylbewerberheim wurde belagert und in Brand | |
gesetzt, tausende Schaulustige behinderten die Rettungs- und | |
Löschmaßnahmen. Allein über 200 Polizeibeamte wurden bei den mehrtägigen | |
Einsätzen verletzt. | |
Auf politischer Ebene spielte sich gleichzeitig eine Debatte über die | |
Änderung des deutschen Asylrechts ab, die die - vor allem durch den Zerfall | |
des Ostblocks und das im Bürgerkrieg auseinanderbrechende Jugoslawien - | |
stark angestiegenen Asylbewerberzahlen eindämmen sollte. Im Mai 1993 wurde | |
die Änderung angenommen. Zuvor hatten Neonazis in Mölln bei einem | |
Brandanschlag auf zwei von türkeistämmigen Familien bewohnte Häuser drei | |
Menschen getötet und neun schwer verletzt. Drei Tage nach der Änderung des | |
Asylgesetzes gab es in Solingen einen weiteren Brandanschlag Rechtsextremer | |
auf das Haus einer türkischen Familie. Dabei starben fünf Menschen. | |
Doch Schluss mit den düsteren Rückblicken in die Vergangenheit. Tempi | |
passati (Uh! Ist das etwa ausländisch?)! Heute sind wir weiter, in Berlin | |
ja sowieso immer noch ein bisschen weiter, fortschrittlicher als anderswo: | |
Seit Anfang des Jahres integrieren wir hier sogar per Gesetz, und auch die | |
Berliner CDU hat mittlerweile ein eigenes Integrationskonzept, in dem | |
Einwanderern die Rechte zugestanden werden, die sie laut Verfassung sowieso | |
haben. ("Ja! Aber in unserer Partei wussten das viele noch nicht!", sagte | |
dazu ein christdemokratischer Mitautor des CDU-Konzepts - da fragt man | |
sich, wer da eigentlich integriert werden muss.) | |
Immerhin ist das Interesse am Thema in Berlin besonders groß: Ein | |
ehemaliger Berliner Finanzpolitiker und selbst ernannter | |
Integrationsexperte verdient mit einem Buch zum Thema angeblich sogar | |
Millionen. Autor Thilo Sarrazin, nach wie vor Mitglied der | |
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), verkündet darin, | |
Deutschland schaffe sich durch dumme und bildungsresistente Zuwanderer | |
selbst ab. Ein CDU-Politiker lädt den niederländischen Rechtspopulisten | |
Geert Wilders nach Berlin ein und verlässt nach deren Protest dagegen seine | |
Partei - um prompt eine neue zu gründen: René Stadtkewitz tritt mit seiner | |
Partei "Die Freiheit" bei der nächsten Wahl rechts von der CDU an. Thilo | |
Sarrazin wollte bislang nicht Mitglied werden - kann er ja auch gar nicht, | |
er ist ja in der SPD. Mit seinem Buch habe Sarrazin eine "längst notwendige | |
Debatte angeregt", sagen seine Fans, gar "Tabus gebrochen". Fakt ist: In | |
Berlin gab es seither sechs Brandanschläge auf Moscheen. Verletzt wurde | |
dabei glücklicherweise bislang niemand. | |
Integrationspolitische Debatten und daraus folgende politische Handlungen | |
haben in der Vergangenheit vor allem zwei Zielen gedient: Erstens, | |
Horrorszenarien zu entwerfen, die Teile der Bevölkerung in Angst und | |
Schrecken versetzen, was es dann erlaubte, Zuwanderung und Zuwanderer | |
stärker als zuvor zu kontrollieren und zu reglementieren. Und zweitens, | |
durch solche Kontrollen die Zuwanderung in eine Richtung zu lenken, die sie | |
vor allem zu einem arbeitsmarktpolitischen Instrument macht, das | |
Wirtschaftsinteressen wie Niedriglöhnen und Einsparungen bei der Aus- und | |
Weiterbildung von Arbeitskräften dienlich ist. | |
Damit soll nicht gesagt sein, dass alle, die in der Integrationspolitik | |
mitmischen, ausschließlich böse kapitalistische Interessen verfolgen. Nicht | |
nur Bezirksbürgermeister und Integrationsbeauftragte, auch Arbeitgeber sind | |
an gesellschaftlichem Frieden und einem möglichst konfliktfreiem | |
Zusammenleben, das sie mit "Integration" erreichen wollen, ehrlich | |
interessiert. | |
Die Frage, die sich für die Zukunft stellt, ist jedoch, ob wir das | |
tatsächlich erreichen, indem wir Zuwanderer weiter stigmatisieren; indem | |
wir das, was sie an Fremdem mitbringen oder hier an ihre Nachkommen | |
weitergeben (ihre Sprachen, ihre Religionen, ihre Lebenserfahrungen), zum | |
Problem erklären, das durch "Integration" - sprich Anpassung - gelöst | |
werden muss. | |
Es ist heute nicht mehr opportun, von einer "multikulturellen Gesellschaft" | |
zu sprechen, in der sich Eingewanderte und Eingeborene etwas zu geben | |
haben, sich gegenseitig bereichern: Auch die Kanzlerin hat erklärt, dass | |
diese gescheitert sei. Stattdessen hören wir aber viel von den | |
Herausforderungen, vor die uns künftig die globalisierte Welt stellt und | |
auf die wir uns lebenslang lernend vorbereiten sollen. | |
Wie schön wäre es, begriffen wir in den nächsten zehn Jahren, dass wir die | |
Möglichkeit dazu ja direkt vor der Haustür haben: In Gestalt von | |
ArbeitsmigrantInnen, die aufgrund weltwirtschaftlicher Entwicklungen ihr | |
Heil in der Fremde suchen mussten. In Gestalt von Kriegsflüchtlingen, die | |
wegen internationaler Konflikte mit dem Verlust ihrer Heimat leben müssen. | |
Und ja, auch in Gestalt abwertend Wirtschaftsflüchtlinge genannter | |
Menschen, die, sei es durch Klimaveränderungen, sei es durch | |
wirtschaftspolitische Machtinteressen von Staaten in ihrer alten Heimat, | |
keine Überlebenschancen sehen. | |
Sie alle leben mitten unter uns und wir Eingeborenen könnten aus den | |
Erfahrungen dieser MigrantInnen mit ihrem Blick auf die globalisierte Welt | |
viel Wichtiges für unser aller Zukunft lernen. Voraussetzung dafür wäre, | |
dass wir aufhören, sie als Bürger zweiter Klasse, als schlechter, weil | |
anders anzusehen. Wäre das in den nächsten zehn Jahren zu schaffen, wäre | |
der integrationspolitische Teufelskreis aus Stigmatisierung und | |
Reglementierung zu durchbrechen, wäre für uns alle viel gewonnen. | |
6 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
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