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# taz.de -- TAZ-SERIE BERLIN 2020 (TEIL 5): BILDUNG: Wir müssen an unsere Gren…
> Die Erwartungen an Schulen wachsen: Sie sollen bilden, integrieren,
> erziehen und so fort. Zum Glück sind Schulen lernfähig, sagen zwei, die
> es wissen müssen.
Bild: Ab in die Schule - die in Zukunft gerne auch anders aussehen darf als heu…
Alles fließt, Schule auch. Derzeit fließt sie schnell. Das neue Schulgesetz
brachte - drängelnd und werbend - mehr Eigenverantwortung und Offenheit an
die Schulen. Eltern und Schüler halten nun eine knappe Mehrheit in den
Schulkonferenzen im einstigen Katheder-Land. Die Abschaffung der
Hauptschulen erzeugt neue Schülerströme, quer durch Stadt und Schularten.
Im Räderwerk Schule wirken neue Stellschrauben: leistungsorientierte
Aufnahmekriterien, bestimmende Notenschnitte bereits in der Grundschule,
das Los, eine steigende Nachfrage nach Privaten, stärkere Selektierung,
volle Stundentafeln bis in den Nachmittag, Tempo beim Abitur.
Die Ansprüche an Schule sind gewachsen: Sie ist - PISA, PISA über allem -
Schule und Statussymbol der Stadt, wenn nicht gar der Nation. Sie soll eine
wachsende Zahl von Schülerinnen und Schülern nicht deutscher
Herkunftssprache von Grundgesetz und Aufklärung überzeugen und trotz der
zunehmenden Kluft zwischen Einkommensklassen und Quartieren mehr
gemeinsames Lernen ermöglichen. Beim Unterricht harrt die Herkules-Aufgabe
der individuellen Förderung und Forderung einer Lösung.
Binnendifferenzierung - aber wie? Und das alles bei auseinanderfallenden
Lebenswirklichkeiten von Schülergruppen und Lehrerkollegien.
No future also? Nein, denn der Schüler Schule hat sich als lernfähig
erwiesen. Öffnung, Profilbildung, Good-practice-Orientierung, Auswahl und
Vernetzung werden eine Schullandschaft hervorbringen, in der die einzelnen
Schulen unterscheidbarer werden. Die Abstimmung über das, was von Schülern
wie Eltern als gute Schule verstanden und anerkannt wird, erfolgt künftig
mit den Füßen, das Grundschulzeugnis unterm Arm - wie sonst? Solange der
schnelle Kick durch glänzende Noten und bestmögliche "Verwertbarkeit" von
Abschlüssen den Blick aufs Wesentliche nicht trübt, ist gegen diese
marktähnlichere Orientierung wenig zu sagen.
Das Bekenntnis zur Konkurrenz hat seinen Preis: Erfolgreich wird die Schule
sein, die sich Rechenschaft ablegt, die Beschau und Bewertung als
Steuerungsmittel zulässt, die Hinweise und Wünsche annimmt, die flexibel,
schnell und originell reagiert. Das erreicht sie, wenn sie aus Betroffenen
Beteiligte macht. Subsidiarität is it - vor Ort lösen, was vor Ort gelöst
werden kann.
Privatschulen, in Berlin übrigens nicht gerade üppig gefördert, haben ihre
gute und noch zunehmende Berechtigung, wenn sie diese Erfolgskriterien
erfüllen. Sie sind derzeit mit knapp zehn Prozent Anteil an der
Schülerschaft keine Bedrohung. Die steigende Zahl der Gemeinschaftsschulen
belegt, dass das freie Elternwahlrecht nicht in der Abgrenzungs- und
Leistungsspirale enden muss. Schulen haben Zukunft, wenn es ihnen gelingt,
Lebenswirklichkeiten und Ansprüche auszuloten und im Dialog der
Schulöffentlichkeit human und nachfragegerecht zu beantworten.
Und auch das bringt die Zukunft: Größere Einheiten und Verbünde, um
attraktive Kursangebote halten zu können, die Diskussion um das Abitur nach
12 oder 13 Jahren, Sekundarschulen, die mit Förderangeboten und
entspannterer Stundentafel einigen Gymnasien den Rang ablaufen, Schulen
unter dem Druck sinkender Schülerzahlen, Schulen vor oder in der
Schließung. Schon wird die Ressourcendebatte schärfer. Wer weitere,
entscheidende Zuschläge für Migranten und/oder arme Kinder verlangt, muss -
nicht wohl, sondern übel - andernorts sparen. Denn das bettelarme Berlin
wird immer öfter kostenneutral zaubern müssen. Für den Moment verbessert
sich die Schüler-Lehrer-Relation noch, da die Zahl der Lehrer langsamer als
die der Schüler sinkt. Diese Demografie-Dividende gehalten zu haben, um
Chancengerechtigkeit gestalten zu können, ist auch ein Erfolg der
Bildungspolitik.
VON JENS STILLER
Als Schulleiterin einer Gemeinschaftsschule im sozialen Brennpunkt träume
ich von einer Schule, in der leistungsstarke und leistungsschwache
SchülerInnen miteinander und voneinander lernen, in der Berliner
SchülerInnen verschiedener Herkunft ihre Unterschiede weniger als
Gegensätze denn als Chance begreifen. Dazu brauchen wir Ganztagsschulen,
die in ihrem Stadtteil gut mit den Jugendfreizeiteinrichtungen, mit der
lokalen Wirtschaft, den sozialen Diensten und der Zivilgesellschaft
vernetzt sind - Schulen, die mit ihrer Qualität einen Beitrag zur besseren
sozialen Entwicklung benachteiligter Stadtteile leisten.
Aus unterschiedlichen Gründen können nicht alle Elternhäuser ihren Kindern
in dem gewünschten Maß ein Bildungsangebot machen, das deren weiterer
schulischer und beruflicher Laufbahn förderlich wäre. Ganztagsschulen
übernehmen hier eine zentrale Aufgabe. Um ihr gerecht werden zu können,
muss Schule sich vernetzen, Kooperationen eingehen. Wir als
Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli bieten unter anderem in der
Kooperation mit der Musikschule Instrumentalunterricht und mit der
Volkshochschule zertifizierte Türkisch/Arabisch-Kurse im Freizeitbereich
an. Gemeinsam mit der Freudenberg Stiftung entwickeln wir im
"Quadratkilometer Bildung" neue Ansätze für Förderkurse, schulische
Übergänge und Lernwerkstätten.
Wenn Eltern von staatlichen Transferleistungen leben, haben Kinder und
Jugendliche oft kein Rollenvorbild für ihren Eintritt ins Berufsleben. Um
diesem Mangel zu begegnen, brauchen Schulen den engen Kontakt zur (lokalen)
Wirtschaft. Über Praktika und so fort erfahren die SchülerInnen aus erster
Hand etwas über verschiedene Berufsbilder und welche Bedeutung
Eigenschaften wie Pünktlichkeit und Einsatzbereitschaft im Berufsleben
haben. Ich berichte gern, dass wir in der Gemeinschaftsschule auf dem
Campus Rütli im letzten Sommer im Jahrgang 10 von 120 SchülerInnen nur zwei
ohne Abschluss entlassen haben und 35 mit einem Mittleren Schulabschluss,
der ihnen den Übergang in die gymnasiale Oberstufe erlaubt.
Alle in der Bildung Verantwortlichen müssen deshalb in den nächsten zehn
Jahren Anstrengungen unternehmen, besser als bisher Bildungsbiografien von
Anfang an zu begleiten und mit den Kitas, Freizeiteinrichtungen, sozialen
Diensten, Stiftungen und Betrieben, auch präventiv mit der Polizei, eng
aufeinander abgestimmt zusammenzuarbeiten, um damit Erfolge auch bei
denjenigen SchülerInnen zu erzielen, die mit großen Problemen belastet
schulisch und gesellschaftlich zu scheitern drohen. Dabei muss darüber
nachzudenken sein, ob die bestehenden Ressort- und Verwaltungsgrenzen das
leisten können, was sie sollen.
Das Modellprojekt Campus Rütli rüttelt an diesen Grenzen, oder wie
Christina Rau, die Schirmherrin des Projekts, sagte, es sei an der Zeit,
nicht länger in Zuständigkeiten zu denken, sondern in Verantwortlichkeit.
Den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, ist ein wesentlicher
Auftrag von Schule. Die aktuelle Berliner Schulstrukturreform leistet einen
wichtigen Beitrag dazu. Jetzt müssen die Schulen die Chancen nutzen,
während die Schulverwaltung in der Verantwortung bleibt, diesen
Veränderungsprozess klug zu unterstützen. Auch gute Strukturen können nicht
Menschen und die Qualität ihrer Arbeit ersetzen. Erfolg kann nur mit vielen
engagierten Menschen vor Ort erreicht werden. Ich glaube, dass mit der
Einführung der Integrierten Sekundarschule, dem Pilotprojekt
Gemeinschaftsschule und mit der Idee, die hinter dem Modellprojekt Campus
Rütli steht, Schritte unternommen wurden in Richtung auf Schulen, die ich
mir wünsche.
VON CORDULA HECKMANN
3 Jan 2011
## AUTOREN
Jens Stiller
Cordula Heckmann
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